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EDITORIAL
Krankheit und Schuld – die globale Krebslast
Wem ist sie nicht schon zu Ohren gekommen – die anekdotische Evidenz vom Verwandten, Bekannten oder Prominenten (Helmut Schmidt!), welcher den gemeinhin als gesundheitsschädlich gegeisselten Lastern wie etwa Tabakrauchen, Alkoholgenuss und/oder Völlerei ausgiebig frönte und dabei ein biblisches Alter erreichte? Dass es schlicht Quatsch wäre, daraus etwas für die eigene mit dem Lebenswandel verknüpfte Prognose abzuleiten, muss nicht nur Ihnen als Experten niemand mehr erläutern. Die scheinbare Unbekümmertheit, mit der obige Beispiele oft angeführt werden, frappiert zwar immer wieder. Sie entspringt aber nur selten der Hoffnung oder gar der tiefen Überzeugung, das Leben gefahrlos in vollen (Lungen-)Zügen geniessen zu können, sondern dient meistens wie das Pfeifen im dunklen Keller eher der Selbstberuhigung. So kommen auch die soeben im «Lancet» und mit grossem Echo publizierten Ergebnisse einer systematischen Analyse der Global Burden of Disease (GBD) Study 2019 (1) auf den ersten Blick kaum als «breaking news» daher: Modifizierbare Risikofaktoren haben einen erheblichen Anteil am Ausmass der Sterblichkeit und an der Anzahl der verlorenen gesunden Lebensjahre (disability-adjusted life years, DALY) infolge einer Krebserkrankung. Überraschen kann schon eher, wie erheblich dieser Anteil tatsächlich ist. Im Rahmen der gross angelegten, von der Bill & Melinda Gates Foundation finanzierten Studie wurde anhand von Daten aus 204 Ländern der Erde der Zusammenhang zwischen verhaltens- und umweltbedingten, beruflichen und metabolischen Risikofaktoren einerseits und Krebserkrankungen andererseits untersucht. Über die Abschätzung der
jeweiligen nationalen Krebsinzidenzen und -mortalitäten
sowie anhand der verfügbaren Daten zu bestehenden Risiko-
faktoren vom Tabakrauchen bis zur Karzinogenexposition am
Arbeitsplatz gelang es den Wissenschaftlern, für das Jahr
2019 weltweit etwa 4,45 Millionen krebsbedingte Todesfälle
und 105 Millionen DALY ursächlich solchen modifizierbaren
Risikofaktoren zuzuschreiben. Das entspricht 44,4 Prozent
sämtlicher Krebstoten und 42,0 Prozent aller DALY, die in
diesem Zeitraum zu verzeichnen waren. Dabei war die Asso-
ziation der Krebslast mit den Risikofaktoren bei Männern
(50,6% Todesfälle und 48,4% DALY den Riskofaktoren zuge-
ordnet) noch ausgeprägter als bei Frauen (36,3%/34,3%), was
unter anderem mit einem bei Männern ausgeprägteren Kon-
sum von Tabak und Alkohol sowie einer höheren beruflichen
Schadstoffbelastung zusammenhängen könnte, wie die
Autoren mutmassen. Das Rauchen war, kombiniert für beide
Geschlechter, der führende Risikofaktor, gefolgt von Alkohol
und hohem Body-Mass-Index. Insgesamt ist im Zeitraum von
2010 bis 2019 der Anteil der risikofaktorenbedingten Krebs-
todesfälle (+20,4%) und DALY (+16,8%) deutlich gestiegen.
Nun griffe es zu kurz, als vorschnellen Schluss aus derlei Sta-
tistik die Verantwortung für sein gesundheitliches Schicksal
allein in die Hand jedes Einzelnen legen zu wollen. Davon sind
auch die Studienautoren weit entfernt, führen sie doch mul-
tiple soziodemografische Einflussparameter an, die vor allem
in ärmeren Ländern der Welt einer gesunden Lebensführung
entgegenstehen und die zu ändern eine globale gesellschaft-
liche Aufgabe ist. Hinzu kommt, dass individuell bestehende
Risikofaktoren für Krankheiten wie Krebs ihrerseits erkran-
kungsbedingt sein können, wie es zum Beispiel bei Sucht- und
anderen psychischen Erkrankungen oder bei Stoffwechsel-
störungen der Fall ist. Dennoch, und das macht diese Studie
bemerkenswert: Die nackten Zahlen schärfen den Blick,
widersprechen den Anekdoten und mahnen einmal mehr die
Auseinandersetzung mit der politischen Frage an, wie viel
Krankheit wir uns leisten wollen und können. Jeder Mensch
hat ein Anrecht auf individuellen Gesundheitsschutz – eine
entsprechende Pflicht darf es dagegen nicht geben. Welchen
Verlauf hätte das auch so schon lange Leben Helmut Schmidts
ohne Zigaretten wohl genommen? Möglicherweise würde er
uns noch immer die Welt erklären – nur vielleicht nicht ganz
so charismatisch …
s
Ralf Behrens
1. GBD 2019 Cancer Risk Factors Collaborators: The global burden of cancer attributable to risk factors, 2010–19: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2019. Lancet. 2022;400(10352):563-591.
ARS MEDICI 18 | 2022
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