Transkript
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Schwer zu behandelnde rheumatoide Arthritis
«Difficult to treat?» EULAR-Task-Force erstellt klinischen Leitfaden
Die Therapie der rheumatoiden Arthritis (RA) verfehlt vielfach die in Leitlinien vordefinierten Behandlungsziele. Für ein effektiveres Management von Patienten, welche aus unterschiedlichen Gründen von einer schwer zu behandelnden RA-Form betroffen sind, hat jetzt eine zu diesem Zweck neu formierte Task Force der European League Against Rheumatism (EULAR) wesentliche Eckpunkte in einem Leitfaden für die Praxis zusammengestellt. Die Empfehlungen sollen als klinischer Fahrplan die involvierten Angehörigen der Gesundheitsberufe und die Patienten dabei unterstützen, eine ganzheitliche und stärker personalisierte medikamentöse und nicht medikamentöse Behandlungsstrategie zu etablieren.
Manche Patienten mit rheumatoider Arthritis (RA) erreichen auch nach mehreren Behandlungszyklen mit konventionellen synthetischen (conventional synthetic disease-modifying antirheumatic drugs, csDMARD), biologischen (bDMARD) oder zielgerichteten synthetischen krankheitsmodifizierenden antirheumatischen Medikamenten (targeted synthetic DMARD, tsDMARD) weder eine geringe Krankheitsaktivität noch eine Remission und/oder bleiben symptomatisch. Die RA-Form solcher Patienten wird als schwierig zu behandelnde (difficult to treat, D2T) Erkrankung bezeichnet, und ihre optimale Versorgung stellt in der klinischen Praxis eine Herausforderung dar.
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? 34-köpfige Task Force der European League Against Rheumatism (EULAR), bestehend aus 26 Rheumatologen, 3 Patientenvertretern, 1 Rheumatologieschwester, 1 Ergotherapeuten, 1 Psychologen und 2 Pharmazeuten.
Wann wurde sie erstellt? 2022
Für welche Patienten? Patienten, welche die in der EULAR-Leitlinie 2021 zur rheumatoiden Arthritis (RA) empfohlenen Behandlungsziele auch nach mehrfachen Therapieumstellungen verfehlen und die vordefinierten Kriterien einer schwer zu behandelnden (difficult to treat; D2T) RA erfüllen.
Was ist neu? ▲ Umfassende Zusammenstellung von 11 für das Management
der D2T-RA zu beachtenden Punkten betreffend Diagnostik, entzündliche Krankheitsaktivität, pharmakologische und nicht pharmakologische Interventionen, Therapieadhärenz, funktionelle Behinderung, Schmerzen, Fatigue, Selbstwirksamkeit und Begleiterkrankungen sowie 2 übergeordneten Prinzipien.
Was versteht man unter einer schwer behandelbaren RA?
Definiert wird die D2T-RA durch das Vorliegen aller 3 folgenden Kriterien: 1. Behandlung gemäss EULAR-Empfehlungen und Versagen
von ≥ 2 b/tsDMARD (mit unterschiedlichen Wirkmechanismen) nach Nichtansprechen auf csDMARD (falls nicht kontraindiziert) 2. Zeichen, die auf eine aktive/fortschreitende Erkrankung hindeuten, definiert als ≥1 der folgenden Punkte: a) mindestens moderate Krankheitsaktivität, ermittelt an-
hand validierter Fragebögen (z. B. DAS28-ESR [Disease Activity Score, 28 Gelenke, anhand der Erythrozytensedimentationsrate; > 3,2] oder CDAI [Clinical Disease Activity Score; > 10]) b) Zeichen (inkl. Akute-Phase-Reaktion und Bildgebung) und/oder Symptome, hinweisend auf aktive Erkrankung (gelenkbezogen oder andere) c) Unfähigkeit zur Reduktion der Glukokortikoidtherapie (< 7,5 mg/Tag Prednison oder Prednison-Äquivalent) d) rasche radiografische Progression (mit oder ohne Zeichen einer aktiven Erkrankung) e) gut kontrollierte Erkrankung hinsichtlich der oben genannten Standards, aber Vorliegen von die Lebensqualität einschränkenden RA-Symptomen 3. Das Management von Krankheitszeichen und/oder -symptomen wird seitens des Rheumatologen und/oder des Patienten als problematisch wahrgenommen.
Da sich bis anhin keine Leitlinie dieser speziellen Population angenommen hatte, wurde kürzlich seitens der EULAR eine Task Force gebildet, deren Aufgabe es war, Statements herauszuarbeiten, die es beim Management dieser Patienten zu beachten gilt (points to consider, PtC). Das 34-köpfige, aus Rheumatologen, Patientenvertretern und Angehörigen von Gesundheitsberufen mit Erfahrung im Bereich Rheumatologie bestehende Expertengremium führte zu diesem Zweck jeweils einen systematischen Literaturreview zu klinischen
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Fragestellungen rund um diagnostische Herausforderungen sowie zu medikamentösen und nicht medikamentösen Therapiestrategien bei D2T-RA durch. Basierend auf der so ermittelten Evidenz und der Expertenmeinung wurden anschliessend 2 übergreifende Prinzipien und insgesamt 11 einzelne PtC formuliert, deren Empfehlungsstärke (strength of recommendation [SoR]: Skala von A [typische konsistente Level1-Studien] bis D [Level-5-Evidenz- bzw. inkonsistente Studien]) und Zustimmungsgrad (level of agreement [LoA]: Skala von 0 [völlig anderer Meinung] bis 10 [volle Zustimmung]) jeweils durch die Task-Force-Mitglieder festgelegt wurden und alles in allem relativ hoch ausfielen (SoR: C–D; mittlere LoA: 8,4 – 9,6). Die übergreifenden Prinzipien und PtC betrafen im Einzelnen die diagnostische Sicherung einer RA, die Auswertung der entzündlichen Krankheitsaktivität, pharmakologische und nicht pharmakologische Interventionen, Therapieadhärenz, funktionelle Behinderung, Schmerzen, Fatigue, die Fähigkeit zum Setzen von Zielen und Selbstwirksamkeit sowie den Einfluss von Begleiterkrankungen.
Übergeordnete Prinzipien
A: Die PtC betreffen Patienten, welche die Definition der D2T-RA erfüllen, und sie werden durch die EULAR-Empfehlungen zum Management der RA einschliesslich der dort formulierten übergreifenden Prinzipien untermauert (LoA: 9,6 ± 1,0). B: Zur Steuerung pharmakologischer oder nicht pharmakologischer Interventionen sollte das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Entzündung bestimmt werden (LoA: 9,5 ± 1,3).
«Points to consider»
1. Wenn bei einem Patienten eine vermutete D2T-RA vorliegt, sollte als erster Schritt die Möglichkeit einer Fehldiagnose und/oder das Vorliegen einer gleichzeitig bestehenden imitierenden Erkrankung in Betracht gezogen werden. Eine genaue Diagnose bildet den Eckpfeiler für ein adäquates Management. Fehldiagnosen, das heisst das Nichterkennen einer die RA imitierenden anderen Erkrankung (z. B. Kristallarthropathien, Polymyalgia rheumatica, Psoriasisarthritis, Spondyloarthritis, Morbus Still, systemischer Lupus erythematodes, Rhupus-[RA-Lupus-]Syndrom, idiopathische entzündliche Myopathien, Vaskulitis, remittierende symmetrische seronegative Synovitis und Lochfrassödeme, reaktive Arthritis, paraneoplastische Syndrome, Osteoarthritis, Fibromyalgie) sind möglicherweise bei seronegativer RA häufiger, sollten aber stets bei D2T-RA in Betracht gezogen werden.
2. Wenn basierend auf der klinischen Beurteilung und bei kombinierten Hinweisen Zweifel am Vorliegen einer entzündlichen Aktivität bestehen, kann für diese Bewertung eine Ultraschalluntersuchung (US) in Betracht gezogen werden. Wenn sich traditionelle Methoden als herausfordernd darstellen, scheint die US die praktikabelste Massnahme zu sein, um sowohl allgemein bei Patienten mit D2T-RA als auch im Fall von die Untersuchung komplizierenden Umständen (z.B. Fettleibigkeit oder begleitende Fibromyalgie) eine entzündliche Aktivität zu detektieren.
3. Kombinierte Hinweise und klinische Evaluation sollten beim Vorliegen von Komorbiditäten, insbesondere Fettleibigkeit und Fibromyalgie, mit Vorsicht interpretiert werden, da diese die Entzündungsaktivität direkt verstärken und/oder zur Überschätzung der Krankheitsaktivität führen können. Obwohl die Task-Force-Mitglieder einhellig die Meinung vertreten, dass zahlreiche Komorbiditäten die Beurteilung der entzündliche Krankheitsaktivität beeinflussen können, wurden entsprechende substanzielle Beweise nur für Fettleibigkeit und Fibromyalgie gefunden.
4. Die Therapieadhärenz sollte im Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung diskutiert und optimiert werden. Bei RA-Patienten betragen die Nonadhärenzraten zwischen 30 und 80 Prozent und sind offenbar bei Patienten mit D2T-RA höher als bei solchen mit Nicht-D2T-RA. Eine suboptimale Therapietreue kann beabsichtigt oder unbeabsichtigt (z. B. Vergessen der Medikamenteneinnahme) sein und ist mit höherer Krankheitsaktivität assoziiert, welche zu unangemessenen Therapiewechseln und eingeschränkter Lebensqualität führen kann. Einen Goldstandard für die Identifizierung von Nichtadhärenz gibt es nicht, aber Fragebögen sowie Bestimmungen von Wirkstoffspiegeln in Serum und/oder Urin können zu diesem Zweck eingesetzt werden. Ein wichtiges Instrument stellen Gespräche mit den Patienten über die Therapietreue dar, in die neben Ärzten auch Pfleger, Psychologen oder Apotheker involviert sein können.
5. Nach Versagen eines zweiten oder eines weiteren b/tsDMARD und insbesondere nach Versagen von 2 TNF(Tumornekrosefaktor-)Inhibitoren sollte eine Behandlung mit einem auf ein anderes Target abzielenden b/tsDMARD in Betracht gezogen werden. Für die Therapie der RA ist eine wachsende Zahl von b/tsDMARD mit unterschiedlichen Wirkungsweisen verfügbar. Ein Wechsel innerhalb der Substanzklasse wie auch auf eine Substanz mit einer anderen Wirkungsweise kann effektiv sein.
6. Wenn ein drittes oder nachfolgendes b/tsDMARD in Betracht gezogen wird, sollte die Höchstdosis verwendet werden, die sich in geeigneten Tests als wirksam und sicher erwiesen hat. Der günstige Effekt von b/tsDMARD war im Allgemeinen bei denjenigen Patienten weniger ausgeprägt, bei denen eine höhere Anzahl von bDMARD versagt hatte. Diese Tendenz zeigte sich allerdings weniger stark mit Upadacitinib und Filgotinib sowie mit höheren Dosen von Tocilizumab (i.v. 8 mg/kg), Baricitinib (4 mg 1-mal/Tag; nicht einzusetzen bei Patienten > 75 Jahre oder solchen mit reduzierter Kreatinin-Clearence [30–60 ml/min]) und Tofacitinib (10 mg 2-mal/Tag; aufgrund von Sicherheitsbedenken sind nur max. 2-mal 5 mg/Tag zugelassen).
7. Komorbiditäten, die die Lebensqualität entweder unabhängig voneinander oder durch Einschränkung der RABehandlungsoptionen beeinträchtigen, sollten sorgfältig berücksichtigt und behandelt werden. In der klinischen Praxis können Komorbiditäten die Behandlungsoptionen erheblich einschränken, was wiederum möglicherweise zum D2T-Status der RA beiträgt. Die Datenlage
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zu sicheren und wirksamen Therapien solcher Komorbiditäten (HIV-[humanes Immundefizienzvirus-]Infektion, gastrointestinale Erkrankung, latente Tuberkulose oder Krebserkrankung, extraartikuläre RA-Manifestationen, Lebererkrankung, Osteoporose, psychischer Stress, Lungen- oder Nierenerkrankung, kardiovaskuläre Erkrankung, RA vor und während Schwangerschaft und Stillzeit, Adipositas) war allerdings durchweg sehr limitiert.
8. Bei Patienten mit gleichzeitiger Hepatitis-B-(HBV-) oder -C-Virus-(HCV-)Infektion können b/tsDMARD verwendet werden, und eine begleitende antivirale Prophylaxe oder Behandlung sollte in enger Zusammenarbeit mit dem Hepatologen in Betracht gezogen werden. Aufgrund der relativ substanziellen Datenlage bezüglich HBV/HCV-Infektionen bei RA-Patienten wurde hierzu seitens der Task Force ein eigener PtC formuliert. TNF-Inhibitoren, Abatacept und Tocilizumab können bei Patienten mit HBV, TNF-Inhibitoren bei solchen mit HCV in Erwägung gezogen werden. Darüber hinaus konnte keinerlei Evidenz bezüglich anderer b/tsDMARD identifiziert werden, was allerdings nicht bedeutet, dass diese Medikamente nicht sicher anzuwenden sind.
9. Zusätzlich zur pharmakologischen Behandlung sollten nicht pharmakologische Massnahmen (d. h. Übungen, psychologische, Schulungs- und Selbstbehandlungsinterventionen) in Betracht gezogen werden, um die Behandlung von Funktionsstörungen, Schmerzen und Müdigkeit zu optimieren. Nicht medikamentöse Massnahmen sollten nicht nur bei Patienten ohne entzündliche RA-Aktivität, sondern bei sämtlichen Patienten mit D2T-RA angewendet werden. Hinweise aus der Literatur ergaben sich bezüglich des posi-
tiven Einflusses von körperlichem Training, von Schulungen sowie von psychologischen und Selbstmanagementinterventionen auf Schmerzen, Fatigue und funktionelle Behinderung. Dagegen fehlte substanzielle Evidenz für die Wirksamkeit solcher Massnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität. Idealerweise sollte hier eine auf die individuellen Bedürfnisse und Präferenzen des Patienten abgestimmte, multimodale Behandlung in Erwägung gezogen werden.
10. Den Patienten sollte eine angemessene Schulung und Hilfe angeboten werden, um sie direkt bei der Auswahl der Behandlung und der Therapieziele zu unterstützen. Die Definition von Behandlungszielen ist im Management der RA elementar. Gemäss aktuellen EULAR-Empfehlungen ist die klinische Remission oder zumindest eine geringe Krankheitsaktivität (mit Anpassung der Strategie, falls nach 3 Monaten keine Besserung eintritt oder das Ziel auch nach 6 Monaten nicht erreicht wird) ein ideales Therapieziel. Grundsätzlich sind solche Ziele jedoch bei D2T-RA schwierig zu erreichen und unnötige DMARD-Wechsel sollten deshalb bei ihnen eher vermieden werden. Stattdessen sind die Therapieziele individuell anzupassen.
11. Erwägen Sie das Angebot von Selbstmanagementpro-
grammen, relevanter Aufklärung und psychologischen Inter-
ventionen, um die Fähigkeit des Patienten zu optimieren, mit
seiner Krankheit selbstbewusst umzugehen (Selbstwirksam-
keit).
Eine verbesserte Selbstwirksamkeit kann nicht nur den
Krankheitsverlauf, sondern auch viele andere Aspekte des
gesundheitsbezogenen Verhaltens inklusive der Therapietreue
und des Willens zur Lebensstiländerung günstig beeinflussen.
Die Patienten diesbezüglich zu stärken, ist daher eine wichtige
Aufgabe im Management von D2T-RA.
s
Ralf Behrens
Quelle: Nagy G. et al.: EULAR points to consider for the management of difficult-to-treat rheumatoid arthritis. Ann Rheum Dis. 2022;81:20-33.
LINKTIPP
Sind Guidelines rechtlich verbindlich?
Immer wieder taucht die begründete Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit von Guidelines beziehungsweise nach der Haftbarkeit des Arztes auf, der eine Guideline nicht befolgt. Die Antwort darauf lautet wie so oft in der Rechtswissenschaft: Es kommt darauf an. Guidelines sind haftpflichtrechtlich nicht unmittelbar verbindlich, aber sie können, falls sie den Standard zum Behandlungszeitpunkt wiedergeben, eine mittelbare rechtliche Wirkung entfalten. Wie das in der Praxis konkret aussehen kann, erläutert Dr. iur. Ursina Pally Hofmann, ehemalige Generalsekretärin und Leiterin des Rechtsdienstes der FMH, in einem lesenswerten Artikel, der vor einiger Zeit in ARS MEDICI erschienen, aber nach wie vor aktuell ist.
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Pally U: Sind Guidelines rechtlich verbindlich? ARS MEDICI. 2020;110(4):108-110. https://www.rosenfluh.ch/qr/guidelines-juristisch
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