Transkript
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Impfen
Neue Impfempfehlungen in der Schweiz
Der Schweizerische Impfplan 2022 enthält aktualisierte Empfehlungen zur Zosterimpfung sowie zur Impfung gegen invasive Meningokokken. Auch die Abschnitte zur Tollwutimpfung und zur postexpositionellen Prävention der Tollwut wurden überarbeitet. Seit Erscheinen des Impfplans Ende April wurden weitere impfrelevante Neuerungen im BAG-Bulletin publiziert, die im Folgenden ebenfalls zusammengefasst werden.
Die Einbrüche bei den Verkaufszahlen von Impfstoffen für Basisimpfungen legen nahe, dass es im Verlauf der Coronaviruspandemie zu erheblichen Impflücken gekommen ist. Deshalb wird im Schweizerischen Impfplan 2022 betont, dem Impfstatus von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen besondere Aufmerksamkeit zu widmen und gegebenenfalls die entsprechenden Nachholimpfungen durchzuführen (1). Empfehlungen zur Impfung gegen COVID-19 sind im Schweizerischen Impfplan nicht enthalten, sondern auf der BAGHomepage verfügbar (s. Links).
Herpes-zoster-Impfung für alle ab 65 Jahre
Neu empfohlen wird die Impfung mit dem adjuvantierten, rekombinanten Subunit-Impfstoff (Shingrix®) für alle Personen ab 65 Jahre. Es spielt keine Rolle, ob die Person früher einmal an Windpocken oder Gürtelrose erkrankt ist. Ein akuter Herpes zoster sollte vor der Impfung aber abgeheilt sein. Ebenfalls ist es egal, ob die Person bereits einmal mit dem alten Lebendimpfstoff (Zostavax®) geimpft wurde. Falls Letzteres zutrifft, sollte der Mindestabstand zu der Impfung mit Shingrix® 2 Monate betragen.
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? EKIF und BAG (Eidgenössische Kommission für Impffragen und Bundesamt für Gesundheit)
Wann wurde sie aktualisiert? 2022
Für welche Patienten? Schweizer Bevölkerung
Was ist neu? ▲ neuer Impfstoff gegen Herpes zoster ▲ Meningokokken-Impfschema für Risikogruppen ▲ Vorgehen nach Kontakt mit Patienten mit invasiver Meningo-
kokkenerkrankung (IME) ▲ Impfungen für Tumorpatienten ▲ prä- und postexpositionelle Tollwutprophylaxe
Für bestimmte Personengruppen wird die Impfung mit Shingrix® bereits ab 50 oder 18 Jahre empfohlen. Die Risikogruppen sind wie folgt definiert: s ≥ 50 Jahre mit einer aktuellen oder zukünftigen Immun-
schwäche: z. B. HIV-positiv, Dialyse, terminale Nierenerkrankung,
Behandlung mit Biologika, Azathioprin oder niedrig dosiertem Methotrexat, niedrig dosierte KortikosteroidErhaltungstherapie, Grunderkrankungen, welche die Immunität beeinträchtigen (z. B. rheumatoide Arthritis, schweres Asthma, schwere COPD, schlecht eingestellter Typ-1-Diabetes sowie weitere Autoimmunerkrankungen) s ≥ 18 Jahre mit aktueller schwerer Immunschwäche oder stark immunsuppressiver Therapie in absehbarer Zukunft: z. B. zytotoxische onkologische Therapien, Tranplantatempfänger (Stammzellen, Organe), Behandlung mit JAKHemmern oder intensive Immunsuppression, HIVpositiv mit < 200 CD4+/l oder < 15 Prozent Lymphozytenanteil. Die Kosten für die Impfung mit Shingrix® werden für die genannten Personengruppen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen (1). Der bis anhin verfügbare Lebendimpfstoff wird nicht vergütet. Er wird nicht mehr empfohlen, kann aber Personen ohne Immundefizienz im Alter von 65 bis 79 Jahren verabreicht werden, falls diese ihn gegenüber dem neuen Impfstoff bevorzugen. Der Lebendimpfstoff ist bei Personen mit Immunschwäche kontraindiziert, und er soll auch bei Personen, die in naher Zukunft eine immunsuppressive Therapie erhalten, nicht verwendet werden (1).
Meningokokkenimpfung auch für Säuglinge
Die Impfung mit dem Konjugatimpfstoff gegen invasive Meningokokken der Serogruppen A, C, W und Y (MCV-ACWY; Menveo®) wird seit 2019 anstelle der früheren monovalenten Impfung empfohlen: 1. Dosis im Alter von 2 Jahren, 2. Dosis im Alter von 11 bis 15 Jahren. Darüber hinaus wird die Impfung für bestimmte Risikogruppen empfohlen, diese sind wie folgt definiert:
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Schweizerischer Impfplan 2022 https://www.rosenfluh.ch/qr/impfplan22
Schweizerische Empfehlungen zur COVID-19Impfung https://www.rosenfluh.ch/qr/impfencovid19
Meningokokken-B-Empfehlung https://www.rosenfluh.ch/qr/impfenmc
Postexpositionelle Prophylaxe und Behandlung nach Kontakt mit einem Patienten mit invasiver Meningokokkenerkrankung (IME) https://www.rosenfluh.ch/qr/ime
Impfen von Tumorpatienten https://www.rosenfluh.ch/qr/impfentumor
s Erhöhtes Risiko für invasive Meningokokkenerkrankungen (IME):
Defizite des Komplementsystems, das Komplementsystem hemmende Medikamente (z. B. Eculizumab), homozygote Protein-S- und -C-Defizite, Asplenie (funktionell, anatomisch), mangelnde Immunantwort auf Polysaccharide, Mangel an mannosebindendem Lektin
s Erhöhtes Expositionsrisiko: Laborpersonal, das mit Meningokokken arbeitet, enger
Kontakt mit einem IME-Patienten, Rekruten, Reisende in Endemie- oder Epidemiegebiete. Für Säuglinge, die Risikogruppen angehören, wird die Impfung mit Menveo® seit 2019 «off-label» ab einem Alter von 2 Monaten empfohlen (4 Dosen für 2 bis 11 Monate alte Säuglinge, 2 Dosen ab 12 Monate). Nun hat Swissmedic die Zulassung auch für diese Altersgruppe erteilt. Die Kosten für die Impfung mit Menveo® werden von der obligatorischen Krankenversicherung zurzeit für Kinder im Alter von 2 Jahren und im Alter von 11 bis 14 Jahren übernommen (abzüglich Selbstbehalt und Franchise; Stand: 15. Juni 2022) (1). Zur Impfung gegen Meningokokken der Serogruppe B gibt es seit Ende Mai 2022 neue Empfehlungen für die Schweiz (2). Etwa ein Drittel bis ein Viertel der IME wird durch Meningokokken der Serogruppe B verursacht. Deshalb wird die Impfung mit 4CMenB (Bexsero®) für die oben genannten Risikogruppen empfohlen, nicht aber für Reisende. Die Empfehlung für eine Impfung mit 4CMenB umfasst bei entsprechendem Risiko auch Säuglinge im Alter von 2 bis 23 Monaten, in diesem Fall ist die Impfung «off-label». Von Swissmedic zugelassen ist Bexsero® für die Altersgruppe von 11 bis 24 Jahre. Die Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung wird zurzeit abgeklärt (2).
Nach Kontakt mit IME-Patienten: Was tun?
Relevant ist nur ein enger Körperkontakt. Eine rein räumliche Nähe, zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Flugzeug, im Auto oder im gleichen Zimmer zählt nicht dazu (kein Kontakt mit Körpersekreten). In Kinderkrippen und Kindergärten zählen hingegen alle Kinder sowie ihre Betreuer als enge Kontakte. In der Schule gilt das weder für die Schüler noch für ihre Lehrer, hier können die Gesundheitsämter nur im Einzelfall eine ganze Schulklasse als enge Kontaktpersonen definieren (3). Als enge Kontaktpersonen gelten generell Personen, die in einem Haushalt (auch Wohngemeinschaften) oder in Wohnheimen und ähnlichen Institutionen zusammenleben (z. B. Kasernen, Ferienlager). Des Weiteren zählt jeglicher Kontakt mit Nasen-Rachen-Sekreten als eng (z. B. intensive Küsse, Reanimation ohne Schutz, Atemwegskontrolle, Intubation, Kontakt mit Erbrochenem). Auch bei Sportarten mit sehr engem Gesichtskontakt (z. B. Kampfsportarten) ist von einem engen Kontakt auszugehen. Wer innert 7 Tagen vor Krankheitsausbruch und bis zu 24 Stunden nach Therapiebeginn gemäss den genannten Kriterien einmal oder mehrmals engen Kontakt zu einem Patienten mit IME hatte, soll unabhängig von seinem Impfstatus eine Postexpositionsprophylaxe erhalten. Erste Wahl ist Ciprofloxacin, Alternativen sind Rifampicin und Ceftriaxon (Dosis und Details siehe [3]). Alle gegen Meningkokokken ungeimpfte oder vor mehr als 12 Monaten letztmals gegen Meningokokken geimpfte enge Kontaktpersonen sollten mit dem MCV-ACWY-Impfstoff geimpft werden, sofern es sich nicht um eine IME mit dem B-Serotyp handelt. Bei IME mit dem B-Serotyp kommt die Impfung mit 4CMenB infrage. Genesene IME-Patienten sollten mit beiden Impfstoffen geimpft werden (3).
Impfungen für Tumorpatienten
Mitte Mai 2022 wurden detaillierte Empfehlungen zur Impfung von Tumorpatienten publiziert (3). Sie geben Rat in den folgenden Situationen: s Impfen bei Diagnosestellung der Tumorerkrankung s Impfen unter und nach konventioneller, zytotoxischer
Chemo- und Radiotherapie s Impfen unter spezifischen Therapien (B-Zell-Depletion,
JAK-Hemmer, Checkpoint-Inhibitoren) s Postexpositionsprophylaxe für Masern, Varizellen und
Tetanus bei Tumorpatienten. Viele der Empfehlungen sind Off-label-Impfungen, weil in den Zulassungen für Impfstoffe keine Dossiers mit Tumorpatienten eingereicht werden. BAG und EKIF betonen jedoch, dass das Sicherheitsprofil von inaktivierten Impfstoffen ausgezeichnet sei und es keine bekannten, durch Daten belegte Bedenken gebe, diese Impfstoffe bei Tumorpatienten anzuwenden (3). Vor Therapiebeginn: Zum Zeitpunkt der Krebsdiagnose sollten sowohl der Immun- und Impfstatus des Patienten als auch derjenige seiner engen Kontaktpersonen überprüft werden. Die Kontaktpersonen sollten gegen MMR, Varizellen und Influenza geimpft sein (ggf. Nachholimpfungen). Wenn der Patient weniger als 2 dokumentierte MMR- und VZV-Dosen erhalten hat, wird eine serologische Untersuchung empfohlen (Impfindikation bei einem Titer ≥ 150 IU/l).
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Zu den empfohlenen Impfungen vor Therapiebeginn gehören die Pneumokokkenimpfung (off-label ab 5 Jahre), je nach Saison die Impfung mit inaktivierten Influenzavakzinen (tetravalent) und die Herpes-zoster-Impfung mit dem rekombinanten Zosterimpfstoff. Falls eine anatomische oder funktionelle Asplenie zu erwarten ist, sollte gegen Meningokokken geimpft werden (MCV-ACWY und 4CMenB). All diese Impfungen sollten idealerweise mehr als 2 Wochen vor der Therapie erfolgen, spätestens jedoch unter der Erhaltungstherapie. Unter Chemo-/Radiotherapie und bis 3 Monate danach: Keine attenuierten Lebendimpfstoffe! Falls die Zeit zwischen Diagnose und Therapiebeginn nicht ausreichte, sollen nun die Impfungen (PCV, Influenza, Zoster, Meningokokken) möglichst vervollständigt werden. Diese Impfungen sollten (kurz) vor dem Beginn eines Chemotherapiezyklus gegeben werden oder bei einer Lymphozytenzahl > 1000/µl oder während der niedrigsten Intensität einer Chemotherapie. Auch andere als die genannten inaktivierten Impfstoffe können in dieser Zeit in Betracht gezogen werden, falls ein hohes epidemiologisches oder inviduelles Risiko besteht. 3 bis 6 Monate nach der Chemo-/Radiotherapie: Die Gabe von inaktiviertem Lebendimpfstoff wird frühestens 3 Monate nach Beendigung der Therapie empfohlen, attenuierte Lebendimpfstoffe frühestens nach 6 Monaten. Unabhängig von der Art der Tumorerkrankung sollten Boosterdosen nach dem Ende einer Chemotherapie erwogen werden, wobei eine ganze Reihe von Faktoren zu bedenken ist (Alter und bereits erhaltene Dosen, Impfstatus vor der Chemotherapie); Titerbestimmungen sind nur in Ausnahmefällen sinnvoll. Im BAG-Bulletin 20/2022 sind Tabellen mit den empfohlenen Impfungschemata für die Zeit nach einer konventionellen zytotoxischen Chemo- oder Radiotherapie verfügbar (3) (s. Links). Impfen unter spezifischer Therapie: Werden Tumorpatienten mit spezifischen Agenzien wie B-Zell-depletierenden Therapien, Tyrosinkinasehemmern oder Checkpoint-Inhibitoren behandelt, wird es komplex. In diesen Fällen gelten andere Zeitfenster für das Impfen vor und nach der Behandlung, und es sind weitere Parameter zu beachten. So beträgt zum Beispiel der minimale Abstand für einen inaktivierten Impfstoff vor einer B-Zell-depletierenden Therapie 12 Monate für eine Erstimpfung und 6 Monate für eine Boosterdosis, und bei bestimmten Impfstoffen wird für diese Patienten vorderhand eine Bestimmung der CD4+-Zellen gefordert. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf die zahlreichen Details zu den verschiedenen Therapeutika im Zusammenhang mit Impfungen einzugehen, sodass auf die entsprechende Publikation verwiesen wird (3) (s. Links). Postexpositionsprophylaxe bei Tumorpatienten: Für die Masern- und die Varizellenpostexpositionsprophylaxe richtet sich die Indikation nach den Antikörpertitern. Im Allgemeinen wird bei einem Masernantikörpertiter < 150 IU/l die schnellstmögliche passive Immunisierung mit Immunglobulinen empfohlen, maximal bis zu 6 Tage nach der Exposition. Bei einem Varizellenantikörpertiter < 150 IU/l wird Varicella/ Zoster-Immunglobulin (Varitect®) schnellstmöglich bis maximal 4 Tage nach der Exposition empfohlen. Ist es dafür bereits zu spät, kann bis maximal 10 Tage nach der Exposition eine prophylaktische Therapie erwogen werden. Beim Vorliegen
von floriden Varizellen trotz passiver Immunisierung wird eine antivirale Therapie mit Aciclovir empfohlen. Bei einem Varizellenantikörpertiter ≥ 150 IU/l wird keine passive Immunisierung empfohlen, aber eine antivirale Therapie, falls floride Varizellen vorhanden sind. Bei sauberen, oberflächlichen Wunden werden auch für Tumorpatienten mit schwerer Immunsuppression in der Regel keine Immunglobuline empfohlen, sondern eine Tetanusimpfung mit dem altersgemässen Impfstoff. Bei allen anderen Wunden (z. B. tiefe und verschmutzte Wunden; Quetsch-, Riss- und Bisswunden; schwere Verbrennungen usw.) wird für Tumorpatienten mit schwerer Immunsuppression keine Impfung, sondern die Gabe von Anti-T-IgG empfohlen. Bei Tumorpatienten ohne schwere Immunsuppression werden bei solchen Wunden sowohl Anti-T-IgG als auch die Impfung empfohlen, es sei denn, sie haben ≥ 3 Impfdosen vor der Krebstherapie erhalten und die letzte Tetanusimpfung liegt weniger als 5 Jahre zurück – dann sollten sie kein Anti-T-IgG erhalten (3).
Tollwut
Weil die Schweiz als frei von (terrestrischer) Tollwut gilt, wird die präexpositionelle Prophylaxe (PrEP) nur bei Reisen in ein Endemiegebiet und für bestimmte Personenkreise empfohlen, wie zum Beispiel für Veterinäre, tierärztliches Personal, Tierpfleger, Personen mit regelmässigem Kontakt zu Fledermäusen (Forscher, Naturschützer), Personal von Laboratorien zur Tollwutdiagnostik und Tollwutforschung sowie für Personen, die mit der Herstellung von Tollwutimpfstoff befasst sind. Die PrEP umfasst 2 Dosen i.m. im Abstand von 4 Wochen (2. Dosis frühestens 1 Woche nach der 1. Dosis). Für Immunsupprimierte gilt: 3 Dosen (Tage 0, 7 und 21–28). Für alle gilt, dass bei weiterhin bestehendem Expositionsrisiko frühestens nach 12 Monaten eine Auffrischimpfung erfolgen kann. Ob serologische Kontrollen sinnvoll sind, um die Notwendigkeit einer Auffrischungsimpfung abzuschätzen, hängt vom individuellen Expositionsrisiko ab. In der Reisemedizin wird sie nicht empfohlen. Die Auffrischung ist jedoch auf jeden Fall indiziert, wenn man von einem tollwütigen Tier gebissen wurde (postexpositionelle Prophylaxe [PEP]). Die PEP bei bereits geimpften Personen umfasst 2 Dosen Impfstoff (Tage 0 und 3) sowie gegebenenfalls weitere Dosen ab Tag 21, bis ein Titer von ≥ 0,5 IE/ ml erreicht ist. Ungeimpfte Personen oder Personen mit unklarem TollwutImpfstatus erhalten zusätzlich zur Impfung (4 Dosen, Tage 0, 3, 7 und 14) humane Tollwut-Immunglobuline (hRIG), wobei in der Regel 1 Ampulle à 2 ml (300 IU) ausreicht (1). s
Renate Bonifer
Quellen: 1. Schweizerischer Impfplan 2022 2. BAG Bulletin 22/22 vom 23. Mai 2022 3. BAG Bulletin 21/22 vom 16. Mai 2022
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