Transkript
Psychiatrische Erkrankungen in der Hausarztpraxis
Wann und wie intervenieren?
BERICHT
Von Depression, Angst- und Abhängigkeitserkrankungen ist eine Vielzahl der Hausarztpatienten in irgendeiner Weise betroffen. Deshalb spielen Hausärzte eine zentrale Rolle in der Früherkennung und in der Versorgung psychisch kranker Menschen. Was beim Screening, bei der Abklärung und bei Interventionen wichtig ist, erläuterten die Psychiater Dr. Nina Schweinfurth, Zentrum für Affektive, Stressund Schlafstörungen, und Dr. Maximilian Meyer, Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, am FOMF Allgemeine Innere Medizin in Basel.
Psychiatrische Erkrankungen sind sehr häufig. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa die Hälfte der Schweizer Bevölkerung direkt oder indirekt in ihrem Umfeld von einer psychischen Erkrankung betroffen ist und jeder 5. im Verlauf seines Lebens an einer klinischen Depression leidet. Etwa 25 bis 40 Prozent der Patienten von Hausärzten haben (auch) eine psychiatrische Erkrankung. Aus Angst vor Stigmatisierung konsultieren diese Patienten meist erst spät einen Facharzt. Umso wichtiger sei eine frühe Erkennung durch den Hausarzt, auch wenn die Symptome häufig unspezifisch (Tabelle) seien, betonte die Psychiaterin Dr. Nina Schweinfurth. Am häufigsten sind Angststörungen, Alkoholstörungen und Depression, und bei psychiatrischen Erkrankungen ist die Komorbidität hoch.
Vermeidungsverhalten infolge Angststörungen
Ein plakatives Fallbeispiel für eine Angststörung ist die Situation einer jungen Frau (28 Jahre), die zunehmend zurückgezogen lebt und die gemeinsame Wohnung nur noch kurz verlässt, und wenn, dann nur in Begleitung. Sie hat massive Angst zu sterben und immer mehr auch Angst vor der Angst. Zwei Jahre zuvor erlitt sie eine Lungenarterienembolie in einem Einkaufszentrum, etwa 6 Monate später hatte sie die erste Panikattacke. Es bestehen eine Arbeitsunfähigkeit, ein depressives Zustandsbild und in letzter Zeit gehäuft Albträume, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Eine Angststörung zeichnet sich durch eine unangemessen starke oder anhaltende Angst aus, die zu einem Vermeidungs-
KURZ & BÜNDIG
� Ein regelmässiges Depressionsscreening ist vor allem bei Patienten mit ischämischen oder hämorrhagischen Infarkten und Diabetes wichtig.
� Vor der Diagnose einer Angststörung sollten somatische angstauslösende Ursachen ausgeschlossen werden.
� Bei Patienten mit Suchtproblemen ist nicht die Abstinenz das primäre Ziel, sondern die Schadensminderung.
verhalten führt und Auswirkungen auf den Alltag hat, wobei die Angst ohne entsprechenden Grund auftritt und von dem Betroffenen willentlich nicht kontrolliert werden kann. Für die Anamnese sind auch weiter zurückliegende kritische Lebensereignisse wichtig. Zur Abklärung gehören weiter die körperliche Untersuchung, Laborabklärungen mit Fokus auf Mangelzustände, Infektzeichen oder Stoffwechselstörungen sowie apparative Untersuchungen (z. B. EKG, kranielle Bildgebung) zum Ausschluss von somatischen Ursachen. Hilfreich sind die vom Patienten selbst auszufüllenden kurzen Fragebögen GAD-7 (7 Fragen) zur Angststörung und BDI-II zur Feststellung der Schwere einer Depression. Nach Diagnosestellung besteht die Behandlung der Angststörung aus Psychoedukation, Psychotherapie und Psychopharmakotherapie. Ziel einer Pharmakotherapie ist in erster Linie eine Erleichterung der belastenden Situation durch das Abklingen der Angst. Eine Reduktion der antizipatorischen Angst, des Vermeidungsverhaltens, der vegetativen Symptome und die Besserung von Funktionalität und Lebensqualität sind weitere Ziele. Benzodiazepine und andere GABAerge Substanzen, SSRI (z. B. Escitalopram, Sertralin) und SNRI (z.B. Venlafaxin, Duloxetin) werden laut der Referentin in der medikamentösen Therapie am häufigsten eingesetzt, abgestimmt auf den Typ der Angsterkrankung. Bei leichten Symptomen reicht meist eine Psychoedukation in Form von Aufklärung, Beratung, Selbsthilfeliteratur, Vermittlung von Selbsthilfegruppen und Zuwarten (2 Wochen). Bei mittelgradigen oder schweren Symptomen mit starker Unruhe sind Benzodiazepine (maximal 3 bis 4 Wochen) hilfreich bei der Initiierung einer Pharmakotherapie mit einem geeigneten Antidepressivum mit oder ohne Psychotherapie. Nach 4 bis 6 Wochen sollte eine Neubeurteilung erfolgen, auch bei einer Psychotherapie ohne Pharmakotherapie.
An Depression denken
Bei gedrückter oder depressiver Stimmung, bei Interessenoder Freudlosigkeit und bei Antriebsmangel oder erhöhter Ermüdbarkeit sollte eine Depression abgeklärt werden, wenn 2 dieser 3 Hauptsymptome länger als 2 Wochen bestehen. Manchmal bestehe die Gefahr, dass depressive Symptome als nachvollziehbare Folge einer körperlichen Beeinträchtigung
ARS MEDICI 13 | 2022
435
BERICHT
Tabelle:
Symptomvielfalt bei psychiatrischen Erkrankungen
Psychische Symptome ▲ emotionale Erschöpfung ▲ emotionale Labilität ▲ Reizbarkeit ▲ Aggressivität ▲ Unsicherheit ▲ Ängste, Panik ▲ Niedergeschlagenheit ▲ Motivationsverlust Somatische Symptome ▲ Müdigkeit ▲ Erholungsunfähigkeit, Schlafstörungen ▲ vegetative Symptome (Verdauungs störungen, diffuse Schmerzen in Bauch, Rücken, Nacken, Zähnen, Kopf) Kognitive Symptome ▲ Aufmerksamkeitsstörung ▲ Konzentrationsstörung ▲ Gedächtnisstörung ▲ Entscheidungsschwierigkeit ▲ reduzierte geistige Flexibilität Verhaltensänderungen ▲ erhöhte oder verminderte Aktivität ▲ sozialer Rückzug ▲ Suchtverhalten ▲ Leistungsminderung ▲ Arbeitsabwesenheit ▲ Unfalltendenz ▲ reduzierte Belastbarkeit
Quelle: N. Schweinfurth, FOMF AIM 2022, Basel
angesehen würden und die Diagnosestellung einer Depression deshalb ausbleibe, berichtete die Referentin. Symptome einer Depression können auch bei somatischen Erkrankungen oder als Nebenwirkungen einer Pharmakotherapie (z. B. Kortison, Betablocker) auftreten, was zu einer falschen Depressionsdiagnose führen kann. Eine korrekte Diagnose und Behandlung einer komorbiden Depression können die Lebensqualität wesentlich verbessern und möglicherweise die Prognose der somatischen Erkrankung beeinflussen. Ein regelmässiges Depressionsscreening ist daher bei Patienten mit akuten ischämischen oder hämorrhagischen Infarkten sowie bei Patienten mit Typ-2-Diabetes angezeigt. Bei einer leichten Depression können Aufklärung und Psychoedukation helfen. Halten die Symptome über 2 Wochen an oder werden sie stärker, ist eine Psychotherapie oder Psychopharmakotherapie angezeigt. Bei mittelgradiger oder schwerer Depression soll nach Aufklärung und Psychoedukation eine Psychotherapie und/oder Psychopharmakotherapie initiiert werden. Alle Massnahmen sollten mit dem Patienten partizipativ entschieden werden. Von der Vielzahl der in dieser Indikation möglichen Medikamente können laut der Referentin SSRI, SNRI, Mirtazapin, Vortioxetin und Agomelatin zu einer Symptomverbesserung führen. Therapieziele sind dabei die Verminderung der Symptomlast und der Suizidalität bei einem für die Patienten akzeptablen Nebenwirkungsprofil.
Bei partiellem oder ausbleibendem Ansprechen auf die erste Behandlung nach 2 bis 4 Wochen ist der nächste Schritt eine Dosisanpassung. Führt das nicht zum Erfolg, kann ein Versuch mit einem Antidepressivum einer anderen Substanzklasse unternommen werden oder als nächste Stufe eine Kombination von beiden Substanzklassen. Bei anhaltendem Nichtansprechen empfiehlt sich die Überweisung zum Facharzt.
Psychosen primär oder sekundär
Während eine paranoide Schizophrenie ein etablierter Krankheitsbegriff ist, beschreibt die Psychose lediglich eine veränderte Wahrnehmung beziehungsweise eine veränderte Verarbeitung von Sinneseindrücken. Im Rahmen von Psychosen kann es beispielsweise zu Halluzinationen, Wahn oder Denkstörungen kommen. Primäre Psychosen treten am häufigsten im Rahmen einer paranoiden Schizophrenie auf. Sekundäre Psychosen können dagegen durch organische Ursachen ausgelöst werden, wie beispielsweise Epilepsie, Hirntumoren, Infektionen, Autoimmunerkrankungen oder schwere Stoffwechselstörungen. Sie können auch drogenkonsumbedingt oder Folgen von Medikamentennebenwirkungen sein. Eine Schizophrenie dagegen durchläuft verschiedene Stadien der Psychoseentwicklung. Häufig nimmt die Erkrankung im Kindesalter ihren Anfang und kann sich in dieser prämorbiden Phase durch unspezifische Symptome wie kognitive, motorische und soziale Beeinträchtigungen zeigen. Mit zunehmendem Alter und ausgelöst durch kritische Lebensereignisse können Angst und depressive Symptome dazukommen und in einer weiteren Phase zu sozialem Rückzug und subjektiv empfundenen kognitiven Veränderungen führen. In dieser Prodromalphase kommt es zu einer Zunahme der Symptome bis zum Auftreten der ersten psychotischen Episode, die meist zur Diagnose führt. Je länger eine unbehandelte Psychose besteht, desto schlechter ist die Prognose. Im weiteren Verlauf im Erwachsenenalter treten immer wieder Rückfälle auf, deren Zahl vermutlich mit dem Grad der funktionellen Beeinträchtigung korreliert. Diese pendelt sich im Krankheitsverlauf auf einem bestimmten Niveau ein. Um dieses Niveau hochzuhalten, sei es wichtig, möglichst früh mit einer Behandlung zu beginnen, so die Empfehlung der Referentin.
Abhängigkeitserkrankungen verbreitet
Suchtprobleme sind häufig: Ein Drittel der Hausarztpatienten ist in irgendeiner Art davon betroffen. Jeder 3. Erwachsene rauche, jeder 5. habe einen problematischen Alkoholkonsum, und jeder 10. Adoleszente konsumiere regelmässig Cannabis, berichtet Abhängigkeitsexperte Dr. Maximilian Meyer. In der Hausarztpraxis sind Kurzinterventionen nachgewiesenermassen wirksam, weil in der langjährigen Beziehung zum Patienten eine Suchtproblematik eher erkannt wird und diese aufgrund der bestehenden Vertrauensbasis auch leichter angesprochen werden kann. Jeweils ein kurzes Ansprechen der Problematik, idealerweise mit der Methode des Motivational Interviewing, könne beim Patienten mit der Zeit eine Ambivalenz wecken und eine Therapiebereitschaft aufbauen, so der Experte. Dabei sei nie Abstinenz das erste Ziel, sondern die Schadensminderung. Dabei ist es wichtig, Ziele zu vereinbaren und realistische Zwischenziele zu set-
436
ARS MEDICI 13 | 2022
BERICHT
zen. Besteht eine komorbide psychische Störung, sollten beide Erkrankungen gleichzeitig von einer Person oder unter sehr enger Zusammenarbeit der verschiedenen Behandler therapiert werden. Bei substanzbezogenen Störungen richtet sich die Behandlung nach dem Schweregrad der Abhängigkeit.
Alkohol Bei einem risikoarmen Konsum besteht in der Regel kein Interventionsbedarf. Für bestimmte Patientengruppen wie zum Beispiel Schwangere reicht ein Rat zum kompletten Konsumstopp. Bei riskantem Konsum ist eine Kurzintervention sinnvoll, in deren Rahmen während 5 bis 20 Minuten auf Risiken hingewiesen und zur Trinkmengenreduktion geraten wird. Bei schädlichem Gebrauch, der für den Patienten soziale oder gesundheitliche Nachteile zeitigt, sollen die Kurzinterventionen wiederholt und eventuell verlängert werden. Auf dieser Stufe soll von Untersuchungsergebnissen berichtet, eine Diagnose gestellt und der Rat zur Trinkmengenreduktion gegeben werden. Hier ist es laut Meyer wichtig, mit dem Patienten in Kontakt zu bleiben, um zu sehen, ob er möglicherweise weitere Unterstützungsangebote braucht.
Cannabis Der Konsum von Cannabis ist mit einer Lebenszeitprävalenz in der Schweiz von 34 Prozent ebenfalls häufig, einen problematischen Konsum weist 1 Prozent der Bevölkerung auf. Im Vergleich zu Alkohol ist das Risiko für körperliche Schäden gering. In der wissenschaftlichen Literatur wird Cannabiskonsum im Jugendalter jedoch als Risikofaktor für die Entstehung psychotischer Störungen diskutiert. Wichtig sei, bei Cannabiskonsumenten den Verlauf des Konsums wie auch die etwaige Entstehung von Nachteilen durch den Konsum und die psychische Symptomatik zu beobachten, so Meyer. In schweren Fällen kann eine ambulante Psychotherapie oder eine stationäre Behandlung indiziert sein.
Benzodiazepine Benzodiazepine haben bekanntermassen ein grosses Suchtpotenzial, trotzdem würden sie immer wieder so verordnet, dass eine Abhängigkeit entstehen könne, beklagte der Referent. Bei der Benzodiazepinabhängigkeit werden 2 Formen unterschieden. Bei der High-Dose-Abhängigkeit wird die Dosis häufig gesteigert oder das Präparat mit Alkohol oder Opioiden kombiniert wird. Die Betroffenen erhalten die Benzodiazepine häufig von verschiedenen Ärzten (doctor shopping). Oft ist auch eine psychiatrische Komborbidität vorhanden. Häufiger ist jedoch die Low-Dose-Abhängigkeit, bei der es über Jahre zu einer regelmässigen Einnahme ohne nennenswerte Dosisänderungen kommt. Auch bei der Benzodiazepinabhängigkeit ist eine abstinenzorientierte Therapie meist nicht erfolgreich oder anhaltend, vor allem bei einer High-Dose-Abhängigkeit. Eine «Substitutionstherapie» mit Clonazepam (Rivotril®) könnte bei dieser Problematik aussichtsreich sein, da es langsam anflutet, ohne einen «flash» auszulösen, eine lange Halbwertszeit (30 bis 40 h) aufweist und bei regelmässiger Einnahme geringe Plasmaspiegelschwankungen verursacht. Eine langsame Dosisreduktion ist ambulant möglich.
Opioide
Von einer Opioidabhängigkeit können Personen mit ehema-
ligem Drogenkonsum wie auch Patienten mit einer Opioid-
schmerztherapie betroffen sein, von der sie nicht mehr los-
kommen. Die Opioidabhängigkeit ist eine chronisch verlau-
fende Erkrankung, und laut Meyer erreichen nur wenige eine
dauerhafte Abstinenz. Die einzige therapeutische Mass-
nahme, die sich nach evidenzbasierten Kriterien auf den
Substanzgebrauch längerfristig positiv auswirke, sei die
Opioidagonistentherapie beziehungsweise die Substitutions-
therapie, so Meyer. Etwa die Hälfte aller niedergelassenen
Ärzte ist an Substitutionsbehandlungen beteiligt, 47 Prozent
der Patienten beziehen ihr Substitutionsmedikament in Apo-
theken. Zur Opioidsubstitution eignen sich Medikamente
wie beispielsweise Buprenorphin (Buvidal®, Suboxone®,
Subutex®), Diacetylmorphin (Diaphin®), Methadon (Metha-
don®, Ketalgin®), Levomethadon (L-Polamidon®) und retar-
diertes Morphin (Sevre-Long®, Kapanol®). Das Substitut
wird anhand der Klinik und der Patientenpräferenzen aus-
gewählt, hinsichtlich Wirksamkeit und Erfolgsraten gibt es
laut Meyer kaum Unterschiede. Zu beachten ist bei einer
Opioidsubstitution, dass die Gefahr für lebensbedrohliche
Zustände nicht in erster Linie von hohen Dosen ausgeht,
sondern von der fehlenden Toleranz gegenüber Opioiden.
Diese müsse erst durch langsames Auftitrieren in kleinen
Dosierungsschritten geschaffen werden, erklärte Meyer.
Weitere Informationen zu den gängigsten Suchtmitteln, zur
Substitutionstherapie für den niedergelassenen Bereich und
zur Motivational-Interviewing-Technik können über die
suchtmedizinische Informationsplattform «Praxis Suchtme-
dizin Schweiz» (Link) abgerufen werden.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Psychiatrische Erkrankungen in der Hausarztpraxis», FOMF Allgemeine Innere Medizin, 28. Januar 2022.
Praxis Suchtmedizin Schweiz www.praxis-suchtmedizin.ch
ARS MEDICI 13 | 2022
437