Transkript
STUDIE REFERIERT
Chronische Nackenschmerzen
Was können App-basierte Entspannungsübungen leisten?
Smartphones sind allgegenwärtig, und Apps wollen ihre Nutzer inzwischen in nahezu sämtlichen Lebensbereichen, auch auf dem Gebiet der Medizin und der Therapie, unterstützen. Eine aktuelle Studie zum Effekt App-basierter Entspannungstechniken auf die Linderung chronischer Nackenschmerzen liefert allerdings eher enttäuschende Resultate.
Journal of Medical Internet Research mHealth and uHealth
Auch aufgrund ihres meist unspezifischen Charakters und einer demzufolge häufig aufwendigen und kostspieligen Therapie stellen Nackenschmerzen ein häufiges chronisches gesundheitliches Problem dar, das weltweit eine erhebliche Belastung für die Gesundheitssysteme verursacht. Zur Linderung der chronischen Beschwerden kommen vielfach Analgetika zum Einsatz, die allerdings zum Teil Risiken hinsichtlich ihrer Verträglichkeit oder, insbesondere im Falle von Opioiden, ein gewisses Abhängigkeitspotenzial bergen. Während in bisherigen Untersuchungen körperliche Übungen ihren Nutzen bei der Behandlung von Nackenschmerzen bereits nachweisen konnten, rücken in letzter Zeit Mind-Body-Therapien in den Fokus, die auf die Interaktionen zwischen Gehirn, Psyche und Verhalten und deren Effekte auf Gesundheit und Krankheit abzielen. Als wichtiges Element solcher ganzheitlichen Behandlungsansätze haben Entspannungstechniken wie progressive Muskelrelaxation in der konventionellen Medizin inzwischen ihren festen Platz gefunden. Der damit angestrebte Zustand physischer und psychischer Entspannung triggert günstige physiologische Effekte, etwa eine verminderte sympathische Aktivität, eine reduzierte Muskelspannung, ein verändertes Schmerzbewusstsein und eine verstärkte Ausschüttung endogener Opioide, welche bei der Schmerzbewältigung helfen können. Darüber hinaus liess sich zeigen, dass die positive Wirkung von Entspannungsübungen in ihrem Ausmass unabhängig davon ist, ob diese in Eigenregie oder begleitet von
einem Therapeuten angewendet werden. Folgerichtig wird das Erlernen von Entspannungstechniken inzwischen von vielen Guidelines zum chronischen Nackenschmerz empfohlen. Die Herausforderung besteht allerdings darin, derlei Behandlungsmöglichkeiten allen Patienten mit chronischen Rücken- oder Nackenschmerzen zugänglich zu machen. Die seit einigen Jahren breite Verfügbarkeit von Smartphones bietet für Patienten nunmehr die Möglichkeit, über Apps oder anderweitige mobile digitale Lösungen auf sehr einfache Weise Zugriff auf medizinische Informationen und Anleitungen zur Selbstbehandlung, zum Teil sogar mit Feedbackfunktion, zu erhalten. Auch auf dem Gebiet des sogenannten Achtsamkeitstrainings wie zur Unterstützung des Selbstmanagements beim Umgang mit persistierenden Schmerzen existiert inzwischen eine ganze Reihe entsprechender Apps, deren Effekte allerdings bis anhin, abgesehen von wenigen Ausnahmen, wissenschaftlich kaum untersucht wurden.
Relaxneck – Smartphonebasierte Autosuggestion …
Vor diesem Hintergrund haben eine Arbeitsgruppe um Prof. Claudia Witt vom Institut für komplementäre und integrative Medizin des Universitätsspitals Zürich sowie Kollegen der Charité Universitätsmedizin Berlin und der University of Maryland School of Medicine in Baltimore (USA) eine Smartphonebasierte, pragmatische, randomisierte, kontrollierte Studie mit der Fragestellung durchgeführt, ob zusätzlich zur Schmerzreduktion praktizierte, App-
gesteuerte, auditiv orientierte Entspannungsübungen wirksamer sind als eine herkömmliche Behandlung allein. Eingeschlossen in die Untersuchung wurden insgesamt 220 erwachsene Smartphone-Nutzer (mittleres Alter: 38,9 Jahre) mit seit mehr als 12 Wochen bestehenden chronischen Nackenschmerzen (durchschnittliche Schmerzintensität ≥ 5,7, ermittelt per NRS [numeric rating scale; 0 = kein Schmerz, 10 = grösstmöglicher Schmerz] in der Woche vor Studieneinschluss). Die Teilnehmer wurden im 1:1-Verhältnis im Zeitraum zwischen März 2014 und Januar 2017 randomisiert entweder einer Interventionsgruppe (Durchführung App-basierter Entspannungsübungen [autogenes, Imaginations- oder Achtsamkeitstraining]; möglichst täglich, aber mindestens 5-mal/Woche für jeweils ca. 15 min) oder einer Kontrollgruppe (herkömmliche Behandlung und App-Nutzung nur zur Datenerfassung) zugewiesen und für 6 Monate nachbeobachtet. Primärer Endpunkt war die Veränderung der täglich ermittelten Nackenschmerzintensität nach 3 Monaten. Sekundäre Wirksamkeitsparameter umfassten neben der Veränderung der wöchentlich gemessenen Nackenschmerzintensität die Schmerzakzeptanz, die nackenschmerzbedingte psychische Belastung, die Anzahl der Krankentage, die Einnahme von Schmerzmitteln und die Therapieadhärenz über die gesamte Follow-up-Dauer. Bei der verwendeten Smartphone-Anwendung handelte es sich um die am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité entwickelte App namens Relaxneck aus dem Jahr 2014.
406
ARS MEDICI 12 | 2022
STUDIE REFERIERT
NACHGEFRAGT
Prof. Dr. med Claudia Witt, USZ
«Primär geht es darum, die Menschen bei der Stange zu halten»
Über die Resultate ihrer Untersuchung zum Nutzen App-basierter Entspannungstechniken sowie allgemein zum Stellenwert Smartphone-unterstützter Anleitungen zur Selbsttherapie sprachen wir mit der Studienleiterin, Prof. Dr. med Claudia Witt, Direktorin des Instituts für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich.
ARS MEDICI: Was könnten Ihrer Ansicht nach Gründe sein, warum in Ihrer Studie die App-basierte Therapieunterstützung durch Entspannungsübungen und Mediationstechniken für Patienten mit chronischem Nackenschmerz keinen zusätzlichen Nutzen bringen konnte? Prof. Dr. med. Claudia Witt: Es kommen verschiedene Gründe infrage: Erstens war die Dosis der Therapie nicht stark genug, weil die Übungen nicht häufig genug gemacht wurden beziehungsweise die App irgendwann nicht mehr genutzt wurde. In der erstenWoche haben 99 Prozent der Teilnehmenden die App für Entspannungsübungen genutzt, in Woche 12 nur noch 40 Prozent. Zweitens waren die Studienteilnehmenden zu lang erkrankt (im Mittel 6,5 Jahre), um zu profitieren. Drittens ist schon die alleinige Beantwortung von Fragebögen in einer App effektiver, als vermutet wurde.
In Ihrer Studie wurde eine App verwendet, die im Jahr 2014 entwickelt wurde. Vermuten Sie, dass eine modernere App bessere Resultate erzielt hätte, und wenn ja, was wären die Anforderungen an eine entsprechend zeitgemässere Technik? Witt: Wir sehen eine sehr schnelle Entwicklung in der Digitalisierung, und sowohl beim Design als auch bei den technischen Möglichkeiten gibt es deutliche Verbesserungen. Wir kennen die genauen Wirkfaktoren von Apps aber noch nicht gut genug, um genau sagen zu können, was in welchem Ausmass zur Wirkung beiträgt. Aber ein wichtiger Aspekt ist, die Nutzer überhaupt dabeizuhalten.
In welcher Hinsicht sehen Sie Potenzial bei der Unterstützung von Patienten im Umgang mit App-basierten Entspannungsübungen, um deren Nutzen zu erhöhen? Witt: Ein ganz entscheidender Punkt beiVerhaltensänderungen – wozu auch regelmässige Entspannung gehört – ist die langfristige Implementierung in den Alltag. Dabei spielen heutzutage Behavior Change Techniques (BCT) eine viel grössere Rolle als zur Zeit der Entwicklung der Relaxneck-App. BCT unterstützen eine Implementierung von Entspannungsübungen. Hier sehe ich das Hauptpotenzial, denn Entspannungsübungen sind nur dann hilfreich, wenn man sie regelmässig durchführt. Es geht also primär darum, die Menschen bei der Stange zu halten, die Übungen durchzuführen. Dazu kann man Feedback und Monitoring, soziale Unterstützung oder mittlerweile mobiles Coaching einsetzen.
Wie erklären Sie sich die vordergründig widersprüchlichen Ergebnisse Ihrer Untersuchung, wonach trotz der nicht vorhandenen signifikanten Gruppenunterschiede im primären und sekundären Endpunkt die meisten Patienten der Interventionsgruppe im Gegensatz zum überwiegenden Teil der Teilnehmer der Kontrollgruppe, wie in der Diskussion im Paper erwähnt, über eine subjektive Besserung ihrer Beschwerden berichten? Witt: Beide Gruppen haben über eine deutliche Reduktion der Schmerzintensität nach 3 und 6 Monaten berichtet, sie unterschieden sich darin aber nicht. Diese Frage basierte auf einer Einschätzung der aktuellen Situation, während die Fragen nach der Verbesserung, wo es einen Gruppenunterschied gab, die aktuelle Situation zu einer vorherigen in Relation setzte.
In der Diskussion erwähnen Sie zur Erklärung des offensichtlichen Widerspruchs in den Resultaten einen digitalen Plazeboeffekt. Was hat es damit auf sich? Witt: Schmerzen sind immer subjektiv, und ein Plazeboeffekt tritt bei allen Schmerztherapien auf. Aber für Apps gilt das Gleiche wie für andere Therapien: Ihre Wirksamkeit sollte auf mehr als einem Plazeboeffekt beruhen.
Wie ordnen sich die Ergebnisse Ihrer Studie in den wissenschaftlichen Gesamtzusammenhang zum Thema ein? Gab oder gibt es ähnliche Untersuchungen, die einen grösseren (oder auch geringeren) Nutzen von Apps zur Schmerzbewältigung belegen konnten? Witt: Wir haben eine Studie zu App-gestützter Selbstakupressur bei Menstruationsschmerzen durchgeführt und konnten hier eine gute Wirksamkeit der App zeigen.
Wie schätzen Sie generell den Stellenwert und den Nutzen von App-basierter Therapieunterstützung zur Bewältigung chronischer Schmerzen ein? Dürfen sich Patienten hier trotz der relativ ernüchternden Resultate Ihrer Untersuchung Hoffnung machen? Witt: Wir sehen grundsätzlich einen starken Anstieg bei Apps zu Gesundheitsthemen. Aber nur wenige von ihnen sind in randomisierten Studien auf ihre Wirksamkeit hin untersucht worden. Zudem verläuft die technische Entwicklung sehr schnell. Das bedeutet, dass, wenn Ergebnisse aus Studien vorliegen, die darin verwendete Version der App zumeist schon wieder veraltet ist. Auch Aspekte des Schutzes und des Besitzes von Daten müssen beachtet werden. Der Stellenwert App-basierter Interventionen wird mit zunehmender Digitalisierung steigen. Apps erlauben zudem einen breiten Zugang zu einerTherapie. Aber nur weil etwas technisch modern und damit vielleicht interessanter ist, heisst das nicht, dass es hilft. Wir führen seit über 10 Jahren Studien zur Wirksamkeit von Apps durch, und es ist hier wie mit anderen Interventionen: Manche Apps sind wirksam, andere nicht. Aber genau deshalb ist es wichtig, dass es mehr Studien zu Apps gibt, damit Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten eine informierte Entscheidung für oder gegen eine App treffen können.
Das Interview führte Ralf Behrens.
ARS MEDICI 12 | 2022
407
STUDIE REFERIERT
… weder zur Schmerzreduktion noch hinsichtlich Therapieadhärenz effektiv
Nach Analyse der erhobenen Daten zeigte sich, dass die mittlere Schmerzintensität nach den ersten 3 Monaten der Nachbeobachtung in beiden Gruppen gegenüber Baseline zurückgegangen war. Allerdings ergaben sich hierbei zwischen Interventionsgruppe (4,1; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 3,8–4,4) und Kontrollgruppe (3,8; 95%-KI: 3,5–4,1; Gruppendifferenz: 0,3; 95%KI: –0,2 bis 0,7; p = 0,23) keinerlei signifikante Unterschiede. Das gleiche Bild zeichnete die Auswertung der Schmerzintensitätsdaten sowohl der zweiten 3-monatigen Periode als auch der gesamten 6 Monate des Follow-ups. Die Wahrscheinlichkeit für ein Therapieansprechen war in beiden Gruppen nach 3 Monaten (Odds Ratio [OR]: 0,75; 95%-KI: 0,4–1,4) wie nach 6 Monaten (0,93; 95%-KI: 0,5–1,7) ähnlich hoch. Auch in den sekundären Wirksamkeitsendpunkten zeigten sich keinerlei statis-
tisch signifikante Differenzen zwischen den Gruppen. Sensitivitäts- und Subgruppenanalysen lieferten überdies vergleichbare Ergebnisse bei Probanden verschiedenen Geschlechts oder Alters beziehungsweise bei solchen mit unterschiedlichem Bildungsniveau oder unterschiedlicher Krankheitsdauer. Bis Woche 12 der Untersuchung hatten nur 40 Prozent der Teilnehmer der Interventionsgruppe die regelmässige Durchführung der App-basierten Entspannungsübungen beibehalten. Mit den Resultaten ihrer Erhebung kommen die Studienautoren zu dem Schluss, dass die zusätzlichen App-basierten Entspannungsübungen zur Reduktion chronischer Nackenschmerzen nicht wirksamer sind als die herkömmliche Behandlung. Darüber hinaus scheint die Relaxneck-App die Bereitschaft zur kontinuierlichen Durchführung von Entspannungsübungen im Selbstbehandlungssetting nicht effektiv zu steigern. Die Wissenschaftler führen allerdings an, dass die Studien-App
mittlerweile nicht mehr dem aktuellen
technischen Standard entspricht, sodass
sich die Ergebnisse ähnlicher, mittels
modernerer Anwendungen unterstütz-
ter Untersuchungen günstiger darstel-
len könnten. Zukünftige Studien zu
diesem Thema sollten die jüngsten For-
schungsergebnisse auf dem Gebiet der
Verhaltensänderungstechniken (beha-
vior change techniques, BCT) berück-
sichtigen.
RABE s
Pach D et al.: App-Based Relaxation Exercises for Patients With Chronic Neck Pain: Pragmatic Randomized Trial. JMIR Mhealth Uhealth. 2022 Jan 7;10(1):e31482.
Interessenlage: Die in der Studie verwendete App wurde für Forschungszwecke entwickelt und ist kein kommerzielles Produkt; die Autoren der referierten Studie haben keinerlei finanziellen Anteil an deren Erfolg. C. M. Witt, korrespondierende Autorin, deklariert, von verschiedenen Non-Profit-Organisationen und Gesellschaften sowie von der Firma Newsenselab GmbH finanzielle Forschungsunterstützung an die Universität für diverse Projekte auf dem Gebiet der digitalen Gesundheit erhalten zu haben.
408
ARS MEDICI 12 | 2022