Transkript
EDITORIAL
Medizin für die Frau? – Medizin für alle!
Den Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe von ARS MEDICI bilden Beiträge, die sich mit dem Thema «Medizin für die Frau» befassen. Dabei denken Ärzte wie Patienten (aber auch Redaktoren …) sicher zunächst einmal an typische frauenheilkundliche Fragestellungen sowie an spezielle Symptome und Erkrankungen bei Personen weiblichen Geschlechts. Und so ranken sich auch in diesem Heft mehrere Artikel um Beschwerden und Komplikationen in der Schwangerschaft, um Herausforderungen und Probleme im Zusammenhang mit Kontrazeption oder um häufige gynäkologische Infekte – wichtige Sujets, mit denen gerade Hausärzte im Kontakt mit ihren weiblichen Patienten häufig konfrontiert sind und die deshalb sowie aufgrund des stetigen und bisweilen sogar immer schneller verlaufenden medizinischen Fortschritts bei Diagnostik undTherapie ihren festen und regelmässig wiederkehrenden Platz in dieser Zeitschrift haben. Doch trotz des Stellenwerts der einschlägigen frauenspezifischen Spezialitäten darf nicht vergessen werden, dass eine wirkliche Medizin «für die Frau» auch Situationen und Erkrankungen im Blick haben muss, die zwar beide Geschlechter mehr oder minder gleichermassen, wenn auch nicht gleich häufig betreffen, aber auf zum Teil ganz unterschiedliche Weise in Erscheinung treten oder behandelt werden müssen. Nun gilt dies zwar sicher reziprok, doch noch immer wirkt in der medizinischen Forschung wie in der ärztlichen Praxis nach, dass der gesundheitswissenschaftliche Modellorganismus, etwa in klinischen Studien am Menschen, lange Zeit
nicht nur mittleren Alters und normalgewichtig, sondern –
hauptsächlich aus Gründen der Sicherheit bezüglich einer
potenziell bestehenden oder geplanten Gravidität – eben
auch männlich war und zum Teil noch ist. Auf die andere
Hälfte der Menschheit wurden und werden die so gewonne-
nen Ergebnisse schlicht übertragen …
Dass es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Präven-
tion und Symptomatik, im Verlauf und in der Behandlung
bestimmter Erkrankungen sowie hinsichtlich ihrer psychi-
schen und sozialen Auswirkungen gibt, ist seit einigen Jahr-
zehnten klar. Aber erst in letzter Zeit (und womöglich nicht
zufällig parallel zu den vielerorts allgemein erkennbaren Be-
strebungen zum Aufbrechen überkommener patriarchali-
scher Gesellschaftsstrukturen) beginnen sich diese Erkennt-
nisse auf breiter Front durchzusetzen und führen dennoch
nur allmählich zu anderen Rahmenbedingungen und prakti-
schen Konsequenzen: Obwohl die ersten Hinweise auf ent-
sprechende Zusammenhänge bereits in den frühen 80er-Jah-
ren am Beispiel des Herzinfarkts entdeckt wurden, werden
betroffene Frauen heute noch nicht immer rechtzeitig richtig
diagnostiziert (1).
Dafür, dass sich nicht nur dies, sondern überhaupt die Sensi-
bilität für eine geschlechtergerechte Medizin ändert, kämp-
fen – wenig überraschend – in vorderster Linie im Moment
noch Frauen, die inzwischen im traditionell männlich domi-
nierten Medizinbetrieb häufiger in Schlüsselpositionen auf-
rücken. Eine von ihnen ist die Berliner Kardiologin und Pionie-
rin der Gendermedizin Vera Regitz-Zagrosek, der kürzlich die
Ehrendoktorwürde der Universität Zürich verliehen wurde (2),
deren medizinische Fakultät sie seit zwei Jahren als Beraterin
unterstützt – auch mit dem Ziel, Genderaspekte in Forschung,
Klinik und Lehre zu integrieren. Dieser Weg ist alternativlos.
Doch ihr eigentliches Potenzial wird die Gendermedizin erst
dann entfalten können, wenn sie als das verstanden wird,
was sie eigentlich sein soll: eine Medizin, die nicht allein die
Frau, schon gar nicht den Mann, sondern alle – entspre-
chend ihren jeweiligen geschlechtsspezifischen Bedürfnissen
– im Blick hat.
s
Ralf Behrens
1. https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/av12/video-gender-healthgap-frauen-medizin-herzinfarkt-frankfurt-oder-brandenburg.html
2. https://www.medinside.ch/de/post/zuercher-ehrendoktortitel-gehtan-pionierin-der-gendermedizin
ARS MEDICI 11 | 2022
355