Transkript
EDITORIAL
Angriff auf die Seele
Der Krieg in der Ukraine, der in Teilen des Landes seit Jahren andauert, hat mit dem Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar eine neue Dimension angenommen. Unmittelbar betroffen sind die vor Ort lebenden Menschen, die sich einer buchstäblich über Nacht hereinbrechenden Gewalt gegenübersehen, aber auch die mutmasslich über Hintergrund und Ziel ihres Einsatzes zum Teil desinformierten Soldaten des Invasors, welcher sie, womöglich unter Zwang, zum Töten und je länger, desto wahrscheinlicher in den eigenen Tod schickt. Darüber hinaus berührt und beschäftigt dieser militärische Angriff auf einen souveränen Staat indirekt die Bevölkerungen und Regierungen nahezu sämtlicher Länder der Erde. Denn er birgt wie kaum ein anderes Ereignis in den letzten 70, 80 Jahren die Gefahr, globale existenzielle Konsequenzen zu zeitigen – vor allem weil der Aggressor eventuell nicht (mehr) über hinreichende geistige Gesundheit, jedoch (immer noch) über nukleare Waffen verfügt, mit deren Einsatz er aktuell jedem, der sich seinem Ansinnen entgegenstellt, mehr oder weniger explizit droht. Nach 2 Jahren Pandemie trifft dieses neuerliche Unheil auf zermürbte, psychisch vulnerable Gesellschaften und hat auch als medial beherrschendes Thema nahtlos deren Stelle eingenommen. Wladimir Putin hat es scheinbar geschafft, das Coronavirus, schon vorher kaum mehr beachtet, endgültig zu besiegen – ein fragwürdiges Verdienst, das ihm weder den Friedens- noch den Medizinnobelpreis einbringen wird. Stattdessen sind neben hilfloser Anteilnahme am Leid der Flüchtenden, der Kriegsopfer und deren Angehöriger aufs Neue Ohnmacht, Angst und nicht selten Wut die überbordenden Emotionen, hinter denen jetzt vieles zurücksteht, zurückstehen muss – auch manch eines der ansonsten an dieser Stelle gern gewählten Sujets. Dies nun nicht, um sich zum hier gewiss deplatzierten Versuch einer ohne-
dies schwierigen politischen Analyse zu versteigen, sondern
um die wieder einmal besondere Herausforderung zu unter-
streichen, die diese Krise für Angehörige sozialer und medi-
zinischer Berufe und mithin für Hausärzte als oft erste An-
sprechpartner für diejenigen, die ihren Sorgen nichts mehr
entgegenzusetzen haben, mit sich bringt.
Gerade weil die Eskalationsspirale auch der verbalen Gewalt
sich schnell dreht, ist es wichtig, die Ängste der Menschen,
etwa vor einer Expansion des Krieges oder gar vor der nuklea-
ren Katastrophe, ernst zu nehmen und ihnen Raum zu geben,
Möglichkeiten der Stabilisierung aufzuzeigen oder psycho-
logische Hilfsangebote zu vermitteln. Dass entsprechender
Bedarf offenbar vorhanden ist, zeigt abermals der Blick in die
Medien, die sich neben der Berichterstattung über die schreck-
lichen Ereignisse ebenso deren psychischen Auswirkungen
widmen. Bisweilen wird dort fast der Eindruck erweckt, als sei
ein in jahrzehntelanger vermeintlicher Sicherheit verweich-
lichtes Volk nun für kommende härtere Zeiten auf Resilienz
zu trimmen. Doch bei Trennung der Suspense-geladenen
Spreu vom wesentlichen Weizen (z. B. 1, 2) zeigt sich die Not-
wendigkeit, sich selbst schützen zu können, ohne die Augen
vor der Realität verschliessen zu müssen. «Die Lösung, um
Ängste in den Griff zu bekommen, ist, sich körperlich in Akti-
vität zu setzen, im Hier und Jetzt zu verankern und mit ande-
ren Menschen zu verbinden», sagt der Regensburger Psychia-
terundTraumaforscherProf.ThomasLoew(2).Voraussetzung
dafür sei zu verstehen, was in der Aussenwelt los sei, sich
aber auch die angeborenen Fähigkeiten zur vegetativen
Selbstregulation und Stressreduktion zu erschliessen. Jedem
Einzelnen könne es nur in seinem eigenen Umfeld gut gehen,
nur das könne er beeinflussen. Dabei helfen autonome Re-
gulation, etwa durch entschleunigtes Atmen, und die soge-
nannte bilaterale Stimulation, also einfache Tätigkeiten wie
Spazierengehen, Kochen, Stricken oder, bei kreisenden Ge-
danken, (handschriftliches) Notieren der Ängste, Malen oder
nur Kritzeln.
Nur wem es gelingt, in sich selbst einen sicheren Ort zu fin-
den, der kann auf andere beruhigend einwirken. Was vorder-
gründig wie selbstvergessene Abkehr erscheint, bildet inso-
fern nichts weniger als das Pflaster für den Weg des Friedens,
an dem auch in Zeiten, in denen Angst hie und da schon wie-
der als Schwäche und Diplomatie als unmoralisch gilt, weiter
gebaut werden muss.
s
Ralf Behrens
1. Krieg macht Angst. TeleZüri «Talk Täglich», 3.3.2022; https://tv.telezueri. ch/talktaeglich/krieg-macht-angst-145457430
2. Wenn Putins Krieg dir Angst macht. Focus Online Webinar, 4.3.2022; https://www.bigmarker.com/finanzen100/Wenn-Putins-KriegDir-Angst-macht-Professor-erkl-rt-wie-unsere-Sorgen-nicht-ausufern?utm_bmcr_source=AdMa
ARS MEDICI 6 | 2022
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