Transkript
FORTBILDUNG
Ist eine Diät noch sinnvoll?
Ernährungsempfehlungen bei Diabetes im Alter
Vor der Entdeckung des Insulins vor 100 Jahren war die Einschränkung der Nahrungsaufnahme bis hin zur Nulldiät die einzige Therapiemöglichkeit bei Typ-2-Diabetes. Ein Typ-1-Diabetes war damals noch ein Todesurteil. Die Tradition der Diabetesdiät hat sich aber bis heute, trotz anderslautender moderner Leitlinien, bei Patienten und auch im ärztlichen Unterbewusstsein gehalten. Zeit für ein Update.
Jürgen Wernecke
Tatsächlich ist Übergewicht immer noch das markanteste äussere Merkmal bei Diagnosestellung eines Typ-2-Diabetes. Basistherapie bei Diabetes mellitus ist daher eine gesunde, kalorienbegrenzte Ernährung zur Minderung der kardiovaskulären Risikofaktoren. Dies gilt aber ebenso für übergewichtige Menschen ohne Diabetes (1).
Keine Evidenz für spezielle Ernährungsempfehlungen
Die Empfehlungen zur Gewichtsabnahme zeigen, bis auf eine mediterrane Diät mit Einsatz von viel Olivenöl und Nüssen, langfristig bislang kaum Erfolge. Grund dafür mag sein, dass Adipositas wie Typ-2-Diabetes überwiegend genetische Ursachen hat und nicht durch eine reine «Charakterschwäche» gekennzeichnet ist. Damit sind viele frustrane und konfliktreiche Therapieansätze erklärbar. Trotzdem bleibt konservativ therapeutisch für jüngere Patienten neben der Bewegung natürlich nur die Möglichkeit der kalorienbegrenzten Ernährung. Die Evidenz von spezielleren Ernährungsempfehlungen bei Diabetes ist generell schlecht, langfristige Evaluierungen in randomisierten, kontrollierten Studien fehlen weitestgehend. Eine Evidenz für spezielle Ernährungsempfehlungen bei Diabetes im Alter ist faktisch nicht vorhanden (2, 3).
Ist Abnehmen im Alter noch sinnvoll und effektiv?
Allgemein verschwimmt im Alter das Mortalitätsrisiko von Übergewicht vor dem anschwellenden Grundrauschen der
übrigen, schon fortgeschrittenen Herz-Kreislauf-Risiken. Das Gesundheitsrisiko durch ein erhöhtes Körpergewicht nimmt im Alter über 70 Jahren relativ ab. Erst ab einem Body-MassIndex (BMI) über 35 kg/m2 gibt es Anzeichen für zunehmende Beeinträchtigungen der Selbsthilfefähigkeiten und damit der Lebensqualität. Tendenziell entwickeln sich besonders bei multimorbiden Älteren mit Diabetes eher Untergewicht und Sarkopenie mit steigender Mortalität und Funktionsverlust. Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) differenziert ältere Menschen mit Diabetes daher folgendermassen (2): s funktionell unabhängig: ältere Menschen mit Diabetes
mellitus und gutem funktionellen Status; Patienten mit wenig Komorbidität, allenfalls geringer kognitiver Einschränkung und guten Kompensationsmöglichkeiten s funktionell leicht bis stark abhängig: multimorbide ältere Menschen mit Diabetes und unterschiedlich stark eingeschränktem funktionellen Status bis zu ausgeprägten kognitiven Einschränkungen und Vorliegen von Erkrankungen mit limitierter Lebensprognose s Menschen, die sich in der unmittelbaren Sterbephase befinden. Diese Patientendifferenzierung nach Funktionalität stammt aus den Praxisempfehlungen 2018 «Diabetes mellitus im Alter» der DDG (2). Funktionell eingeschränkte und meist multimorbide ältere Menschen werden als geriatrisch bezeichnet. Nicht geriatrische Menschen werden wie jüngere Menschen mit Diabetes auch in Bezug auf ihre Ernährung behandelt.
MERKSÄTZE
� Übergewicht sollte toleriert werden, solange es die Lebensqualität nicht einschränkt.
� Standarddiäten tragen eher zur Erhöhung des Gesundheitsrisikos und der Mortalität bei.
� Multimedikation sollte regelmässig hinterfragt werden.
Was sind die allgemeinen Ziele einer Ernährung bei Diabetes?
Die Ziele einer Ernährungsempfehlung bei Diabetes sind abhängig vom Körpergewicht, von der Körperzusammensetzung und den verschiedenen Therapieformen: Bei nicht geriatrischen Patienten mit Übergewicht und
hohem viszeralen Fettanteil: s kalorienbegrenzte/-reduzierte Ernährung zur Verbesserung
des Stoffwechsels über Minderung der Insulinresistenz
146
ARS MEDICI 5 | 2022
FORTBILDUNG
Praxisbeispiel
Frau M., 84 Jahre, zeigt in der letzten Nicht-Nüchtern-Blutentnahme plötzlich einen Blutzuckerwert von 224 mg/dl, der darauf abgenommene HbA1c-Wert beträgt 7,8%. Sie wiegt 91 kg bei 174 cm Körpergrösse, hat in den letzten 6 Monaten ca. 10 kg abgenommen. Vorerkrankungen: arterielle Hypertonie, Hyperlipoproteinämie, koronare Herzkrankheit, Z. n. Myokardinfarkt, Z. n. zerebralem Insult mit leichter Hemiparese rechts, Inkontinenz, Mobilität: am Gehwagen mobil, Pflegedienst 1-mal täglich. Was wäre Ihre Ernährungsempfehlung/Ihr Therapievorschlag?
s Reduktion des kardiovaskulären Risikos Bei geriatrischen Patienten: s Vermeidung von Kachexie und Mangelernährung s keine kalorienbegrenzten Diäten Bei fixer insulinotroper Therapie, wie Sulfonylharnstoff-
therapie, konventioneller Insulintherapie oder intensivierter Insulintherapie mit festen Insulindosen: s regelmässige Mahlzeiten mit annähernd ähnlichen Kohlenhydratmengen; dazu ist ein grobes Wissen um den Kohlenhydratgehalt verschiedener Mahlzeiten hilfreich, meist reicht aber schon die Einhaltung der Ernährungsgewohnheit, um Stoffwechselschwankungen zu vermeiden Bei flexibler Kohlenhydrataufnahme nach dem Basis-Bolus-Prinzip mit BE-Faktoren (BE: Broteinheit): s bis auf die Vermeidung grösserer Mengen an schnell resorbierbaren Kohlenhydraten, wie Naturfruchtsäften, völlig freie Ernährung; zur Vermeidung von Stoffwechselschwankungen ist aber genaues Wissen um den Kohlenhydratgehalt der gewünschten Mahlzeit zur Berechnung der passenden Insulindosis notwendig.
Ernährungssituation und typische Therapiestrategien bei geriatrischen Menschen mit Diabetes
Bei geriatrischen Menschen mit Diabetes sind Mangelernährung und Sarkopenie das führende Problem – die beiden Charakteristika des Gebrechlichkeitssyndroms (Frailty) (3). Die restliche Lebenserwartung von multimorbiden, geriatrischen Patienten liegt in der Regel unterhalb von 10 bis 15 Jahren. Damit lassen sich kardiovaskuläre Risiken und diabetische Folgeschäden anders als bei nicht geriatrischen älteren Patienten durch Stoffwechseltherapien nicht mehr wesentlich beeinflussen. Das Ernährungsziel 4 (siehe oben) fällt damit weg. Es geht nicht mehr um Adipositasvermeidung, sondern um die Verhinderung von Mangel- und Unterernährung! Standarddiäten, wie die traditionelle Diabetesdiät mit Kohlenhydrat- und Kalorienbeschränkung, tragen eher zur Erhöhung des Gesundheitsrisikos und der Mortalität bei und sollten bei geriatrischen Patienten mit Diabetes absolut vermieden werden. Eine Mangelernährung bei geriatrischen Menschen kann zum Beispiel mithilfe des BMI, der Messung des Hüft-Taillen-Umfangs wie auch des Mini Nutritional Assessments standardisiert erfasst werden. Die Kombination aus Eiweissmangel und Vitamin-D-Defizit ist typisch für Mangelernährung im Alter. Daher sollten Albumin und Vitamin D im Serum mitbestimmt werden. Neben der verminderten Vitamin-D-Aufnahme ist
die fehlende Exposition gegenüber Tages- und Sonnenlicht durch Immobilität, besonders im Winter, für einen Vitamin-DMangel ursächlich. Daraus resultieren eine erhöhte Osteoporoserate, ein erhöhtes Sturzrisiko und ein gesteigertes Risiko für Knochenbrüche und sogar Spontanfrakturen. Der typische Eiweissmangel geriatrischer Menschen resultiert aus einer verminderten Eiweissaufnahme und -verwertung. Eiweissmangel, speziell Albuminmangel, hemmt die Zellregeneration. Dies ist insbesondere für den Muskelaufbau und die Wundheilung von entscheidender Bedeutung. Ältere Menschen mit Diabetes zeigen trotz gleicher Muskelmasse eine vergleichsweise verminderte Kraft und damit ein deutlich erhöhtes Risiko für Frailty. Die daraus resultierende Immobilität kann bei Diabetes mellitus wiederum eine Stoffwechselentgleisung provozieren und unterhält damit einen Teufelskreis aus eingeschränkter Funktionalität, Immobilität, Verlust von Muskelkraft und weiterer Funktionseinschränkung.
Frailty erhöht die Sterblichkeit
Verminderte Muskelmasse und -kraft sowie Kachexie, in seltenen Fällen aber auch Übergewicht mit drastischem «Überhang» an Fettgewebe, sind charakteristisch für das gefährliche geriatrische Syndrom Frailty. Frailty ist mit einer hohen Sturz- und Knochenbruchrate sowie einer deutlich erhöhten Sterblichkeit verbunden. Eiweissmangel führt zusätzlich zu einer schlechteren Wundheilung wie beim diabetischen Fusssyndrom. Grössere Wunden wie beim chronisch sezernierenden Ulcus cruris steigern den Eiweissmangel weiter durch Eiweissverlust über die Wunde und führen in einen Circulus vitiosus. Die Ursachen für Mangelernährung sind komplex und beeinflussen sich gegenseitig negativ: Multimorbidität, verstärkt durch Diabetes, verursacht Multimedikation. Dadurch verminderter Appetit verursacht Gewichtsabnahme, Sarkopenie und Immobilität und damit wieder Multimorbidität. Multimedikation, auch durch orale Antidiabetika, muss regelmässig überprüft werden. Eine tendenziell frühere Insulinierung wegen häufigen Sekundärversagens und anaboler Wirkung kann Abhilfe schaffen. Es gibt aber auch einen «Medikationsmangel». Depressionen durch Krankheitsbelastungen, Unsicherheit und soziale Isolation als Ursache für Appetitmangel treten bei Diabetes im Alter etwa doppelt so häufig auf wie ohne Diabetes und lassen sich medikamentös oft gut behandeln.
Weitere Gründe für Mangelernährung bei Diabetes Typische Ursachen für Mangelernährung im höheren Lebensalter sind: s Multimedikation/Polypharmazie s Zahn-/Prothesenprobleme, Parodontitis s Schleimhautatrophien und -entzündungen (Gastritis) im
Gastrointestinaltrakt s Multimorbidität wie Herz- und Lungeninsuffizienz,
Schilddrüsenüberfunktion, terminales Nierenversagen, chronische Wunden s chronischer Schmerz s Immobilität s Depression s kognitive Defizite/Demenz = Essen wird vergessen s Beeinträchtigung des Seh-, Hör- und Geschmackssinns.
ARS MEDICI 5 | 2022
147
FORTBILDUNG
All diese Risikofaktoren für Mangelernährung beeinflussen den Diabetes wieder negativ, sodass oft ein Teufelskreis weiter in Richtung Unter- und Mangelernährung entsteht.
Therapiemöglichkeiten bei Mangelernährung
Neben der Erfassung und Behandlung von Risikofaktoren für Mangelernährung ist eine möglichst abwechslungsreiche «bunte Wunschkost» unter Einsatz von hoch kalorischen, proteinreichen und vitaminhaltigen Zusatzstoffen empfehlenswert. Unkontrolliert grössere Mengen an süssen, schnell resorbierbaren Kohlenhydraten (z. B. Natursäfte) sollten dagegen wegen der Gefahr von kaum noch kompensierbaren Blutzuckeranstiegen vermieden oder – als einzige Ausnahme – in Form von Diätsäften eingesetzt werden.
Medikamentöse Diabetestherapie und Ernährung Eine konventionelle Insulin- oder Sulfonylharnstofftherapie wie in Ernährungsziel 2 benötigt ein regelmässiges Essverhalten. Für alle anderen Antidiabetika reichen die allgemeinen Ernährungsempfehlungen, wie sie oben genannt werden. Sollten unter einer Insulin- oder Sulfonylharnstofftherapie Mahlzeiten vergessen werden oder aus Appetitmangel unregelmässig erfolgen, muss zur Vermeidung von schweren Hypoglykämien auf eine postprandiale Gabe von schnell wirksamem Insulin mit festem Insulinkorrekturplan – notfalls durch Angehörige – umgestellt werden.
Zusammenfassung
Bei der Ernährung geriatrischer Menschen mit Diabetes sollten folgende Punkte beachtet werden: s Übergewicht sollte toleriert werden, solange es nicht deut-
lich lebensqualitätseinschränkend ist (z. B . Arthroseschmerzen). s Eine Umstellung auf eine ausgewogene Ernährung nach Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (fettmoderat, stärkebetont und ballaststoffreich) sollte nur bei langfristigen Erfolgsaussichten patientenseitig angestrebt werden. s Auf ausreichende Versorgung mit Spurenelementen und Vitaminen sollte geachtet werden (auch Übergewichtige sind häufig fehlernährt!). s Ein Ernährungsassessment ist bei gebrechlichen älteren Menschen sinnvoll. s Kau- und Schluckstörungen, entzündliche Erkrankungen des Zahnfleisches (Parodontitis) sowie Zahnprobleme müssen berücksichtigt werden. s Regelmässige Hinterfragung einer Multimedikation ist sinnvoll. s Wenn von Patienten gewünscht, können eine Ernährungsberatung und eine an den Patientenmöglichkeiten orientierte Diabetesschulung, ggf. auch für Angehörige, angeboten werden. s Essen bedeutet im hohen Lebensalter eine der letzten noch verbleibenden Lebensqualitäten. Daher sollte eine Ein-
schränkung der Lebensmittelauswahl (ausgewogene Mischkost in Anlehnung an individuelle Lebensgewohnheiten) mit Ausnahme von grossen, schnell resorbierbaren Kohlenhydratmengen (z. B. Natursäfte) vermieden werden. s Jede körperliche Bewegung ist besser als keine; sie regt den Appetit an und stabilisiert in regelmässiger Form den Stoffwechsel. s Insulin oder Sulfonylharnstoffe sollten hinsichtlich Zeitpunkt und Dosierung auf die Menge und die Art der Kohlenhydrate abgestimmt werden. Dabei sollte die Medikation der Ernährung folgen – nicht umgekehrt! Dies gilt auch für Sondenkost. s Keine Diät- oder sogenannte Diabetikerprodukte (Ausnahme: Diätsäfte).
Besonderheiten bei Menschen mit Diabetes mellitus und Sondenernährung
Patienten mit Diabetes und Sondenernährung brauchen eine Abstimmung zwischen Art und Umfang der Sondenkost sowie einer möglichen Insulintherapie. Generell sind Sondenbolusgaben zu bevorzugen, da sie physiologischer sind. Sollten orale Antidiabetika nicht mehr ausreichen, ist eine Therapie mit schnell wirksamem Insulin, ebenfalls in Bolusform, direkt mit der Sondenbolusgabe indiziert. Bei Therapie mit Ernährungspumpen sind unterschiedliche Langzeitinsulingaben je nach Dauer der Pumpenzufuhr zu bevorzugen. In den Pausenzeiten sollte möglichst keine oder wenig Insulinwirkung vorhanden sein, um Hypoglykämien zu vermeiden. Dazu ist eine Absprache zwischen Pflege und Arzt notwendig. In den meisten Fällen kann durch Abstimmung der Therapie auf eine teure Diabetesspezialkost verzichtet werden. s
Dr. med. Jürgen Wernecke Chefarzt der Klinik für Diabetologie und der MedizinischGeriatrischen Klinik Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg D-20249 Hamburg
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «doctors today» 10/2021. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Literatur: 1. Volkert D et al.: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungs-
medizin (DGEM) in Zusammenarbeit mit der GESKES, der AKE und der DGG: Klinische Ernährung in der Geriatrie – Teil des laufenden S3-Leitlinienprojekts Klinische Ernährung. Aktuel Ernahrungsmed. 2013;38:e1e48. 2. Zeyfang A et al.: Diabetes mellitus im Alter. Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetesgesellschaft. Diabetologie und Stoffwechsel. 2019; 14(Suppl 2):S207-S213. 3. American Diabetes Association: Older Adults: Standards of Medical Care in Diabetes – 2020. Diabetes Care. 2020;43(Suppl 1):S152-S162.
148
ARS MEDICI 5 | 2022