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Titel
Psychiatrie – Aus der Pandemie wurde zusätzlich eine «Infodemie»
Untertitel
Prof. Dr. med. Henning Wormstall, Schaffhausen, PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter, Chefarzt Alters- und Neuropsychiatrie Psychiatrie St. Gallen Nord – PSGN, Wil
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Rückblick 2021/Ausblick 2022
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58871
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RÜCKBLICK 2021/AUSBLICK 2022

Psychiatrie
Prof. Dr. med. Henning Wormstall Praxis Webergasse Webergasse 58 8200 Schaffhausen
PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter Chefarzt Alters- und Neuropsychiatrie Psychiatrie St. Gallen Nord – PSGN Zürcherstrasse 30 9500 Wil
Aus der Pandemie wurde zusätzlich eine «Infodemie»
Die Autoren hatten bereits in den letzten Jahren jeweils die Gelegenheit erhalten, in der Zeitschrift «Ars Medici» den Jahresrückblick zu verfassen. In den ersten Rückblicken/ Überblicken wurde auf unterschiedlichste aktuelle Aspekte ihres Fachgebiets fokussiert. Bisherige Schwerpunktthemen waren die traumaorientierte Therapie und psychische Auswirkungen der internationalen Migrationsbewegung, narrative oder körperorientierte Verfahren, Hometreatment, Gynäkopsychiatrie, Schlafstörungen, Empfehlungen der Nationalen Demenzstrategie oder die Früherkennung von Psychosen. Psychopharmakologisch wurde auf die Neu- oder die Weiterentwicklung von Substanzen wie Brexpiprazol, Cariprazin, Vortioxetin und Lavendelöl sowie auf Anwendungsmöglichkeiten von Cannabinoiden, Ketamin und Psilocybin bei psychischen Erkrankungen eingegangen. Der Jahresrückblick 2020 erhielt dann mit der SARS-CoV-2Pandemie als alles überstrahlendem Schwerpunkt eine gänzlich neue Richtung. Beschrieben wurde die Balance zwischen Ressourcen und Stressoren, wirtschaftlichen Sorgen, altersspezifischen Besonderheiten und Risikogruppen. Diagnostisch standen, das psychiatrische Fachgebiet betreffend, zunächst Anpassungsstörungen an erster Stelle, Langzeitfolgen (z. B. Angststörungen) wurden aber bereits erwartet (1). Diverse Impfmodalitäten befanden sich 2020 noch in einem spekulativen Stadium. Leider steht auch im vorliegenden Jahresrückblick 2021 erneut die Coronapandemie im Zentrum unseres Berichts. Ein Mangel an Verlaufsdaten besteht nicht mehr, im Gegenteil: Aus der Pandemie wurde zusätzlich eine «Infodemie». Eine eindeutige Bewertung der jetzt vorliegenden Daten ist nicht einfach, da die Studienlage aufgrund geringer Baseline-Daten versus Daten zur aktuellen Coronasituation sehr heterogen und (nicht nur für den Laien) schwer zu bewerten ist (z. B. unterschiedliche Fragebögen und Untersuchungszeitpunkte, verschiedene Länder, differierende Altersgruppen oder

Schweregrade der Erkrankung) und somit Raum für unterschiedliche Interpretationen lässt. Von der dringend ersehnten persönlichen oder gesellschaftlichen Normalität konnte im vorliegenden Berichtsjahr keine Rede sein. Das Jahr 2021 präsentierte erneut einen wellenförmigen Pandemieverlauf mit gravierenden Auswirkungen auf die Arbeit im psychiatrischen Fachgebiet. Gesellschaftlich lässt sich vielerorts eine deutliche Zunahme der Anspannung in der Bevölkerung erkennen, das Coronathema ist aus fast keinem Gespräch mehr wegzudenken. Die Auswirkungen auf die klinische Versorgung von Patienten mit psychischen Belastungen wurden auch in den Institutionen deutlich. Hier ging es – wie in der Gesellschaft überhaupt – zunächst darum, bei Patienten und Mitarbeitern Infektionen zu verhindern; dementsprechend mussten stationäre Zugangsbeschränkungen ausgesprochen und im ambulanten Bereich oder bei Fortbildungsveranstaltungen die höchstmöglichen Sicherheits- und Hygienemassnahmen eingehalten werden. Nach einer beginnenden Lockerung wurden aufgrund der Impfdurchbrüche und wegen der neuen OmikronVariante erneut die Sicherheitsmassnahmen verschärft.
COVID-19: Psychische Stressoren
Seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie wurden diverse Stressoren für die Entwicklung psychischer Erkrankungen identifiziert. Belastungsfaktoren in der Coronaviruspandemie (2) sind Befürchtungen, sich oder Angehörige zu infizieren, Verzicht auf Freizeitaktivitäten (kulturell, Sport, soziale Kontakte), erhöhter Medienkonsum beziehungsweise Mangel an Bewegung. Bildungsdefizite, die neue Arbeitslosigkeit und finanzielle Nöte gehen mit einem erhöhten Risiko für psychische Belastung einher. Divergierend sind statistische Trends für ein erhöhtes Suizidrisiko (3). Belastungen finden sich weiterhin in den familiären Strukturen (Homeschooling, Homeoffice, Sucht, häusliche Gewalt, Dichtestress). Neben den akuten Belastungsfaktoren konnten auch Risikound Schutzfaktoren identifiziert werden. Risikofaktoren sind: s ausgeprägter Medienkonsum s ständiges Grübeln über die Pandemie s Sorgen um persönliche Konsequenzen aus der Pandemie s psychische Vorerkrankungen s weibliches Geschlecht. Als weitere Risikofaktoren sind zudem Adipositas oder pulmonale und kardiale Vorerkrankungen zu nennen. Zu den Schutz- und Entwicklungsfaktoren zählen: s Aufrechterhalten einer Tagesstruktur (inkl. Bewegung,
Ernährung, Schlaf) s positiver Reappraisal-Stil (d. h. die Fähigkeit, in der Krise
auch etwas Positives oder eine Chance zu sehen). Protektiv wirken ein höheres Alter, eine gute finanzielle Situation und ein hoher Bildungsgrad. Als zukunftsorientierend haben sich in der Coronaviruspandemie digitalisierte Therapien (Teletherapie) sowie der digitalisierte Austausch von Fachpersonen und die digitalisierte Fort- und Weiterbildung erwiesen.

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Ängste im Kontext von Epi- und Pandemien

Gesundheitliche Konsequenzen

Soziale Konsequenzen
Wirtschaftliche Konsequenzen

Andere Konsequenzen

Resilienzfaktoren
Selbstwirksamkeitserwartung Unsicherheitstoleranz Normalisierung von Emotionen Routine Sicherheit soziale Unterstützung

Tatsächlich erlittene negative
Konsequenzen

Befürchtete negative
Konsequenzen

Risikofaktoren
erhöhter Medienkonsum weibliches Geschlecht Gesundheitsberufe Unterdrückung von Emotionen psychische Erkrankungen körperliche Erkrankungen gesundheitsschädliches Verhalten direktere Virusbetroffenheit finanzielle Probleme unsichere Arbeitsverhältnisse

Resilienz fördern

Folgen reduzieren

Furcht reduzieren Risikofaktoren mildern

Handlungsempfehlungen + geeignete präventive und therapeutische Massnahmen

Abbildung 1: Übersicht über verschiedene Inhalte von Ängsten im Kontext von Epidemien und Pandemien sowie diverse Resilienz-, Risiko- und andere Einflussfaktoren (nach [9])

Altersgruppe (Jahre)

≥ 95 90–94 85–89 80–84 75–79 70–74 65–69 60–64 55–59 50–54 45–49 40–44 35–39 30–34 25–29 20–24 15–19 10–14
5–9 1–4
6000

Angststörungen (Baseline) Major Depression (Baseline) Angststörungen (hinzukommend) Major Depression (hinzukommend)

Frauen Männer

5000

4000

3000 2000 1000 0 1000 2000 DALY (disability-adjusted life years; Tausende)

3000

4000

Abbildung 2: Globale Prävalenz von Major Depression und Angststörungen 2020 nach Altersgruppen und Geschlecht vor und während der SARS-CoV-2-Pandemie (nach [11])

Long COVID und Fatigue
Auf psychiatrischem Fachgebiet und im somatischen Bereich steht nun das Long-COVID-Syndrom im Vordergrund, ein noch nicht vollständig verstandenes Krankheitsbild mit einem wohl durch das Coronavirus induzierten, neuroinflammatorischen Geschehen (4). Long COVID ist ein Sammelbegriff für gesundheitliche Langzeitfolgen, die nach oder während einer akuten COVID-19-Erkrankung auftreten können (5). Für COVID-19 lassen sich definitorisch derzeit 3 Phasen unterscheiden:

1. akute Krankheitsphase bis 4 Wochen nach Beginn der Symptome
2. subakute Krankheitsphase von der 4. bis zur 11. Woche nach Auftreten der Symptome
3. Post-COVID-Syndrom, das länger als 12 Wochen nach Krankheitsbeginn persistiert.
Der Begriff Long COVID umfasst Symptome, die mehr als 4 Wochen nach Beginn der COVID-19-Erkrankung fortbestehen oder neu beginnen und sich nicht anders erklären lassen. Zu den häufigsten gesundheitlichen Langzeitfolgen gehören: s Müdigkeit und Erschöpfung mit eingeschränkter Belast-
barkeit (Fatigue-Symptomatik) s Kopfschmerzen s Atembeschwerden s Geruchs- und Geschmacksstörung s Konzentrations- und Gedächtnisprobleme s depressive Verstimmungen s Schlaf- und Angststörungen.
Von einem Fatigue-Syndrom sind häufiger Frauen betroffen. Weiterhin können unterschiedlichste somatische Symptome (kardiale Beschwerden, Nieren- und Stoffwechselerkrankungen, Thromboembolien, Haarverlust) auftreten. Diese Symptome kommen alternierend vor, können hierbei einzeln oder in Kombination auftreten und unterschiedlich lang dauern. Eine einheitliche Definition des Krankheitsbilds Long COVID gibt es bislang nicht (6). Auch ist noch unklar, wie viel Prozent der an COVID-19 Erkrankten (mit unterschiedlichsten Schweregraden) diese Langzeitfolgen entwickeln. Daten einer kürzlich in Zürich durchgeführten Studie gehen von 20 bis 25 Prozent Langzeiterkrankten in der Schweiz aus (7). Langzeitfolgen können auch bei bis anhin gesunden, jungen Patienten auftreten. Bevor jedoch ein Long-COVID-Syndrom diagnostiziert wird, sollten klinische Differenzialdiagnosen wie das Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS), ein Burnout-Syndrom, ein chronisches Fatigue-Syndrom oder somatische Grunderkrankungen abgeklärt werden.
Anstieg von Angsterkrankungen und Depressionen
Psychopathologisch steigen im Rahmen der Coronapandemie die affektiven Störungen (Angsterkrankungen, Depressionen) signifikant an. In einer US-amerikanischen Datenerhebung mit über 300 000 Teilnehmern überschritt im Frühjahr 2020 mehr als ein Drittel der Befragten die Screeningschwelle für eine Depression oder Angststörung, was im Vergleich zu den Daten vom Jahr davor eine Zunahme um das Dreifache bedeutete (8). Eine deutsche Längsschnittstudie belegte hingegen für den Verlauf der ersten Jahreshälfte 2020 eine Abnahme der initialen Angstsymptomatik (9), die im Vergleich mit früheren Pandemien durch eine Habituation, das Ausbleiben von gefürchteten Konsequenzen oder die Nutzung von Coping-Strategien erklärt wurde. Auch wenn ein Grossteil der Ängste eine normale Reaktion auf eine Ausnahme-

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situation darstellt (10), zeigen sich doch Besonderheiten wie Angst um die Angehörigen, Furcht vor sozialen und wirtschaftlichen Folgen oder Sorgen um die eigene Gesundheit. Auf der Handlungsebene empfehlen die Autoren (9) die Aufrechterhaltung von Routinen, einen möglichst gesunden und aktiven Lebensstil sowie die Orientierung an bisher erfolgreichen Bewältigungsstrategien. Abgeraten wird von schädlichen Handlungsmustern wie Substanzkonsum oder der Unterdrückung negativer Emotionen (Abbildung 1). Die australische Arbeitsgruppe um Damian Santomauro unterstrich, dass Depressionen und Angsterkrankungen bereits vor COVID-19 weltweit zu den Hauptursachen für gesundheitliche Einschränkungen zählten. In einer Metaanalyse zur COVID-19-bedingten Prävalenz von Depressionen und Angsterkrankungen mit initial über 5000 Datenquellen und anschliessend 48 eingeschlossenen Studien wurde deutlich, dass sich durch die Pandemie die Zahl der Betroffenen um jeweils ein Viertel erhöhte (11) (Abbildung 2). Signifikant erhöht war hierbei insbesondere der Anteil der Frauen und der jüngeren Altersgruppen. Die Frage nach Pandemieauswirkungen kann nur unter Berücksichtigung der polarisierenden positiven und negativen Effekte beantwortet werden. Als sicher mutmachend und die Hoffnung stärkend lässt sich anführen, dass, kontrastierend zu unserem letzten Jahresrückblick, mittlerweile spezifische und unterschiedliche präventive Impfoptionen zur Verfügung stehen und abhängig von nationalen Verhältnissen in grösserem Ausmass umgesetzt werden konnten. Impfthemen wurden wiederholt detailliert in «Ars Medici» beschrieben (12). Auf der therapeutischen Ebene kann pharmakologisch derzeit nur symptomatisch behandelt werden, gezielte medikamentöse Behandlungsoptionen sind erst im Zulassungsprozess. Sollten sich die Substanzen als hilfreich erweisen, können sie zu einer weiteren Reduktion der Angst vor der Pandemie, vor der individuellen Infektion und vor deren Folgen beitragen.
Veränderte Rolle der Hausärzte
Die Rolle der Hausärzte hat sich während der Pandemie deutlich verändert. Neben dem bisherigen hausärztlichen Arbeitsfeld sind nun zusätzlich enorme Belastungen aufgrund der Pandemie dazugekommen. Im Rahmen von politischen Unsicherheiten (13) sind gut funktionierende Impfzentren reduziert und weitere Impftätigkeiten mit allen Folgen – einschliesslich einer intensivierten Aufklärung mit dem Abbau von Ängsten bei den Patienten – den Hausärzten übertragen worden. Die Hausärzte werden in Zeiten der Pandemie einerseits zunehmend mit psychischen, sozialen, aber auch wirtschaftlichen Fragestellungen konfrontiert und müssen andererseits eigene Infektionsängste bewältigen. Hinzu kommen die unterschiedliche Kooperationsbereitschaft der Patienten, die Konfrontation mit Menschen, die mehr Ängste bezüglich der Impfung als Ängste vor der eigentlichen Krankheit haben, und Patienten, die argumentativ nicht mehr erreichbar sind. Daher ist gerade bei dieser Thematik eine weiterhin gute Zusammenarbeit zwischen Hausärzten, Psychiatern und Psychotherapeuten mit niederschwelligen Zuweisungsmöglichkeiten wichtig.

Zur Unterstützung einer selbstständigen Rehabilitation nach SARS-CoV-2-bedingter Erkrankung hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Patientenbroschüre herausgegeben, welche die Behandlung durch Gesundheitsfachkräfte ergänzen kann (14).
Neue Erkenntnisse 2021 abseits von COVID-19
Abgesehen vom COVID-19-Fokus, waren im vergangenen Jahr die Entwicklung und die Anwendung schnell wirksamer Antidepressiva (rapid acting antidepressants, RAAD) ein Thema, das in Fachkreisen zunehmend diskutiert wurde. Mit Ketamin als Zusatzbehandlung bei therapieresistenter Depression steht bereits eine dieser Substanzen in der Schweiz zur Verfügung. In den USA ist Brexanolon, ein allosterischer Modulator von GABA-Rezeptoren, der mit Wochenbettdepressionen in Zusammenhang gebracht wird, bereits zugelassen. Auch diese Substanz kann – bei intravenöser Gabe – sehr schnell eintretende Stimmungsaufhellungen bewirken. Als weitere RAAD werden die sogenannten Psychedelika diskutiert. Neben anderen Psychedelika wird derzeit insbesondere Psilocybin in grösseren Studien, unter anderem an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, bei Therapieresistenz von Depressionen intensiv beforscht (15). Weiterhin diskutiert wird der Einsatz von Cannabis bei Patienten mit psychischen Erkrankungen. Es ist festzuhalten, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine klaren evidenzbasierten Informationen vorliegen, dass Cannabinoide eine signifikante Wirksamkeit bei psychischen Erkrankungen haben (16). Die Zulassung der Antikörpertherapie mit Aducanumab in den USA, die eine passive Immunisierung gegen Amyloid beta (1-42) darstellt, für die Behandlung der Alzheimer-Krankheit hat im vergangenen Jahr zu einem grossen Echo in den Medien, auch in Europa, geführt. Aducanumab greift direkt in den pathophysiologischen Prozess der Alzheimer-Erkrankung ein. Die Euphorie, die sich nach der Zulassung zum Teil entwickelte, muss jedoch gebremst werden, da die Substanz zwar zu einer Verringerung von Amyloid beta führt, die klinischen Effekte bisher aber nicht eindeutig sind. Hinzu kommt, dass die Anwendung von Aducanomab nicht frei von Nebenwirkungen ist und ein intensives Monitoring benötigt. Derzeit sind von verschiedenen Firmen weitere Substanzen, die ebenfalls in die Pathophysiologie der Alzheimer-Demenz (auch an den Tau-Aggregaten) eingreifen, in fortgeschrittener Entwicklung (17).
Ausblick für 2022
Sogar beim Zukunftsausblick müssen wir gezwungenermassen wieder auf das dominierende Pandemiethema zurückkommen. Der dringlichste Wunsch aus Sicht der Psychiatrie und der Psychotherapie für das Jahr 2022 ist, dass es gelingt, mit den ständig wechselnden Anforderungen der Coronaviruspandemie besser umzugehen und dem Individuum bessere Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen; dies betrifft sowohl den Bereich der Somatik (mittels angepasster Impfung, Entwicklung von Medikamenten zur kau-

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salen und akuten Behandlung) als auch den psychischen

Bereich (schnellerer Zugang zu psychiatrisch-psychothera-

peutischer Versorgung und zu [Long-]COVID-zentrierter

psychotherapeutischer Behandlung).

In diesem Zusammenhang wäre es aus Sicht unseres Fach-

gebiets wünschenswert, dass neben den jeweils geforderten

medizinischen Massnahmen zur Kontrolle der Pandemie auch

die Aspekte der psychischen Gesundheit als Parameter bei der

Erfassung des Ausmasses und der Folgen der zur Verfügung

stehenden Massnahmen (wie Kontaktreduktion, Schul-

schliessungen, Lockdown) eine stärkere Rolle bei der Ent-

scheidungsfindung spielen. Dies sollte bei der notwendigen

Weiterentwicklung der S1-Leitlinien für Long COVID Be-

rücksichtigung finden. Durch das zunehmende Wissen über

die Eigenschaften des Virus sowie die Möglichkeit zur Imp-

fung und zu Testungen könnte dies zunehmend möglich und

dadurch auch die derzeit vorhandene Spaltung der Gesell-

schaft abgeschwächt werden.

Es ist allerdings zu befürchten, dass es zu einer weiteren Ver-

lagerung von grundlegenden Ängsten der Menschen (existen-

zielle Ängste, Angst vor Krankheit) in Richtung nicht politik-

freier Impfängste und Kontrollängste («durch die Obrigkeit»)

kommt; dies kann durch die jetzt bereits einsetzenden wirt-

schaftlichen (z. B. Inflation) und psychosozialen Folgen noch

intensiviert werden. Dieser Entwicklung muss durch eine

schnelle und transparente Bearbeitung der Ängste, die gerade

von Psychiatern und Psychotherapeuten geleistet werden

kann, entgegengewirkt werden.

Neben der COVID-19-Thematik steht unser Fachgebiet vor

weiteren Herausforderungen. Dies betrifft vor allem die auf

den 1. Juli 2022 terminierte Einführung des Anordnungs-

modells für die psychologische Psychotherapie. Dadurch wird

es zu einer Änderung der Zusammenarbeit zwischen Psychia-

tern und psychologischen Psychotherapeuten kommen, wo-

bei bis zur geplanten Einführung noch einige wichtige

Rahmenbedingungen zu klären sind. Eine fruchtbare, inter-

disziplinäre Kooperation ist auch vor dem Hintergrund der

sich bereits seit Jahren abzeichnenden ärztlichen Nachwuchs-

problematik von grosser Bedeutung. Hier sind für 2022 und

die weiteren Jahre konstruktive und innovative Ansätze ge-

fragt.

s

Referenzen: 1. Wormstall H, Hemmeter U: Der emotionalen und psychischen Belastung
durch COVID-19 vermehrt Rechnung tragen. Ars Medici. 2021;3+4:65-68. 2. Lieb K: COVID-19 und psychische Belastungen – reziproke Interaktionen.
DGPPN-Kongress, Berlin, Vortrag am 26.11.2021. 3. Pirkis J et al.: Suicide trends in the early months of the COVID-19 pande-
mic: an interrupted time-series analysis of preliminary data from 21 countries. Lancet Psychiatry. 2021;8:579-588. 4. de Erausquin GA et al.; CNS SARS-CoV-2 Consortium: The chronic neuropsychiatric sequelae of COVID-19: The need for a prospective study of viral impact on brain functioning. Alzheimers Dement. 2021;17(6):10561065. 5. Koczulla AR et al.: S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID (Stand 12.07.2021). AWMF-Register Nr. 020/027; https://www.awmf.org/ uploads/tx_szleitlinien/020-027l_S1_Post_COVID_Long_COVID_2021-07. pdf. 6. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): infektionsschutz.de – Informationen rund um das Coronavirus. https://www. infektionsschutz.de/coronavirus/. 7. Menges D et al.: Burden of post-COVID-19 syndrome and implications for healthcare service planning: A population-based cohort study. PLoS One. 2021;16(7):e0254523; https://doi.org/10.1371/journal.pone.0254523. 8. Twenge JM, Joiner TE (2020): U.S. Census Bureau-assessed prevalence of anxiety and depressive symptoms in 2019 and during the 2020 COVID-19 pandemic. Depress Anxiety. 37(10):954-956. 9. Bendau A et al.: Ängste in Zeiten von COVID-19 und anderen Gesundheitskrisen. Nervenarzt. 2021;92(5):417-425. 10. Petzold MB et al.: COVID-19 Pandemie: Psychische Belastungen können reduziert werden. Dtsch Arztebl. 2020;117(13):648-654. 11. Santomauro DF et al.; COVID-19 Mental Disorders Collaborators: Global prevalence and burden of depressive and anxiety disorders in 204 countries and territories in 2020 due to the COVID-19 pandemic. Lancet. 2021; 398(10312):1700-1712. 12. Zerebrale venöse Sinusthrombose nach COVID-Impfung: Studie gibt Anhaltspunkte zur Therapie. Ars Medici. 2021;23:711-712; COVID-19: Haben wir die Pandemie bald überstanden? Ars Medici. 2021;21:634-636. 13. Zürcher Ärztepräsident ist gegen härtere Massnahmen: «Mit Repression macht man die Leute nicht intelligenter, man polarisiert die Gesellschaft nur noch mehr». NZZ, 26.11.2021; https://www.nzz.ch/zuerich/ coronavirus-zuerichs-oberster-arzt-ist-gegen-hartemassnahmen-ld.1657169?reduced=true. 14. Weltgesundheitsorganisation, Regionalbüro für Europa: Empfehlungen zur Unterstützung einer selbständigen Rehabilitation nach COVID-19-bedingter Erkrankung (zweite Ausgabe). https://apps.who.int/iris/ bitstream/handle/10665/345019/WHO-EURO-2021-855-40590-60116ger.pdf?sequence=1&isAllowed=y. 15. Gass P et al.: Schnell wirksame Antidepressiva – neurobiologische Wirkprinzipien. Nervenarzt. 2021; https://doi.org/10.1007/s00115-021-012257. 16. Black N et al.: Cannabinoids for the treatment of mental disorders and symptoms of mental disorders: a systematic review and meta-analysis. Lancet Psychiatry. 2019;6(12):995-1010. 17. Frölich L, Hausner L: Krankheitsmodifizierende Therapieansätze bei Alzheimer-Krankheit. Nervenarzt. 2021;92(12):1239-1248.

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