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Titel
Innere Medizin – Ich würde mir wünschen, dass wir schneller wären
Untertitel
PD Dr. Markus Schneemann, Chefarzt Klinik für Innere Medizin, Kantonsspital Schaffhausen
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Rückblick 2021/Ausblick 2022
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58868
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RÜCKBLICK 2021/AUSBLICK 2022

Innere Medizin
PD Dr. Markus Schneemann Chefarzt Klinik für Innere Medizin Kantonsspital Schaffhausen
Ich würde mir wünschen, dass wir schneller wären
Im Lauf der Coronapandemie haben sich viele Dinge verändert. Wie sieht die neue Normalität für Sie persönlich aus?
Meine Arbeit im Klinikalltag hat sich inhaltlich nicht gross verändert, bis auf die Hygienevorschriften, die sich mehrheitlich etabliert haben. Verstärkte Handhygiene, kein Händeschütteln mehr, mehr Abstand zueinander. Eine starke Auswirkung hat dies auf den Austausch unter Kollegen, zum Beispiel beim Mittagessen oder beim Informationsaustausch, der nicht mehr in grösseren Gruppen stattfindet. Mit den steigenden Fallzahlen muss man jetzt wieder verstärkt auf diese Hygieneregeln achten, auch wenn keiner mehr Lust dazu hat. Das macht vielen Mühe. Intensität und Stresssituationen haben vor allem während der Spitzen der Pandemiewellen 2020 und 2021 insgesamt stark zugenommen und belasten mich und unsere Mitarbeitenden sehr. Der Personalbestand hat sich bei uns stabilisiert. Auf ärztlicher Seite haben wir keine Abgänge zu verzeichnen. Hier scheint die Erkenntnis um einen sicheren Arbeitsplatz die Mehrbelastung aufzuwiegen. Bei der Pflege ist das Problem nicht gelöst, Abgänge sind nicht so einfach zu ersetzen. Die Folge davon zeigt sich europaweit im Rückgang der betriebenen Intensivbetten im Vergleich zum Vorjahr. Die Reserve für Beatmungsplätze im Kanton Schaffhausen ist aus dem gleichen Grund ebenfalls kleiner geworden.

Welche Veränderungen werden vermutlich langfristig bestehen bleiben?
Das Bewusstsein für die Hygiene wird sicher bestehen bleiben. Für die Maskenpflicht in Spitälern und Pflegeinstitutionen wäre dies wünschenswert, denn man hat gesehen, welch grossen Beitrag diese einfache Massnahme leistet. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Bevölkerung den Nutzen einer Impfung erkannt hat und sich der eine oder andere weiterhin impfen lässt.
Hat die Pandemie aus Ihrer Sicht auch etwas Positives bewirkt?
Man hat zum Beispiel gelernt, dass bei Fortbildungen vieles online machbar ist. Das ist zwar eine Umstellung und schlecht für den persönlichen Kontakt, spart aber auch Zeit. Ein inhaltliches Update zu Corona unter den Schweizer Infektiologen beispielsweise ist per Zoom oder ähnlichen Medien gut realisierbar. So etwas kann man online erledigen, und man muss dafür nicht in der Welt herumreisen. Positiv finde ich auch, dass sich herauskristallisiert hat, wo es den persönlichen Kontakt braucht und wo nicht. Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass die Bevölkerung gemerkt hat, dass es gewisse Berufsgruppen wie zum Beispiel die Pflege braucht, damit eine Gesellschaft wie die unsere funktioniert, in der man eine medizinische Gesundheitsversorgung möchte. Ein weiterer für mich positiver Punkt ist die Tatsache, dass die Bevölkerung und die Kollegen gemerkt haben, wie unsere Gesellschaft zusammengesetzt ist. Dass wir einen hohen Anteil an Menschen haben, die zur vulnerablen Gruppe gehören, die wir besonders schützen müssen. Allein in unserem Kanton liegt dieser Bevölkerungsanteil bei über einem Viertel.
Sind Sie mit der Impfsituation zufrieden?
Das kommt auf den Anspruch an, den man hat. Ich persönlich bin nicht zufrieden. Wenn wir, wie wir das in der Schweiz mit allem gewohnt sind, Sicherheit möchten, dann ist eine Impfquote von 70 Prozent Geimpften und 30 Prozent Nichtgeimpften zu tief. Eine Impfrate von weit über 85 Prozent wie

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in Portugal wäre dafür notwendig. In unserer Kultur scheint es jedoch schwierig zu sein, eine derart grosse Mehrheit von etwas überzeugen zu können. Das sieht man auch regelmässig bei den Abstimmungsergebnissen. Denn es gibt, wie sich gerade bei Corona zeigt, eine relativ grosse Gruppe von Menschen, die grundsätzlich sagt, dass sie sich nichts vorschreiben lassen möchte. Wenn der Druck dann höher wird, erscheint es ihnen als persönliche Freiheit, nein zu sagen. Diese Art von Freiheit wird auch politisch bewirtschaftet.
Was hat Sie verärgert?
Seit der Öffnung im Sommer 2020 nach dem Lockdown der ersten Welle hat man die Pandemie eigentlich permanent unterschätzt. Das hat sich im vergangenen Herbst mit den plötzlich ansteigenden Todeszahlen in Pflegeheimen gezeigt. Wenn ich mir die Zahlen anderer Länder ansehe, würde ich mir wünschen, dass wir schneller wären. Israel beispielsweise hat sehr schnell eine hohe Impfrate erreicht. Als man dann sah, dass die Infektionszahlen trotzdem wieder anstiegen, wurde zügig geboostert, und man konnte damit die Welle brechen. In der Schweiz ist man deutlich langsamer unterwegs, das rächt sich jetzt leider. Was mich ausserdem sehr ärgert, ist die Tatsache, dass es Fachkollegen gibt, die davon persönlich profitieren möchten, wenn sie bei der Coronapandemiebekämpfung eine andere Meinung vertreten. Das verschafft ihnen Aufmerksamkeit. Ich bin aber nicht so sicher, ob sie auch wirklich glauben, was sie vertreten. Wir haben doch alle Medizin studiert. Dass es da zu solchen Widersprüchen kommt, finde ich sehr ärgerlich.
Hat sich die Rolle der Ärzte im Gesundheitswesen während der Pandemie verändert?
Es ist vielleicht – nicht ganz so wie in der Pflege – in den Fokus gerückt, dass Ärzte bei der Bewältigung der Pandemie eine wichtige Rolle spielen. Leider geben die Ärzte aber kommunikativ kein gutes Bild ab, sie widersprechen sich zu oft aus der Sicht ihres Fachgebiets oder aus anderen Gründen. Es ist für den Laien schwierig zu erkennen, worum es sich bei einer solchen Aussage handelt. Ich glaube, die Rolle der Ärzte ist nicht gestärkt worden. Die Bevölkerung hat einfach gemerkt, dass die Akteure dieser Berufsgruppe sehr verschieden sind.
Abgesehen von COVID-19: Welche neuen Erkenntnisse fanden Sie im vergangenen Jahr interessant?
Ich bin Mitglied der Qualitätskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin. Diese Kommission hat 2 Artikel mit Vorschlägen zur Qualitätsmessung und zur Qualitätsverbesserung in der ambulanten und in der stationären Medizin erarbeitet und in der «Schweizerischen Ärztezeitung» veröffentlicht. Der Prozess, sich innerhalb dieser Gruppe, bestehend aus stationären und ambulanten Medizinern, auf gewisse Vorgehensweisen zu einigen, war sehr interessant.

Ein Punkt betraf die Kommunikation zwischen stationär und ambulant tätigen Ärzten. Aus der Diskussion resultierte der Kurzaustrittsbericht, der innerhalb von 24 Stunden beim nächsten behandelnden Arzt sein muss. Ein weiterer Punkt für die ambulante Medizin ist der jährliche systematische Medikamentencheck, der dann auch in der Krankengeschichte vermerkt wird. Eine regelmässige systematische Beratung zur Prävention beim Thema Lebensstil bezüglich Suchtmittel, Übergewicht und Stress, bei alten Menschen zusätzlich die Sturzprävention sowie eine regelmässige Beratung über das Impfen generell und darüber, welche Impfungen für den Patienten sinnvoll sind, sind weitere Punkte. Bezüglich Impfungen sollte bei Mitarbeitenden im Gesundheitswesen der Impfstatus erfasst werden, exemplarisch vor allem jener zu Hepatitis B. Man sollte auch ein Konzept haben, wie man mit jenen verfährt, die über keinen Hepatitis-B-Impfschutz verfügen. Zum Beispiel mit Titerbestimmung oder einer Nachimpfung.

Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich für das

Jahr 2022?

Ich möchte das in einen Buchtipp verpacken. Einst ein Best-

seller und jetzt etwas in Vergessenheit geraten, aber nicht

minder aktuell: das Buch über Risikoeinschätzung von Gerd

Gigerenzer mit dem Titel «Risiko – Wie man die richtigen

Entscheidungen trifft»*. Ich würde mir wünschen, dass die

Kunst der Risikoeinschätzung stärker in der ärztlichen Aus-

und Weiterbildung thematisiert würde. Der Autor führt

einem vor Augen, warum man oft dazu neigt, Tatsachen

falsch zu gewichten, und deshalb falsche Entscheidungen fällt.

Man lernt zum Beispiel, Fehlurteile aufgrund von eigentlich

klaren Testergebnissen zu vermeiden, Fallstricke bei der Risi-

koeinschätzung zu erkennen und den Nutzen einer Mass-

nahme wie zum Beispiel einer Mammografie besser abzu-

schätzen. Dieses Wissen kann auch der besseren und

kompetenteren Nutzen-Risiko-Abschätzung bei einer Imp-

fung dienen und dazu, wie sie im Verhältnis zum Nutzen einer

Cholesterinbehandlung steht. Lebensstiländerungen wie bei-

spielsweise ein Rauchstopp haben einen vielfach grösseren

Einfluss auf die Lebensqualität und die Lebensdauer als ein

Mammografiescreening oder ein PSA-Test. Das, glaube ich,

ist vielen nicht so bewusst, auch nicht in der Ärzteschaft. Des-

halb würde ich mir wünschen, dass die Risiko- oder Nutzen-

beurteilung in der Aus-, Weiter- und Fortbildung wieder stär-

ker thematisiert wird.

Ein weiterer Wunsch ist natürlich, dass die Medizinstudieren-

den, die aus den aufgestockten Studienplätzen in St. Gallen,

Luzern, Zürich und Lugano kommen und bald ihren Ab-

schluss machen, in die beiden Fachrichtungen einsteigen, bei

denen der Nachwuchsmangel am grössten ist: die Hausarzt-

medizin und die Psychiatrie. Dann würden sich die Anstren-

gungen, die man in dieser Hinsicht unternommen hat, gelohnt

haben. Man darf hoffen.

s

*Pantheon Verlag, 2. Auflage 2020

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