Transkript
EDITORIAL
Der Preis der Freiheit
«Impfen und Prävention» lautet der Schwerpunkt dieser letzten Ausgabe von ARS MEDICI im Jahr 2021, der somit zum wohl meistdiskutierten Thema in der aktuell dramatisch verschärften Coronalage passt. Beabsichtigt war das nicht. Zwar hatte niemand in der Redaktion für diesen Herbst einen kontinentalen «Freedom Day» erwartet, die aktuell entfesselte Wucht des Geschehens allerdings ebenso wenig. Nun haben sich Redaktoren ja beruflich zunächst einmal um ihr mediales Produkt zu kümmern und nicht etwa, wie die meisten von Ihnen, um die Aufgabe, den Booster in die Arme der Menschen zu bringen. Und auch nicht, wie die gewählten Volksvertreter, darum, rechtzeitig die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit Letzteres neben vielem anderen in dieser Pandemie auch funktionieren kann. Da indes wären, vorsichtig formuliert, schon etwas mehr Weitblick, Pragmatismus und Entschlossenheit wünschenswert. Stattdessen wähnte sich hierzulande wie auch in Österreich und in Deutschland noch bis weit in den Oktober die Regierung samt ihrem nach «Normalität» darbenden Volk selbiger sehr nah. Sogar Mediziner und andere Experten stimmten in den Kanon ein – nachzulesen nicht nur bei «Doktor Stutz» (1) ... Die in vorangegangenen Wellen miterlebte Infektionsdynamik und ihre Bedrohung für das Gesundheitssystem schienen dank einer vermeintlich substanziellen Impfquote allemal gebannt. Beides kehrte jedoch, inzwischen noch befeuert durch das Auftauchen einer neuen «variant of concern» des Virus, jäh zurück, traf auf ein erneut unvorbereitetes, in seinen Teilinteressen mehr denn je auseinanderdriftendes Gefüge und macht mit seinem inzwischen nahezu täglich zunehmenden Eskalationsgrad die Statements von gestern schon heute – und mithin womöglich auch die hier geschriebenen Sätze, noch bevor sie gelesen werden – irrelevant. Der Verdruss ist allenthalben gross, und die vermeintlich Schuldigen sind schnell angeprangert. Doch bei aller berechtigten Kritik an den «Verantwortlichen», allen voran den noch immer
zaudernden Politikern, kann sich wieder einmal auch der ein-
zelne Bürger der eigenen Verantwortung nicht entziehen. Nir-
gendwo in Europa sind die Rate der Menschen über 12 Jahre, die
sich bis anhin nicht gegen COVID-19 haben impfen lassen, ob-
wohl sie es könnten, und offenbar auch die Anzahl der diesbe-
züglich «querem» Gedankengut aufsitzenden Individuen so
hoch wie in den deutschsprachigen Ländern. Der an der Uni Basel
forschende deutsche Soziologe Oliver Nachtwey befasst sich
seit geraumer Zeit mit diesem Phänomen und benennt neben
den in allen drei Staaten weitverbreiteten, eher linken, von eso-
terisch-anthroposophischen Merkmalen geprägten Milieus, die
auf eine zunehmend rechte Politisierung treffen, die föderalisti-
sche Struktur, der eine latente Skepsis dem Bund gegenüber in-
newohnt, als mitursächlich (2). Keine günstige Konstellation in
der Krise, wo rasches, kollektives, zielgerichtetes Handeln nach
klaren Vorgaben statt kleinteiliger Diskussionen gefragt ist, um
Leben zu retten … Erschwerend kommt hinzu, dass der Mensch
Gefahren umso eher als solche (an-)erkennt, je mehr sie ihn
persönlich betreffen. Diesbezüglich war man in Italien, Frank-
reich, Spanien oder Portugal schon frühzeitig in dieser Pandemie
kollektiv wie individuell ganz anders vorgeprägt als in D-A-CH,
um die Impfung nicht nur als Möglichkeit zum eigenen Schutz,
sondern auch als notwendigen solidarischen Akt zu begreifen.
Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie die anderer bedroht.
Deshalb wäre ein Impfobligatorium (nicht der Impfzwang,
wohlgemerkt) folgerichtig, um in kommenden Infektionswellen
die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, wie
auch der Berner Medizinethiker Mathias Wirth sagt (3). Die ak-
tuelle Welle dagegen lässt sich allenfalls noch durch rasche,
allgemeine Kontaktbeschränkungen brechen. Doch dem steht
nun die Wut vieler Geimpfter auf «die Impfverweigerer» im
Wege: Sich deretwegen fortan wieder einschränken zu müssen,
weist bereits jetzt mancher empört von sich. Spätestens wenn
aus ihm noch folgte, Impfgegnern medizinische Hilfe zu versa-
gen, falls sie schwer erkranken, würde dieser Furor direkt in Bar-
barei münden. So wird selbst die im europäischen Vergleich
wohlhabendsten Länder nun wohl erst die Realität schmerzlich
lehren, dass nur gelebte Solidarität eines jeden einen friedlichen
Weg aus der Not für alle weisen kann. Was bleibt, ist zu hoffen,
dass dieser Lernprozess schnell erfolgt, denn sein Preis ist jetzt
schon immens – an jedem einzelnen Tag.
s
Ralf Behrens
1. Wann kommt der Schweizer Freedom-Day? Sprechstunde Doktor Stutz, 7.10.2021; https://www.doktorstutz.ch/wann-kommt-der-schweizerfreedom-day/.
2. Impfverweigerer/Soziologe Nachtwey: Mit sachlicher Aufklärung sind viele nicht zu erreichen. Deutschlandfunk 16.11.2021; https://www. deutschlandfunk.de/soziologe-nachtwey-zu-impfverweigerern-100. html.
3. «Aus ethischer Sicht ist die Impfpflicht momentan die sinnvollste Option». Watson, 17.11.2021; https://www.watson.ch/schweiz/ international/349649525-medizinethiker-eine-impfpflicht-istmomentan-die-sinnvollste-option.
ARS MEDICI 24 | 2021
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