Transkript
FORTBILDUNG
Neue Zecke, alte Krankheiten
Update zu zeckenübertragenen Erkrankungen
Jedes Jahr kommt es in der Schweiz zu etwa 10 000 neuen Fällen von Borreliose. Jährlich werden trotz aktiver Immunisierung auch Hunderte von Patienten mit Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) gemeldet. Mit der Borreliose zählt die FSME in Europa zu den häufigsten von Zecken übertragenen Infektionskrankheiten. Schuld daran sind heimische Zecken. Als besonders gefährliche Krankheitsüberträger gelten ihre tropischen Artgenossen, die derzeit auch unsere Breiten für sich entdecken.
Uta Meyding-Lamadé, Eva Maria Craemer
Die Zeckenart Hyalomma marginatum, die sich sonst eher in subtropischen Gefilden (Nordafrika, Asien) wohlfühlt, wurde erstmals 2019 in Deutschland entdeckt. Hyalomma-Zecken haben – im Gegensatz zum heimischen Holzbock – Augen (griechisch: hyalos = Glas; omma = Auge). Sie sind sehr schnelle und sich optisch orientierende aktive Jäger, ihren potenziellen Wirt verfolgen sie über Hunderte von Metern. Hyalomma marginatum ist Überträger verschiedenster Krankheitserreger, unter anderem des Krim-Kongo-Hämorrhagisches-Fieber-Virus (CCHFV) und Babesien, einzellige Parasiten, die Erythrozyten infizieren und dann zu einer malariaähnlichen Erkrankung mit Hämolyse führen können und von Babesien, einzelligen Parasiten, die Erythrozyten infizieren und dann zu einer malariaähnlichen Erkrankung mit Hämolyse führen können.
Neuroborreliose
Epidemiologie und Erreger Die Borreliose zählt zu den häufigsten durch Zecken übertragenen Infektionskrankheiten in Europa. Sie wird durch
MERKSÄTZE
� Für die Diagnose einer Borreliose und einer FrühsommerMeningoenzephalitis (FSME) ist die Liquoruntersuchung entscheidend.
� Die Borreliose verläuft in 3 Stadien, die nicht alle und nicht der Reihe nach durchlaufen werden müssen.
� Die FSME beginnt meist mit unspezifischen grippalen Symptomen, später manifestiert sich eine Meningitis, eine Meningoenzephalitis oder eine Meningoenzephalomyelitis. Bei Kindern bleibt die FSME oft unerkannt.
� Eine FSME sollte grundsätzlich zu jeder Jahreszeit bei der Differenzialdiagnose einer Meningoenzephalitis trotz saisonalen Auftretens in das klinische Bild miteinbezogen werden.
� Eine Borreliose wird antibiotisch behandelt, für die FSME gibt es keine kausale Therapie.
Bakterien der Gattung Borrelia burgdorferi sensu lato, Komplex B, verursacht. Zu diesem Komplex gehören Borrelia burgdorferi, spielmanii, garinii und afzelii. Mehr als 30 Borrelienarten sind bekannt. Anders als in einigen deutschen Bundesländern besteht in der Schweiz seit 2003 keine Meldepflicht für die Borreliose mehr, weshalb hierzulande auch keine genauen Inzidenzzahlen angegeben werden können. Für Deutschland schätzt man die jährliche Inzidenz der Borreliose anhand der Meldedaten auf 26 bis 41 pro 100 000 Einwohner – mit höheren Zahlen in Endemiegebieten. Ein Erythema migrans ist in 80 bis 90 Prozent der Fälle die häufigste Manifestation einer Borreliose (Stadium 1, vgl. Tabelle 1). Tage und Wochen nach dem Zeckenstich breitet sich die Wanderröte zum Teil noch erheblich aus. In 10 bis 30 Prozent der Fälle geht sie mit unspezifischen Allgemeinsymptomen einher. Im Anschluss an die lokale Infektion kann es zu einer disseminierten Borrelieninfektion kommen. Die Manifestation wird in die Stadien der frühen (Stadium 2) und der späten disseminierten Neuroborreliose (Stadium 3) eingeteilt. Zur Unterscheidung dient die Symptomdauer von mehr als 6 Monaten. Der Verlauf einer Neuroborreliose ist variabel, auch muss sie nicht alle Stadien der Reihe nach durchlaufen. Das typische Bild einer Polyradikulitis ist die häufigste Manifestation einer frühen Neuroborreliose bei Erwachsenen, geprägt von zum Teil plötzlich beginnenden, über Wochen persistierenden radikulär oder segmental betonten Schmerzen. Bei Kindern wird am häufigsten eine isolierte Meningitis ohne Symptome einer Radikulitis beobachtet. Die Symptomatik einer chronischen Neuroborreliose entwickelt sich über Monate bis Jahre.
Diagnose und Therapie Entscheidend für die Diagnosesicherung ist die Liquordiagnostik. Im Liquor finden sich typischerweise eine lymphozytäre Pleozytose, erhöhtes Gesamteiweiss, eine Blut-LiquorSchranken-Störung sowie eine intrathekale Immunglobulinsynthese. Serologisch finden sich borrelienspezifische Immunglobulin-M-(IgM-)Antikörper ab der 3. Woche und IgG-Antikörper ab der 6. Woche. Beweisend für eine Neuroborreliose ist der spezifische Antikörperindex (ASI). Zunächst sollte ein ELISA (enzyme-linked immunosorbent assay)
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Tabelle 1:
Stadien der Borreliose1
Kernaussage: Borrelieninfektionen verlaufen häufig asymptomatisch.
Stadium I
Stadium II
Lokale Infektion
Disseminierte Infektion
Erythema migrans
Meningoenzephalitis, Meningitis, periphere
Fazialisparese, Enzephalitis, Myelitis,
zerebrale Arteriitis, Borrelienlymphozytom,
multiple Erytheme, Arthritis, Myositis,
Myokarditis, Perikarditis, Pankarditis, Uveitis
1 Symptome ohne Wertigkeit aufgelistet
Stadium III Spätmanifestation Acrodermatitis chronica atrophicans, Enzephalitis, Enzephalomyelitis, Polyneuropathie, zerebrale Arteriitis, Mono- oder Oligoarthritis
Tabelle 2:
Antibiotikatherapie der Neuroborreliose und des Erythema migrans1
Klinik
Antibiose
Erythema migrans
Doxycyclin
Amoxicillin
alternativ:
Cefuroximaxetil
Azithromycin
Frühe Neuroborreliose
Doxycyclin
Ceftriaxon
Cefotaxim2
Penicillin G
Chronische Neuroborreliose
Ceftriaxon
Cefotaxim2
Penicillin G
Dosierung 2-mal 100 mg p.o. 3-mal 500–1000 mg p.o. 2-mal 500 mg p.o. 2-mal 250 mg
2- bis 3-mal 100 mg/tgl. p.o. 2 g/tgl. i.v. 3-mal 2 g/tgl. i.v. 4-mal 5 Mio. E/tgl. i.v. 2 g/tgl. i.v. 3-mal 2 g/tgl. i.v. 4-mal 5 Mio. E/tgl. i.v.
1 modifiziert nach S3-Leitlinie Neuroborreliose der Deutschen Gesellschaft für Neurologie 2 in der Schweiz nicht mehr im Handel
Behandlungsdauer 14 Tage 5–10 Tage
14 Tage
14–21 Tage
durchgeführt werden, anschliessend ein Western Blot zur sicheren Diagnose. Bei leitliniengerechter antibiotischer Behandlung (Tabelle 2) erholen sich die Patienten in der Regel rasch und vollständig.
Frühsommer-Meningoenzephalitis
Epidemiologie und Erreger Das Frühsommer-Meningoenzephalitis-Virus (FSME-V) gehört zur Familie der Flaviviridae sowie zur Gattung der Arboviren und wird in 3 Subtypen (westlich, östlich, fernöstlich) unterteilt . Morphologisch gleicht das FSME-V dem Gelbfiebervirus; die Übertragung erfolgt durch Zecken (Ixodida). Bei der sogenannten Blutmahlzeit werden die im Speichel vorkommenden Viren auf den Wirt übertragen. Dabei kann die Zecke aber auch Krankheitserreger aufnehmen und somit ebenfalls als Wirt fungieren. Zunächst findet die Vermehrung des FSME-V lokal in Endothelzellen, Makrophagen, Langerhans-Zellen und Granulozyten statt. Die Ausbreitung des Erregers über das lymphatische System ins Blut bezeichnet man als erste Virämie. Die weitere Vermehrung im retikuloendothelialen System beschreibt die zweite Virämie. Das FSME-V kann von dort aus über das Gefässendothel oder durch Infektion von freien, mobilen Zellen (z. B. Makrophagen, dendritische Zellen) in das Zentralnervensystem (ZNS) gelangen.
Der Holzbock (Ixodes ricinus) ist der häufigste Überträger des FSME-V in Westeuropa, in Osteuropa ist es die Taigazecke (Ixodes persulcatus). Als weiterer Überträger des FSME-V wird seit 2017 die Auwaldzecke (Dermacentor reticulatus) vermutet. Bei der FSME handelt es sich um eine saisonale Erkrankung von März bis Oktober mit Erkrankungsgipfel von April bis Juli. Das saisonale Auftreten würde sich durch die Auwaldzecke als potenzieller Überträger verschieben, wozu milde Winter beitragen könnten. Die häufigste Übertragung des FSME-V erfolgt durch Zecken (oder infizierte Rohmilch). Nach einer durchschnittlichen Inkubationszeit von 10 (5 bis 28) Tagen beginnt die Erkrankung in rund 70 Prozent der Fälle mit unspezifischen grippalen Symptomen (Sommergrippe) wie Fieber, Kopfschmerzen, katarrhalischen und gastrointestinalen Beschwerden. Serologie und Liquor sind zu diesem Zeitpunkt häufig noch unauffällig. Zu einem erneuten Fieberanstieg kommt es nach kurzzeitiger Besserung der Beschwerden, die sich in der Hälfte der Fälle als Meningitis, in etwa 40 Prozent als Meningoenzephalitis und in etwa 10 Prozent als Meningoenzephalomyelitis manifestieren. Die reine Meningitis unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen viralen Meningitiden, häufig ist das Allgemeinbefinden stärker beeinträchtigt, die Kopfschmerzen sind sehr intensiv, und das Fieber ist ausgeprägter.
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Das Bild der Meningoenzephalitis ist sehr variabel. Das Spektrum reicht von fokalneurologischen Symptomen wie Ataxie, Lähmungen von Extremitäten und Hirnnerven sowie Bewusstseinsstörungen bis zum Delir. Auch symptomatische epileptische Anfälle können auftreten. Häufiger zeigt die Meningoenzephalitis zerebelläre oder zentral okuläre Symptome. Primär manifestiert sich die Meningoenzephalomyelitis im Bereich der Vorderhörner des Rückenmarks und geht mit schlaffen Lähmungen einher. Häufig begleitet die Meningoenzephalomyelitis eine Hirnstammenzephalitis, weshalb sich meist auch Schluck- und Sprachstörungen, Lähmungen der Gesichts- und Halsmuskulatur sowie Atemlähmungen zeigen. Die Meningoenzephalitis kann mit schweren Akutverläufen einhergehen, die ein Guillain-Barré-ähnliches Bild auslösen und eine spezialisierte neurologische, intensivmedizinische Behandlung benötigen. In der Regel heilt sie verzögert aus. Reine Meningitiden verlaufen dagegen gutartig. Mit zunehmendem Alter bleiben vermehrt Defizite zurück, und der Verlauf ist schwerer. Die Letalität der FSME variiert innerhalb Europas von 1,5 bis 3,6 Prozentt, bei einer meningoenzephalomyelitischen Manifestation liegt sie bei 30 Prozent. In 10 bis 30 Prozent der Fälle treten bei Kindern grippeähnliche Symptome mit Fieber, Kopfschmerzen und Erbrechen auf, bei 6 bis 10 Prozent kommt es nach einem symptomfreien Intervall zu zentralnervösen Zeichen mit Apathie, Koma oder Krampfanfällen. Bei Kindern ist der Verlauf einer Meningitis oft unkompliziert. Selten kommt es zu Doppelinfektionen mit FSME-V und Borrelia burgdorferi s. l. mit schwerwiegenden Verläufen.
Diagnose und Therapie Die Diagnose wird bei Verdacht durch den Liquor gestellt. Hier zeigen sich eine Pleozytose sowie ein erregerspezifischer Antikörperindex (AI). Im Blut finden sich meist eine Leukozytose, eine Beschleunigung der Blutsenkungsgeschwindigkeit und/oder ein erhöhtes C-reaktives Protein (CRP). Die FSME wird letztlich durch den ASI im Liquor diagnostiziert, der spätestens 4 Wochen nach Symptombeginn positiv ist. Eine durchgemachte Infektion mit dem Virus lässt sich serologisch durch IgG- und IgM-Antikörper nachweisen. Etwa 2 bis 4 Wochen nach einem Zeckenstich finden sich zunächst spezifische IgM-Antikörper, 1 bis 2 Wochen danach spezifische IgG-Antikörper. Aufgrund der hohen Verwandtschaft mit anderen Flaviviren sind hier Kreuzreaktionen zu beachten; es können isolierte oder nur leicht erhöhte IgM-Antikörper zu finden sein.
Eine signifikante Erhöhung der IgM-Antikörper während der
akuten Erkrankungsphase kann diagnostisch ein wertvoller
Hinweis sein, sie gilt aber nicht als Beweis für eine Infektion.
Nach 1 bis 4 Wochen sollte eine erneute Bestimmung der
IgG-Antikörper erfolgen. Bei Immundefekten/Immunosup-
pression lassen sich keine IgM-Antikörper nachweisen. Hier
kann man den signifikanten Konzentrationsanstieg von
IgG-Antikörpern 2 Wochen nach Symptombeginn, die Be-
stimmung der intrathekalen Synthese spezifischer IgG-Anti-
körper im Liquor, den RNA-Nachweis mittels Liquor-PCR
(polymerase chain reaction) oder die Bestimmung der Avidi-
tät von IgG-Antikörpern heranziehen. Die Liquor-PCR ist
meist nur in der Frühphase der Erkrankung nützlich, falls
noch keine Antikörper nachweisbar sind und keine Pleozy-
tose im Liquor vorhanden ist. Ein durchgemachtes Dengue-
Fieber, Gelbfieber und eine Japanische Enzephalitis sowie der
Zustand nach einer Infektion mit diesen und weiteren Flavi-
viren und vorherige Impfungen gegen FSME erschweren die
Interpretation der nachweisbaren IgM/IgG-Antikörper gegen
FSME-V. Der Nachweis der intrathekalen Synthese von
IgG-Antikörpern im Liquor oder von Antikörpern gegen das
nicht strukturelle Protein 1 (NS1) im Serum kann in solchen
Fällen hilfreich sein.
Eine kausale Therapie gibt es nicht, behandelt werden die
grippeartigen Symptome. Bei einem schweren Verlauf ist eine
spezialisierte neurologische, intensivmedizinische Behand-
lung obligat und prognoseentscheidend. Die Prognose ist
abhängig von Alter und Vorerkrankungen. Patienten mit
Meningoenzephaloradikulitis (MER) sind schwerer betroffen
als solche mit einer isolierten Meningitis oder einer Menin-
goenzephalitis. Eine MER erfordert eine intensivmedizinische
Behandlung mit maschineller Beatmung. Als Risikofaktor für
eine MER gilt der Diabetes mellitus. In einer Studie zur Lang-
zeitprognose wurde das männliche Geschlecht als Risiko-
faktor für einen schwerwiegenden Verlauf identifiziert.
Die FSME gehört in der Schweiz wie auch in Deutschland zu
den meldepflichtigen Erkrankungen: Jeden direkten oder in-
direkten serologischen Nachweis eines FSME-V muss das
Labor namentlich melden.
s
Prof. Dr. med. Uta Meyding-Lamadé, Eva Maria Craemer Krankenhaus Nordwest, Klinik für Neurologie D-60488 Frankfurt
Interessenlage: Die Autorinnen haben keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «doctors today» 3/2021. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorinnen.
Weiterführende Informationen
https://zecken-stich.ch http://www.zeckenliga.ch Konsiliarlaboratorium für Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), Robert-Koch-Institut, Berlin Nationales Referenzlabor für durch Zecken übertragene Krankheiten (NRL-ZüK), Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, Standort Jena
Weiterführende Literatur 1. Kaiser R et al.: Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), S1-Leitlinie,
2020; in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 30.4.2021). 2. Lenhard T et al.: Predictors, neuroimaging characteristics and long-term outcome of severe European tick-borne encephalitis: a prospective cohort study. PLoS One 2016; 11(4): e0154143. 3. Rauer S et al.: Neuroborreliose, S3-Leitlinie, 2018; in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 30.4.2021).
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