Transkript
DOCINSIDE
«Ich habe Datenbank und Website in einer Nacht des Ärgers in eigener Initiative aufgebaut»
DOCINSIDE hat mit dem engagierten Spitalapotheker Dr. pharm. Enea Martinelli gesprochen, der nicht warten wollte, bis andere das Problem lösen, sondern auf eigene Faust eine Informationsplattform auf die Beine stellte.
DOCINSIDE: Herr Martinelli, Sie haben die Datenbank Drugshortage.ch aufgebaut, die alle Präparate aufführt, die zurzeit oder absehbar in naher Zukunft schwer oder gar nicht erhältlich sind. Wann wurden Sie erstmals auf das Problem Lieferengpässe aufmerksam? Dr. pharm. Enea Martinelli: Lieferengpässe gab es schon immer. Das gehört leider zum Alltag. Aber die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Erstmals politisch aktiv wurde ich als damaliger Präsident der GSASA (Schweizerischer Verein der Amts- und Spitalärzte) bei der Einführung des Heilmittelgesetzes respektive dessen Auslegung durch Swissmedic Anfang der 2000er-Jahre. Die Regulierungen waren damals so, dass grosse administrative Hürden aufgebaut wurden. Für jeden Import war ein Antrag zu stellen. Man stelle sich das heute vor. Es ging ein paar Jahre, bis die Situation bereinigt war. Ohne diese Gesetzesanpassung wären wir heute in der Organisation des Nachschubs chancenlos. Das hat sich insbesondere während der Coronakrise gezeigt. Aber es bestehen leider immer noch Hürden, wenn es um die Abrechnung geht. Es ist schade, dass im BAG ein Problem oft nur partiell bearbeitet wird und nicht alle Aspekte berücksichtigt werden. Wenn man ein Produkt als Ersatz für ein fehlendes importieren oder herstellen muss, dann muss es ja bezahlt werden. Heute müssen wir Anträge schreiben, die mit
Die Einsicht, dass Lieferengpässe bei Medikamenten grössere Auswirkungen haben, als wenn Computerchips oder blaue Socken fehlen, reift sehr langsam.
grosser Wahrscheinlichkeit abgelehnt werden, weil die Krankenkassen keine Übersicht darüber haben, was tatsächlich nicht lieferbar ist.
Foto: zVg.
Zur Person
Dr. pharm. Enea Martinelli ist Chefapotheker der Spitäler fmi AG (Interlaken), Geschäftsführer der Apotheke Weissenau GmbH und Mitinhaber der Martinelli Consulting GmbH, die unter anderem die Informationsplattform Drugshortage.ch entwickelte. Enea Martinelli ist in verschiedenen Institutionen aktiv, so ist er u. a. Vorstandsmitglied des Schweizerischen Vereins der Amts- und Spitalapotheker (GSASA) sowie Vizepräsident von Pharmasuisse.
Warum denken Sie, haben Lieferengpässe lange Zeit keine Beachtung gefunden? Martinelli: Früher waren vor allem die Spitäler, das heisst in erster Linie Akuttherapien und keine chronischen Therapien betroffen. Bei Akuttherapien sind Lieferengpässe anders zu überbrücken. Man muss dort nicht laufende Therapien umstellen, sondern entscheidet vor der Therapie, was man tut. Das ist zwar nicht unbedingt einfacher, hat aber im Alltag eine andere Bedeutung. Seit etwa 5 Jahren stellen wir eine starke Zunahme von Lieferengpässen bei den ambulanten Therapien fest. Die Problematik dort: Man muss eine laufende Therapie umstellen. Zum Teil über Jahre hinweg bewährte Therapien müssen angepasst werden. Wenn nur die Packungsgrösse ändert, dann ist das – bis auf die Bezahlung – einfach. Wenn jedoch Wirkstoffe ersetzt werden müssen, dann erfordert das in jedem Einzelfall eine Neubeurteilung der Therapie. Die Einsicht, dass Lieferengpässe bei Medikamenten grössere Auswirkungen haben, als wenn Computerchips oder blaue Socken fehlen, reift sehr langsam. Die Entscheidungsträger haben Mühe zu verstehen, was es für eine Epileptikerin bedeutet, wenn sie einen einzigen
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Tag auf ihr Medikament verzichten muss. Hauptsache, der Preis stimmt … das steht in der Diskussion im Vordergrund. Ob es das Medikament überhaupt gibt, scheint völlig sekundär. Es scheint vergessen zu gehen, wofür genau die Medikamente überhaupt eingesetzt werden.
Ich hatte schlicht genug davon, immer wieder von neuen Lieferengpässen überrascht zu werden.
Warum haben gerade Sie sich dieses Themas angenommen? Martinelli: Weil es mich nervt, immer das Feigenblatt für ein Problem zu sein, das eigentlich im Hintergrund verursacht wird. Die «Schuldigen» waren immer wir, die Letzten in der Lieferkette. Die Aussage «Habt ihr’s eigentlich nicht im Griff?» wollte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich kann mich gut an eine Schlagzeile in Österreich erinnern, als der Gesundheitsminister, auf das Thema angesprochen, sagte, dass die Spitalapotheken einfach schlecht organisiert seien. Dabei tun wir unser Möglichstes, Lieferengpässe zu verhindern, die bis zu den Patientinnen und Patienten durchschlagen. Das gelingt zum Glück oft, sodass kaum jemand merkt, was wir im Hintergrund dafür tun. Was mich auch nervt, sind Leute bei Interpharma und bei Santésuisse, die ohne das notwendige Wissen behaupten, es sei alles kein Problem. Da platzt mir jeweils der Kragen. Woher wollen sie das wissen? An der BWL-Liste kann’s jedenfalls nicht liegen. Dass immer wieder darauf verwiesen wird, um zu belegen, dass alles kein Problem ist, zeigt nur, dass sie keine Ahnung haben von dem, worüber sie sprechen. Auch darum braucht es eine möglichst umfassende Übersicht. Ohne Übersicht über die Gesamtlage geht nichts. Ich hätte kein Problem damit, wenn jemand anders sich darum kümmerte. Und ich bin sicher nicht allwissend, aber immerhin überblicke ich die Situation. Sie merken: Für das Thema Transparenz bei Lieferengpässen engagiere ich mich leiden-
Es ist naiv zu glauben, dass die Generikaanbieter voneinander unabhängige Lieferanten im Hintergrund haben. Das ist eben gerade nicht so.
schaftlich. Deshalb stört es mich, wenn Leute aus dem Bauch heraus Dinge behaupten, die sie nur vom Hörensagen kennen. Auch darum geht’s bei Drugshortage.ch: Ich möchte zur Transparenz beitragen und von Behauptungen weg zu fundierten Aussagen kommen. Auch das Thema einfach als «internationales Problem» abzutun, dessen Lösung nicht bei uns liegt, zeigt, dass der Wille fehlt, wenigstens das anzugehen, was man in der Schweiz tun kann. Ich meine damit nicht die Wirkstoffproduktion in der Schweiz, sondern die Einzelfallbetrachtung.
Wie entwickelten Sie die Website und die Datenbank? Erhielten Sie in irgendeiner Form (logistisch, technisch, finanziell) Unterstützung von offizieller Seite – BWL, BAG, Pharmaindustrie, Ärzteschaft, Apothekern? Martinelli: Ich habe Datenbank und Website in einer Nacht des Ärgers in eigener Initiative aufgebaut. Zu Beginn ohne jegliche Unterstützung – man sieht’s der Website heute noch an. Ich hatte schlicht genug davon, immer wieder von neuen Lieferengpässen überrascht zu werden. Ich habe den Aufbau aus eigener Tasche finanziert und die Website – unter Einspannung der Familie – selbst betrieben.
Dachten Sie dabei auch an die Entwicklung eines profitablen Geschäftsmodells? Martinelli: Es ist nicht so einfach, ein Geschäftsmodell dazu zu entwickeln. Wichtig wäre ja, dass möglichst viele Firmen ihre Lieferengpässe selbst melden. Ein Sponsoring wollte ich nicht. Die Seite sollte neutral sein. Heute bezahlen Firmen, die mitmachen, den bescheidenen Beitrag von 400 Franken pro Jahr und pflegen die Daten selbst ein. Dafür haben sie exklusiven Zugang auf ihre Daten. Die 400 Franken dienen auch dazu, die Konkurrenz einzupflegen, damit nicht meldende Firmen keinen Vorteil haben. Ausserdem gibt es Privatpersonen, die ab und zu eine Spende machen. Dafür bin ich sehr dankbar. Alles Geld fliesst in den Unterhalt der Website. Kostendeckend ist sie trotzdem bei Weitem nicht. Es ist bis heute ein idealistisches Projekt geblieben. Bei den Verbänden habe ich nie um Unterstützung nachgefragt. Auch beim Bund nicht. Ich stelle die Daten für wissenschaftliche Auswertungen kostenlos zur Verfügung. Erst wenn die Daten in Verordnungssysteme oder in Apotheken-POS integriert werden, wird’s kostenpflichtig.
Mit was für einem Aufwand war der Aufbau der privaten Website Drugshortage.ch verbunden? Martinelli: Im Hinblick auf die Programmierung war der Aufwand relativ überschaubar. Ich betreibe ja noch andere Websites, vor allem für unsere internen und externen Kunden. Dort verwenden wir elektronische Arzneimittellisten mit Zusatzinformationen. Die Basis war deshalb schon da. Es ging auch nicht darum, eine möglichst schöne Website zu erstellen, sondern eine funktionelle. Wie gesagt: Man merkt es der Site an; ich bin ja Spitalapotheker und nicht Programmierer. Würde ich mehr anstreben, brauchte es Investitionen, und ich müsste Geld sammeln. Und das ist mir zuwider. Zurzeit investiere ich jede Woche 2 bis 3 Stunden in die Datenaktualisierung und den Unterhalt der Website. Früher habe ich meine Kinder dafür eingespannt, aber die sind mittlerweile aus dem Haus. Die Uni Genf hat kürzlich für ein Projekt den Wert meiner Datenbank auf rund 130 000 Franken geschätzt. Das dürfte, wenn man den Aufwand der vergangenen 6 Jahre betrachtet, etwa hinkommen.
Das Problem von Lieferengpässen ist ja, wie die Coronakrise zeigte, kein rein schweizerisches. Ist es sinnvoll, es national zu lösen, oder braucht es dazu internationale Kooperation und Koordination? Gibt es die? In welcher Art? Martinelli: Natürlich ist es in erster Linie ein internationales Problem, das man nur mit Kooperation und internationaler Koordination lösen kann. Nur, die Türen zur EU sind uns in
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DOCINSIDE und Drugshortage.ch
Auf der von Ärztinnen und Ärzten aufgebauten Plattform DOCINSIDE (www.docinside.ch) finden Sie alle relevanten Informationen über Produkte und ihre Darreichungsformen, die in irgendeiner Weise von Lieferengpässen («drugshortage») betroffen sind. Diese Dienstleistung wird ermöglicht durch eine enge Zusammenarbeit mit der Website Drugshortage.ch der Martinelli Consulting GmbH. Wir danken Dr. Martinelli für sein Vertrauen in unsere Plattform und danken für die Kooperation – sicher im Namen aller in Praxis und Kliniken tätigen Ärzte und Ärztinnen sowie Pharmazeuten und Pharmazeutinnen.
weiten Teilen verschlossen. Wir können das internationale Problem nicht allein lösen. Andererseits: Sich des Themas mit der Ausrede der internationalen Dimension zu entledigen, greift deutlich zu kurz. Es gibt auch eine grosse nationale Komponente. Das hängt mit der Grösse unseres Marktes zusammen. Ein aktuelles Beispiel: Aldactone® (Spironolacton) fehlt teilweise in der Schweiz. In Deutschland gibt es Generika, in der Schweiz hingegen kein einziges. Offenbar ist der Markt dafür zu klein. Das geht öfter so: Es «verschwinden» immer wieder wichtige Medikamente und stehen in der Schweiz nicht mehr zur Verfügung. Man könnte auf ein Marktversagen schliessen, aber effektiv ist es ein Regulierungsversagen. Insbesondere weil es bei den zuständigen Behörden offensichtlich niemand interessiert. Man stempelt die Leute, die auf das Problem hinweisen, lieber als «Pfründen-» oder als «Preisverteidiger» ab. Das ist wesentlich einfacher, als zur Problemlösung beizutragen. Das Problem verschwindet leider nicht durch Schlagworte.
Welches sind die wichtigsten Gründe dafür, dass ein Medikament nicht mehr erhältlich ist? (Beispiele: schon vor Corona Ranitidin, während Corona Antibiotika, Propofol u. a.) Martinelli: Es gibt verschiedene Gründe. Zum einen in einer Pandemie natürlich den hohen Bedarf weltweit. Die Pharmaproduktion ist äusserst komplex, man kann nicht von heute auf morgen die Produktionsmengen erhöhen. In Europa schon
gar nicht, wo nicht ausgelastete Werke als unrentabel gelten. Sie produzieren schon in normalen Zeiten rund um die Uhr und haben deshalb keine freien Kapazitäten, wenn es darum geht, einen verzehnfachten Bedarf innert Kürze aufzufangen. Zum anderen spielen die Patente eine Rolle. Ist das Patent abgelaufen, werden Wirkstoffe gehandelt wie sonstige Rohstoffe auch. Der Preiskampf ist ruinös, zudem unterstützt zum Beispiel China die heimische Industrie massiv mit staatlichen Fördermitteln. Ein Beispiel: Kostet ein Originalpräparat 100 Dollar, gibt es nach Auslaufen des Patents 20 Anbieter, die das Medikament für 50 Dollar offerieren. Wenn von denen einer höhere Marktanteile anstrebt, bietet er es für 25 Dollar an. Das geht immer so weiter, bis das Medikament für 2 Dollar zu haben ist und nur noch ein einziger Hersteller übrig bleibt. Wenn der dann ein Problem mit der Herstellung bekommt, ist der gesamte Weltmarkt betroffen. Genau das erleben wir im Moment bei den Sartanen. Es ging mit Valsartan los. Das provozierte einen kurzfristig höheren Bedarf bei den anderen Sartanen. Mittlerweile erleben wir das Gleiche mit Metformin und anderen Sartanen. Oder nehmen Sie die Antiepileptika Levetiracetam und Lamotrigin. Dort waren es europäische Hersteller, die die Produktion aus ökonomischen Gründen einstellten. Die asiatischen Lieferanten waren kurzfristig nicht in der Lage, den Markt zu bedienen.
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Es ist naiv zu glauben, dass die Generikaanbieter voneinander unabhängige Lieferanten im Hintergrund haben. Das ist eben gerade nicht so. Hat einer ein Problem, haben es häufig auch andere. Gerade weil das Verhältnis von Wirkstoffherstellern zu Generikafirmen 1:1000 ist.
Für die Firmen hat Drugshortage.ch übrigens einen Nutzen. Aus kartellrechtlichen Gründen dürfen sie sich nicht gegenseitig informieren, wenn eine Substanz fehlt. Via Drugshortage.ch sehen sie’s und können entsprechende Massnahmen treffen.
Was hatte die Coronakrise für einen Einfluss auf die Lieferbarkeit von Medikamenten? Martinelli: Sie hatte vor allem einen Einfluss auf die Lieferketten. Einige Medikamentengruppen wurden dabei stärker belastet, insbesondere wegen des höheren Bedarfs an Akutmedikamenten. Bei den Chronikern war das Problem nur indirekt Corona-bedingt. Diese Patientinnen und Patienten deckten sich vorsorglich mit Medikamenten ein, um die Krise gut versorgt durchzustehen. Das führte zu einem stark erhöhten Bedarf, der sich jedoch bald wieder normalisierte. Corona machte nur ein bereits bekanntes Problem noch sichtbarer, weil die internationalen Abhängigkeiten offensichtlich wurden. Deutlich wurde zudem, wie erpressbar Staaten und Staatengemeinschaften sind. Plakativ gesagt: Man muss heute keine Kriege mehr führen, um ein Ziel zu erreichen, man muss
bloss die lebenswichtigen Arzneimittel nicht mehr liefern. Ich hoffe, dass die Halbwertszeit dieser Einsicht lang genug ist, um nach der Pandemie nicht ad acta gelegt zu werden.
Wie reagierte und reagiert die Pharmaindustrie auf Lieferengpässe und auf die Website Drugshortage.ch? Martinelli: Zuerst reagierten viele Firmen negativ. Eine Firma drohte mir sogar mit rechtlichen Schritten. Da ich das habe kommen sehen, gründete ich im Vorfeld zusammen mit meiner Frau die Martinelli Consulting GmbH, über die die Website läuft. So liess sich das private Risiko minimieren. Die erwähnte Firma macht heute sogar Werbung damit, dass sie Meldungen aktiv auf Drugshortage.ch publiziert. Was mich freut: Die Firmen werden sich des Problems immer bewusster. Es stossen immer mehr Firmen dazu, sodass ich heute sagen kann, dass rund 70 Prozent der Lieferengpässe von den Firmen selbst eingetragen werden. Rund 30 Prozent trage ich weiterhin selbst wöchentlich nach. Für die Firmen hat Drugshortage.ch übrigens einen Nutzen. Aus kartellrechtlichen Gründen dürfen sie sich nicht gegenseitig informieren, wenn eine Substanz fehlt. Via Drugshortage.ch sehen sie’s und können entsprechende Massnahmen treffen. Auch das führt zur Verringerung von Lieferengpässen. Interessant ist, dass gewisse Firmen nur dann anrufen, wenn eines ihrer Medikamente noch auf der Website aufgeführt ist, obwohl es wieder lieferbar ist. Dabei ist es eigentlich wichtiger, informiert zu werden, wenn ein Präparat nicht mehr erhältlich ist, denn das trifft Patientinnen und Patienten und ihre Therapien unmittelbar. Sie haben ein Problem, wenn sie grüne Pillen durch rosarote ersetzen oder eine Therapie grundsätzlich ändern müssen. Manche Firmen übersehen das leider.
Herr Dr. Martinelli, besten Dank für das sehr ehrliche Gespräch!
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