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EDITORIAL
Die Verantwortung der Verlage
Angesichts des globalen Klimawandels geraten die politischen Systeme vieler Länder der Erde, zumindest derjenigen, in denen mehr oder weniger freie Wahlen stattfinden, zunehmend unter Druck. Das Bewusstsein der Bevölkerung für die (noch) abstrakte ökologische, ökonomische und soziale, aber auch gesundheitliche Bedrohung wächst inzwischen mit jedem Tag – nicht mehr nur an «fridays for future». Zwar vermag kaum jemand, auch Vertreter einschlägiger wissenschaftlicher Disziplinen nicht, schlüssig zu beweisen, dass Ereignisse wie jüngst das Hochwasser in unserer Region, die Wirbelstürme an der Golfküste oder die Waldund Flächenbrände in Russland, Kalifornien und im Mittelmeerraum jeweils in kausaler Beziehung zur inzwischen unbestritten voranschreitenden Erderwärmung stehen. Doch immer mehr Menschen, und nicht nur von Katastrophen wie den vorgenannten Betroffene, blicken auf das, was vor sich geht, sehen abbrechendes Polareis, zurückweichende Gletscher und abgeholzte Regenwälder und erkennen, dass all das, selbst wenn es extreme Wetterereignisse «auch früher schon» gegeben haben mag, in dieser Frequenz und Intensität irgendwie kein gutes Ende nehmen kann ... Nun bedeutet, ein Bewusstsein für ein Problem zu entwickeln, zweifellos noch lange nicht, auch persönlich zu seiner Lösung beizutragen. Insofern lassen sich den immer zahlreicher und lauter anklagenden Stimmen stets Killerphrasen wie die, doch «erstmal bei sich selbst anzufangen», entgegenschleudern. Doch so wichtig eigenes konsequentes Handeln auch ist – Erkenntnis muss ihm vorausgehen, und das Fehlen des Ersteren allein
macht Letztere noch nicht zum Irrtum. Sie ist die Basis,
auf der eigene Verantwortung erst fusst.
Dieser Verantwortung haben sich die Verlage und Re-
daktionen von mehr als 220 internationalen medizini-
schen Fachjournalen nun gestellt. Sie, die sich (wie
auch wir) täglich mit medizinischem Fachwissen und
seiner Verbreitung beschäftigen, sind dem akademi-
schen Elfenbeinturm, in dem mancher sie oft wähnt,
entstiegen und haben einen gemeinsamen Leitartikel
(1) veröffentlicht. Darin fordern sie die Regierungen
und Entscheidungsträger dieser Welt nicht nur ein-
dringlich auf, die Klimakrise ernst zu nehmen und end-
lich konzertiert gegenzusteuern, sondern unterbreiten
auch dezidierte Vorschläge, wie eine dazu erforderliche
gesellschaftlich-wirtschaftliche Umkehr, der Erhalt
von Ökosystemen und Artenvielfalt sowie der Schutz
der öffentlichen Gesundheit gelingen könnten.
Ist dies nun als weiterer kleiner Schritt in die richtige
Richtung oder als abermalige eitle Anmassung zu wer-
ten, wenn sich jetzt auch noch medizinische Fachver-
lage in den Reigen derjenigen Gruppierungen einfügen,
die ihre gesellschaftliche Stellung oder gar Prominenz,
ihr Renommee oder ihre Reichweite dazu nutzen, den
von ihnen vertretenen politischen Thesen mehr Auf-
merksamkeit und Gewicht zu verleihen? Immer dort,
wo Einzelne vorgeblich im Namen vieler sprechen, de-
ren Einfluss vergleichsweise eher gering ausfällt, sind
Fragen nach womöglich hintergründig verfolgten, ei-
gennützigen Interessen stets angebracht. Der kritische
Blick darf jedoch nicht ausblenden, dass der öffentliche
Diskurs in einer freien Gesellschaft, so paradox es klin-
gen mag, ganz zwangsläufig diesen Kanälen folgen
muss. Hier seine Macht zu missbrauchen, ist falsch – in
guter Absicht zu schweigen, nur um diesen Verdacht
nicht zu erwecken, wäre es allerdings auch.
An der Meinungsbildung dürfen und sollen sich alle
Mündigen – in diesem Fall, weil Umweltfragen nun mal
oft die Gesundheit betreffen, erst recht Vertreter der
medizinischen Fachpresse – beteiligen und dazu alle
legitimen Mittel nutzen. Ob es gelingt, sich Gehör zu
verschaffen, ist ungewiss und hängt ab vom für jeden
demokratischen Prozess unverzichtbaren Wider-
spruch. Das Recht darauf, ihn zu äussern, muss deshalb
garantiert sein. In diesem Sinne wären wir interessiert
an Ihrer Meinung – schreiben Sie uns!
s
Ralf Behrens
1. Atwoli L et al.: Call for emergency action to limit global temperature increases, restore biodiversity, and protect health. Lancet 2021;398(10304):P939-P941.
ARS MEDICI 19 | 2021
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