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BERICHT
Überaktive Blase
Erste Abklärung und frühe Therapie beim Hausarzt – schwerere Fälle zum Urologen
In einer immer älter werdenden Population steigt auch der Anteil derjenigen Menschen, die unter vermehrtem Wasserlassen, imperativem Harndrang oder gar Inkontinenz leiden – Beschwerden, welche unter dem Begriff «überaktive Blase» zusammengefasst werden. Zunehmendes Alter ist einer der Risikofaktoren für das Auftreten dieser Störungen, welche die Lebensqualität der Betroffenen massiv beeinträchtigen können. Am FOMF Update Refresher Allgemeine Innere Medizin erläuterte PD Dr. Ralf Anding, Kaderarzt Urologie, Universitätsspital Basel, neben den Ursachen die diagnostische Abklärung und die verfügbaren Behandlungsoptionen sowie die Rolle der Hausärzte im Management dieses häufigen urologischen Problems.
Etwa jede dritte Person im Rentenalter klagt über Anzeichen einer überaktiven Blase (overactive bladder, OAB) wie häufiges Wasserlassen, vermehrter, vor allem auch nächtlicher Harndrang oder Harninkontinenz. Frauen und Männer sind grundsätzlich gleichermassen von OAB-Symptomen betroffen. Bei der Mehrzahl der Frauen stellen sich insbesondere mit zunehmendem Alter jedoch zusätzlich zu den zunächst bestehenden Reizblasenbeschwerden auch Inkontinenzprobleme ein, während diese bei Männern, häufig bedingt durch die vergrösserte Prostata und die damit einhergehende Entleerungsstörung, meist nicht auftreten. Vor allem bei den pflegebedürftigen Senioren, deren Zahl in den letzten 20 Jahren stetig gestiegen ist, beansprucht die Blasenschwäche einen grossen Teil des täglichen Versorgungsbedarfs. So wird bei den etwa zu 70 Prozent entsprechend betroffenen Pflegeheimbewohnern schätzungsweise ein Viertel der Pflegezeit allein für die Inkontinenzversorgung aufgewendet. Die mit
KURZ & BÜNDIG
� Die überaktive Blase ist keine eigene Krankheitsentität, sondern ein Symptomkomplex aus erhöhter Miktionsfrequenz, imperativem und/oder nächtlichem Harndrang sowie Inkontinenz.
� Die diagnostischen Massnahmen umfassen neben der Urintestung funktionelle, urodynamische Untersuchungen wie die Uroflowmetrie oder die (Video-)Urodynamik.
� Die Behandlung folgt einem Stufenplan, der konservative, (minimal) invasive und chirurgische Massnahmen umfasst.
� Die ersten diagnostischen und therapeutischen Schritte können sehr gut bereits in der Hausarztpraxis eingeleitet werden.
der Inkontinenzproblematik einhergehende individuelle psychische Belastung ist ausserordentlich signifikant, sodass demgegenüber andere, eigentlich weit gefürchtetere Störungen wie Depression oder Krebserkrankungen sogar subjektiv in den Hintergrund rücken können. Der Begriff OAB sei erst vor etwa 20 Jahren in den USA unter dem Einfluss der Pharmaindustrie kreiert worden, wie der Referent berichtete, zuvor habe man eher von Drangsymptomatik beziehungsweise Dranginkontinenz gesprochen. Ziel der Herstellerfirma des bis dahin zur Behandlung von Dranginkontinenz eingesetzten Wirkstoffs Tolterodin war es damals, mittels eines gezielten, intensiven Marketings ein ganz neues Krankheitsbild zu konstruieren, um den Kreis der für das Präparat geeigneten Patienten deutlich zu erweitern. Gemäss US-Daten umfasste das Beschwerdebild Dranginkontinenz lediglich ein relativ überschaubares Patientenklientel (ca. 12 Mio.). Zusammen mit den Patienten, die nicht unbedingt von Inkontinenz, sondern nur von vermehrtem Harndrang betroffen sind, sowie mehr noch unter Mitberücksichtigung jener, die nur unter häufigem Wasserlassen leiden, ergibt sich dagegen eine bis zu 2,7-fach grössere Zielgruppe. Tatsächlich sei seinerzeit parallel zur Marketingkampagne die Terminologie der Internationalen Kontinenzgesellschaft (ICS) geändert und der Begriff OAB definiert worden, erzählte Anding, und zwar nicht als eigene Krankheitsentität, sondern als ein Symptomkomplex aus erhöhter Miktionsfrequenz (Pollakisurie), imperativem Harndrang, nächtlichem Harndrang (Nykturie) und Inkontinenz (bei etwa einem Drittel der Betroffenen). Die vormals strikt nach Häufigkeit definierten Grenzen für Nykturie (> 2 Miktionen/Nacht) und Pollakisurie (> 8/Tag) wurden inzwischen verlassen; es zählt hier jetzt die allgemeine Symptomatik. Doch auch ohne das zusätzliche Auftreten von Inkontinenz verursache die OAB einen erheblichen Leidensdruck, wie der Referent betonte: «Es ist nicht so, dass dieser quasi von der Pharmaindustrie konstruierte Begriff keinen Hintergrund hat.»
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ten der European Association of Urology (EAU), Christopher
Tabelle:
Anticholinergika zur Behandlung von Symptomen der überaktiven Blase
Chapple – um eine empirische Diagnose, eine Arbeitsdiagnose, die der Arzt als Basis zur Beschreibung von Symptomen des unteren Harntrakts (lower urinary tract symptoms, LUTS), zur Erhebung der Befunde (körperliche Untersu-
Wirkstoff
Handelsname
Darreichungsform
chung, Urinstatus u. a.) und mithin zur einleitenden Behand-
Propiverin Mictonorm® Kapseln
lung nutzen könne.
Mictonet® Dragees
Auch der Hausarzt kann in diesem Prozess bereits frühzeitig
Oxybutynin Ditropan®
Tabletten
eine wichtige Rolle bei der Objektivierung und Diagnostik
Kentera® transdermales der OAB-Symptomatik übernehmen. So sollte ein Patient,
Pflaster
der mit entsprechenden Beschwerden die Praxis aufsucht,
Lyrinel® OROS®
Retardtabletten
schon im Wartezimmer einen Kontinenzfragebogen zur Sym-
(konstante Wirkstoff-
ptombeschreibung ausfüllen. Nach der Erstkonsultation sei
freisetzung mittels
es hilfreich, dem Patienten zur Vorbereitung des nächsten
OROS®-Technologie)
Termins ein Toiletten- und Trinkprotokoll (Download im
Trospiumchlorid Spasmo-Urgenin® Neo, Dragees
Internet) zum selbstständigen Ausfüllen (Trinkmenge, Harn-
Spasmex®
menge/-drang, Urinverlust, evtl. Vorlagenverbrauch) mitzu-
Tolterodin
Detrusitol® SR
Retardkapseln
geben, riet Anding.
Solifenacin
Vesicare®, Generika
Filmtabletten
Als diagnostische Massnahmen kommen zunächst ebenfalls
Darifenacin Emselex®
Retardtabletten
bereits in der Hausarztpraxis die Urintestung zur Abgren-
Fesoterodin/
Toviaz®/Desfesoterodin- Retardtabletten
zung anderer Ursachen wie Blaseninfektion, -stein oder
Desfesoterodin Mepha®
-tumor sowie im Weiteren dann in der Hand des Spezialisten
OROS: «orally taken, osmotical driven»
funktionelle, urodynamische Untersuchungen wie die Uroflowmetrie (Harnflussmessung, beim Urologen) oder die
(Video-)Urodynamik (Blasendruckmessung, u. a. zur Abklä-
rung einer Hyperaktivität des Blasenmuskels [Detrusor]; ggf.
Blasenschwäche – was sind die Ursachen?
im Spital) infrage. Eine echte Detrusorhyperaktivität (detru-
Die Frage von Patienten, ob denn das Problem nicht im Kopf sor over activity, DOA) sei das, was man eigentlich korrek-
stattfinde, werde von Ärzten zunächst häufig verneint, so terweise als überaktive Blase bezeichne, erklärte der Experte.
Anding, in Wahrheit stecke allerdings der Kopf, das heisst Die entsprechende Diagnose kann nur mittels urodynami-
das Gehirn, sogar ganz wesentlich dahinter, denn die Blasen- scher Verfahren gestellt werden und bildet die Vorausset-
funktion werde im pontinen Miktionszentrum (PMZ) ge- zung, um die Pathologie korrekt zu beschreiben.
steuert, welches vom Grosshirn und von anderen Hirnregio-
nen reguliert werde. Mittlerweile existieren gute Modelle Abgestufte Therapie
dieser Regulation, und mit (funktioneller) Magnetresonanz- Die Therapie der primären und der persistierenden OAB
tomografie lassen sich die Hirnregionen darstellen, in denen folgt gemäss Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissen-
bei Harndrang Aktivität stattfindet. Dabei ist es so, dass die schaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)
beteiligten Hirnregionen eigentlich das PMZ lediglich hem- einem Stufenplan, der, beginnend bei konservativen Mass-
men. Bei im Schnitt 6 Miktionen pro Tag, die jeweils etwa nahmen, schrittweise zunehmend invasivere Verfahren vor-
30 Sekunden dauern, ist der Organismus innert 24 Stunden sieht.
nur für rund 3 Minuten (ca. 0,2%) mit dem Wasserlassen s Stufe 1: Hilfreich sind Beratung bzw. Massnahmen zur
beschäftigt, während etwa 98 Prozent des Tages erfolgt also
Verhaltensänderung, die Blasen- (Blasenwahrnehmung),
Blasenhemmung. Wenn diese Hemmung durch Hirnleis-
Miktions- (Unterdrückung des Harndrangs) und Toilet-
tungsstörungen, demenzielle Syndrome, rein altersbedingte
tentraining (Miktion nach Uhr) umfassen, sowie Entspan-
Veränderungen, neurologische Erkrankungen (Alzheimer-
nungsübungen und Physiotherapie. Auch Risikofaktoren
Krankheit u. a.) oder Zustand nach Apoplex nicht mehr effi-
(Gewicht, Diabetes, Alter > 70 Jahre, Postmenopause,
zient erfolgt, führt dies automatisch zur Enthemmung, das
Zustand nach Hysterektomie, Schlafapnoesyndrom,
heisst zu einer vermehrten Aktivität des PMZ.
Asthma, Rauchen) sind zu berücksichtigen und wenn
Die genannten Störungen und Erkrankungen werden unter
möglich zu behandeln.
anderen in die Kategorien der organischen (blasenassoziier- s Stufe 2: Die Pharmakotherapie erfolgt traditionell mit
ten) und der neurogenen Ursachen (die Steuerung der Blasen-
Anticholinergika/Antimuskarinergika, also mit Substan-
aktivität betreffend) zusammengefasst, auf die allerdings nur
zen, die die parasympathische Aktivierung der Blase hem-
20 Prozent aller Fälle zurückgehen. 4 von 5 Patienten haben
men (siehe Tabelle), allerdings auch typische Nebenwir-
eine idiopathische OAB, bei ihnen kann also kein Grund für
kungen (Hemmung anderer muskarinerger Rezeptoren
die Störung festgestellt werden.
[v. a. Speicheldrüsen: Mundtrockenheit], Sehstörungen)
haben und daher mit der Zeit zu abnehmender Com-
OAB – eine Arbeitsdiagnose
Auch aus dem diagnostischen Blickwinkel betrachtet, handle
pliance führen. Als verträglichere Alternative steht seit einiger Zeit das β3-Sympathomimetikum Mirabegron
es sich bei der OAB nicht um eine eigene Krankheit, stellte
(Betmiga®) zur Verfügung, das die natürliche Hemmung
der Referent klar, sondern – und hier zitierte er den Präsiden-
des Detrusors über sympathische Betarezeptoren stimu-
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liert. Wegen seines günstigeren Nebenwirkungsprofils ist Mirabegron inzwischen bereits das am häufigsten verschriebene Medikament zur Behandlung der OAB. Vorsicht sei hier allerdings, wie generell bei Betamimetika, bei Patienten mit Hypertonie geboten, sagte Anding warnend. Bei ihnen muss der Blutdruck nach Therapieeinleitung regelmässig kontrolliert werden. s Stufe 3: Gute therapeutische Ergebnisse lassen sich mit der elektrischen Neuromodulation (posterior tibial nerve stimulation, PTNS; Urgent®-PC-System), die auch ambulant durchgeführt werden kann, erzielen. Die Nervenreizung erfolgt dabei am N. tibialis am Bein, da dessen Afferenzen im sakralen Rückenmark enden, wo auch die Nerven aus dem PMZ umgeschaltet werden. s Stufe 4: Falls die genannten Medikamente nicht helfen, können Injektionen von Botulinumtoxin A in die Blase vorgenommen werden. Dieses Verfahren wird seit etwa 20 Jahren in der Urologie eingesetzt. Das Nervengift hemmt zunächst irreversibel die Signalübertragung an der motorischen Endplatte zu den Muskelzellen des Detrusors und zeichnet sich durch eine lange Wirkdauer (mindestens 9 bis 10 Monate) aus. Die Injektion der Substanz in die Detrusormuskulatur erfolgt unter Lokalanästhesie endoskopisch gesteuert über die gesamte Blasenwand verteilt. Dies sei allerdings keine Routineprozedur, die den Patienten schon frühzeitig angeboten werden sollte, son-
dern es müsse zuvor eine adäquate Diagnostik stattgefun-
den haben, schränkte der Referent ein.
s Stufe 5: Bei der sakralen Neuromodulation handelt es sich
im Prinzip um eine intensivierte Form der elektrischen
Neuromodulation, bei der mittels unter Röntgenkont-
rolle implantierter Elektroden und eines subkutan einge-
setzten Schrittmachers eine direkte, dauerhafte Stimula-
tion der aus dem Sakralmark entspringenden Nerven er-
folgt. Etwa 70 bis 80 Prozent der Patienten kann mit
diesem Verfahren sehr effektiv geholfen werden.
s Stufe 6: In schweren Fällen, die konservativ und minimal-
invasiv nicht mehr zu behandeln sind, kann eine Blasen-
augmentation vorgenommen werden. Dabei wird die
Blase operativ unter Zuhilfenahme von Darmanteilen
funktionell vergrössert und ihre Speicherfähigkeit verbes-
sert. Als Ultima Ratio kommt schliesslich ein künstlicher
Harnblasenersatz mit Harnableitung infrage.
Während die invasiven Behandlungsverfahren eher die Do-
mäne der urologischen Fachärzte seien, könne die Therapie-
massnahmen der Stufen 1 und 2 bei primärer OAB auch ohne
Weiteres der Hausarzt einleiten, versicherte Anding.
s
Ralf Behrens
Quelle: «Die überaktive Blase», Vortrag von PD Dr. R. Anding am virtuellen Update Refresher Allgemeine Innere Medizin des Forums für Medizinische Fortbildung (FOMF) in Basel am 27. Januar 2021.