Transkript
STUDIE REFERIERT
Alkoholabstinenz
Kaum Evidenz für Effektivität therapeutischer Interventionen
Die auf das Konto von Alkoholabhängigkeit gehende Morbidität und Mortalität sind in der westlichen Welt nach wie vor beträchtlich. Schätzungsweise entfallen in Europa etwa 7 Prozent der gesundheitlichen Störungen und Todesfälle auf übermässigen Alkoholkonsum. Können Grundversorger hier womöglich gegensteuern? Und welche Massnahmen wären eventuell geeignet, um den Betroffenen abstinentes Verhalten zu erleichtern?
British Medical Journal
Nur ein Bruchteil der zahlreichen alkoholkranken Menschen sucht therapeutische Hilfe, in Grossbritannien etwa nur jeder Vierte, und auch unter entsprechender Behandlung sind Rückfälle häufig. Leitlinien wie die des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfehlen eine umfassende Begutachtung der Betroffenen, an die sich ein in öffentlichen Einrichtungen angesiedelter, medizinisch assistierter Entzug und gegebenenfalls eine von Spezialisten betreute medikamentöse Therapie zur Aufrechterhaltung der Abstinenz anschliessen sollten. Um auch nur den Bedürftigsten eine solche aufwendige Versorgung angedeihen zu lassen, reichen die Kapazitäten des Gesundheitssystems jedoch bei Weitem nicht aus. Mehr als 80 Prozent der über 500 000 alkoholkranken Menschen in England erhalten nicht die fachärztliche Unterstützung, die sie bräuchten. Abhilfe könnte hier möglicherweise eine Verlagerung des Managements der Alkoholsucht in den Bereich der medizinischen Grundversorgung schaffen. Ziel eines aktuellen systematischen Reviews mit Metaanalyse aus England war es daher, die für eine Alkoholabstinenz am meisten wirksamen Massnahmen zu eruieren, welche sich in die hausärztliche Praxis integrieren lassen. Die Autoren des Reviews haben zu diesem Zweck eine Literaturrecherche auf Basis von elektronischen Datenbanken (CENTRAL, Ovid Medline, Ovid Embase, Ovid PsycINFO) und Studienregistern (ClinicalTrials.gov, ICTRP) durchgeführt und aus dem gesichteten Material schliesslich die Ergebnisse von
insgesamt 64 randomisierten, kontrollierten Studien (RCT) für ihre Analyse herangezogen, im Rahmen derer entweder nach vorausgehender oder vorgeschalteter Entgiftung der erwachsenen Teilnehmer medikamentöse und/ oder psychologische (Addiction-Comprehensive Health Enhancement Support System [A-CHESS], kognitive Verhaltenstherapie, Kontingenzmanagement, Bewältigungstraining, Hausbesuche, Motivationsförderungstherapie) Interventionen zur Aufrechterhaltung von Alkoholabstinenz mit einem Follow-up von mindestens 12 Wochen untersucht worden waren. Als primärer Wirksamkeitsendpunkt wurde das Erreichen einer fortdauernden Abstinenz definiert, als sekundärer Endpunkt kam in Ermangelung konsistenter analysierbarer Daten zu anderen Parametern, wie Trinkmenge und -frequenz, Compliance und Nebenwirkungen von Interventionen sowie Rückzug aus der Studie, lediglich die Anzahl der Studienabbrecher, stellvertretend für die Akzeptanz der eingeleiteten therapeutischen Massnahmen, zum Tragen.
Nur Acamprosat effektiver als Plazebo
Wie die Auswertung der Daten ergab, bestand in den Plazeboarmen der analysierten RCT eine mittlere Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent für ein Fortbestehen von Abstinenz. Für die meisten der untersuchten Interventionen konnte keinerlei oder nur unzureichende Evidenz für eine Wirksamkeit auf die Aufrechterhaltung von Abstinenz nachgewiesen werden, welche
über diejenige hinausgeht, welche bereits unter Plazebo zu beobachten war. Dabei zeigten sich von den medikamentösen Therapien im Vergleich zu Plazebo lediglich für Acamprosat (Odds Ratio [OR]: 1,86; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,49–2,33), Topiramat (1,88; 1,06–3,34), Natriumoxybat (2,31; 1,22–4,36) und Quetiapin (6,75; 1,20–38,05) erhöhte Abstinenzraten, während sich unter anderen Substanzen die Abstinenz nur kaum (Naltrexon: 1,36; 0,97–1,91) beziehungsweise überhaupt nicht (Disulfiram: 0,93; 0,48–1,79) verbesserte oder sogar verschlechterte (Galantamin: 0,31; 0,11– 0,87). Auch psychologische Interventionen allein konnten die Abstinenzraten nicht steigern. Von den kombinierten Massnahmen erzielten lediglich Acamprosat plus Krankenschwesterbesuche (4,59; 1,47–14,36), Acamprosat plus Naltrexon (3,68; 1,50–9,02), Natriumoxybat plus Naltrexon (12,64; 2,77– 57,78) sowie Naltrexon plus Natriumoxybat plus Escitalopram (25,65; 2,13– 309,46) grössere Effekte als Plazebo. Die Rate an Studienabbrechern betrug in den Plazeboarmen im Median 48 Prozent. Demgegenüber waren nur wenige Interventionen mit verminderten Dropout-Raten assoziiert, nämlich Acamprosat (0,73; 0,62–0,86), Naltrexon (0,70; 0,50–0,98), Topiramat (0,45; 0,24–0,83), Hausbesuche (0,32; 0,11–0,95), kognitive Verhaltenstherapie (Kurzform; 0,06; 0,01–0,33), Acamprosat plus Kankenschwesterbesuche (0,21; 0,07–0,57) sowie Acamprosat plus Naltrexon (0,30; 0,13– 0,67).
174
ARS MEDICI 6 | 2021
STUDIE REFERIERT
Weitere Studien erforderlich
Die Aussagekraft der Ergebnisse sowohl für den primären als auch für den sekundären Endpunkt ist aufgrund von Verzerrungseffekten, Ungenauigkeiten und Heterogenitäten im analysierten Datenmaterial sehr begrenzt. Dies ist hauptsächlich der Tatsache geschuldet, dass die Evidenz der meisten Interventionen aus einzelnen kleineren Studien stammte, weshalb sich daraus auch kaum Empfehlungen für die klinische Praxis ableiten lassen. Dennoch erachten die Autoren manche der untersuchten Massnahmen, gerade auch deren Kombinationen, als vielversprechend und befürworten ihre nähere Untersu-
chung im Rahmen von weiteren Studien. Dies auch deshalb, weil hinsichtlich der Aufrechterhaltung von Abstinenz wie auch bezüglich der Compliance mit Acamprosat bis anhin lediglich ein einziges Medikament eine Wirksamkeit nachweisen konnte, welche über einen Plazeboeffekt hinausgeht. Zudem sind die Wirkmechanismen der verschiedenen Interventionen auf die Alkoholabhängigkeit genauso wie die Ursachen Letzterer selbst noch weitgehend unklar, was zusammen mit einem anzustrebenden eingehenderen Verständnis der psychologischen Bedürfnisse von alkoholkranken Menschen ebenfalls die Strategie künftiger
Studien in diesem Forschungsfeld mit-
bestimmen sollte.
RABE s
Quelle: Cheng HY et al.: Treatment interventions to maintain abstinence from alcohol in primary care: systematic review and network meta-analysis. BMJ 2020 Nov 25; 371: m3934; DOI: 10.1136/ bmj.m3934.
Interessenlage: Ein Teil der Autoren der referierten Studie gibt an, finanzielle Unterstützung von diversen staatlichen Forschungseinrichtungen sowie von verschiedenen Pharmafirmen sowohl im Rahmen ihrer Arbeit als auch ausserhalb davon erhalten zu haben. Einige der Autoren waren an der Erstellung einschlägiger Leitlinien beteiligt, welche zum Teil ebenfalls von diversen Unternehmen der Pharmabranche alimentiert wurde.
ARS MEDICI 6 | 2021
175