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STUDIE REFERIERT
Demenz
Kombinierte Risikoscores für die gezielte Prävention
Die globale Prävalenz von Demenzerkrankungen steigt. Neben der wachsenden Lebenserwartung tragen vor allem ein ungesunder Lebensstil, eine vererbbare Prädisposition und offensichtlich auch ein mangelndes Bildungsniveau dazu bei. Angesichts des herausfordernden gesellschaftlichen Auftrags zur präventiven Einflussnahme auf ein derart multifaktorielles Geschehen ist es wichtig, diejenigen Individuen zu identifizieren, die von entsprechenden Massnahmen am meisten profitieren. Neu entwickelte Risikocharts könnten dabei helfen.
European Heart Journal
In einer immer älter werdenden Gesellschaft wird der Anteil derjenigen Hochbetagten, die mit einer Demenzerkrankung versterben, mittlerweile auf etwa ein Drittel beziffert. Andererseits gehen auf entsprechenden randomisierten, kontrollierten Studien basierende Schätzungen der Lancet Commission davon aus, dass sich wiederum ein Drittel aller Demenzfälle durch die Behandlung kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Diabetes, Hypertonie, Rauchen und körperliche Inaktivität verhindern liesse. Wie solche präventiven Interventionen im Einzelnen aussehen müssten, ist bis anhin nicht geklärt. Tatsächlich zeigen die altersstandardisierten Demenzinzidenzen in wohlhabenden Regionen der Welt inzwischen aber eine rückläufige Tendenz, was auf eine verbesserte Kontrolle der genannten Risikofaktoren und ein allgemein gestiegenes Bildungsniveau in den letzten Jahrzehnten zurückgeführt wird. Unterstützt werden diese Annahmen durch die Ergebnisse umfangreicher Interventionsstudien, in denen eine positive Beeinflussung vor allem vaskulärer Risikofaktoren die kognitive Funktion bei demenzgefährdeten Personen verbesserte. Es stellt sich jedoch die Frage, ob derlei vorbeugende Massnahmen sämtlichen Personen mit Risiko für Demenz oder aber nur bestimmten Hochrisikogruppen zuteilwerden sollten, denn Ersteres würde aufgrund des erforderlichen arbeits- und kostenintensiven Aufwands die meisten Gesellschaften vor unrealistische ökonomische Herausforderungen stellen. Abhilfe schaffen könnte hier
ein Score, mit dem es gelingt, Personen mit hohem Risiko für eine Demenzerkrankung zu identifizieren, die höchstwahrscheinlich am ehesten von gezielter Prävention profitieren würden. Da die Entwicklung seniler Demenzformen nachweislich auch genetischen Einflüssen (über das APOE-[ApolipoproteinE-]e4-Allel sowie 30 weitere in genomweiten Assoziationsstudien [GWAS] identifizierte Genloci) unterliegt, sollte ein solcher Risikoscore neben den modifizierbaren Risikofaktoren auch diese erbbiologischen Komponenten enthalten.
Kardiovaskuläre, genetische und intellektuelle Faktoren ...
Vor diesem Hintergrund gelang es nun einer dänischen Arbeitsgruppe, anhand der Daten zweier nationaler prospektiver Kohortenstudien (Copenhagen General Population Study [CGPS], Copenhagen City Heart Study [CCHS]) solche kombinierten Scores zur Ermittlung des absoluten 10-Jahres-Risikos für Demenz jedweder Ursache zu erstellen. Ausgewertet wurden dazu die in beiden Studien zu Baseline (CGPS: 2003, CCHS: 1976–1978) erfolgte Genotypisierung und die teils über Messgrössen, teils über Befragung ermittelten kardiovaskulären Risikofaktoren (Diabetes [z. B.: Plasmaglukose: > 11 mmol/l bzw. 198 mg/dl], Hypertonie [z. B .: Blutdruck > 140/90 mmHg], Rauchen [nie/ jemals geraucht], geringe körperliche Aktivität [≤ 4 h/Woche], starker Alkoholkonsum [Frauen: > 1 4 Drinks/Woche, Männer: > 2 1 Drinks/Woche],
niedriges Bildungsniveau [< 8 Jahre formale Ausbildung]) der Teilnehmer sowie die als Endpunkt definierte Entwicklung einer demenziellen Erkrankung (M. Alzheimer, vaskuläre/unspezifizierte Demenz; Diagnosen gemäss ICD-8/10) während des Follow-up (CGPS: 2003–2017, CCHS: 1991– 1994/2001–2003/2011–2013). Insgesamt waren aus beiden Studien zusammen für 61 664 Individuen (Alter: 20 bis 60 Jahre) Genotypisierungen verfügbar; von diesen hatten 2158 nach im Mittel 10 Jahren (Wertebereich: 1–25 Jahre) Follow-up eine demenzielle Episode entwickelt. Wie die mithilfe diverser statistischer Verfahren durchgeführten Analysen der Daten ergaben, steigt das absolute 10-Jahres-Risiko für das Auftreten einer Demenzerkrankung jedweder Ursache mit zunehmendem Alter, mit der Anzahl von APOE-e4-Allelen und GWAS-Risikoallelen, mit manifester Diabeteserkrankung, bei geringem Bildungsstand sowie unter Raucheranamnese an. Geringe körperliche Aktivität wirkt sich, insbesondere bei Männern, ebenfalls risikofördernd aus. Als die modifizierbaren Risikofaktoren mit den höchsten beobachteten Hazard Ratios (HR) erwiesen sich unabhängig vom Alter Diabetes (HR: 1,54; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,22–1,93), Rauchen (1,17; 1,04–1,32) und niedriger Bildungsstand (1,27; 1,13–1,42) bei Frauen sowie Diabetes (1,26; 1,01–1,57), körperliche Inaktivität (1,35; 1,18–1,55) und niedriger Bildungsstand (1,38; 1,20–1,58) bei Männern. ARS MEDICI 6 | 2021 175 STUDIE REFERIERT ... und ihre potenziellen Effekte Die Mechanismen, über die die kardiovaskulären Risikofaktoren eine Demenzentwicklung beeinflussen, sind noch nicht umfassend verstanden. Hinsichtlich Diabetes wird angenommen, dass sich die Erkrankung, abgesehen von Inflammation und hohen Blutglukosekonzentrationen, welche ihrerseits die kognitive Funktion verschlechtern, auch in einer verminderten Insulinproduktion im Gehirn auswirkt, die zu einer beeinträchtigten Amyloidelimination führen kann. Das Rauchen schlägt sich ebenso wie körperliche Inaktivität höchstwahrscheinlich über kardiovaskuläre Pathologien negativ auf das Demenzrisiko nieder; hinzu kommen die Effekte der im Tabakrauch enthaltenen Neurotoxine. Das Vorliegen von Bluthochdruck im mittleren Alter (40–60 Jahre) war, wie schon anderweitig beobachtet, auch in dieser Studie, zumin- dest bei Männern, ebenfalls mit einem höheren Demenzrisiko vergesellschaftet, was hauptsächlich dem erhöhten Risiko für zerebrovaskuläre Erkrankungen und für das metabolische Syndrom zugeschrieben wird. Der Einfluss des Bildungsstands ergibt sich womöglich aus einer grösseren kognitiven Reserve bei Individuen mit höherem Ausbildungslevel, welche sie im Vergleich mit Personen mit niedrigerem Bildungsstand eher neurodegenerative Prozesse tolerieren lassen könnte, ohne eine klinische Demenz zu entwickeln. Zudem lässt sich mutmassen, dass Individuen mit niedrigerem Ausbildungsniveau auch einen weniger vorteilhaften Lebensstil pflegen. Zur Frage, welche kausale Beziehung zwischen starkem Alkoholkonsum und dem Demenzrisiko besteht, ist die vorliegende Evidenz bis anhin nicht eindeutig. Tools zur Risikostratifizierung Zusammenfassend sind die Autoren der referierten Studie der Ansicht, dass sich die in ihren Analysen beobachteten Zusammenhänge angesichts der weltweit steigenden Demenzprävalenz zur rechten Zeit zeigen und die ermittelten Risikoscores geeignete Werkzeuge zur umfassenden Risikostratifizierung darstellen, mit deren Hilfe es künftig einfacher werden könnte, effiziente präventive wie kurative Ansätze in Hochrisikogruppen zu implementieren. RABE s Quelle: Rasmussen IJ et al.: Impact of cardiovascular risk factors and genetics on 10-year absolute risk of dementia: risk charts for targeted prevention. Eur Heart J 2020; 41: 4024–4033. Interessenlage: Die Autoren der referierten Studie haben keinerlei Interessenkonflikte deklariert. 176 ARS MEDICI 6 | 2021