Transkript
RÜCKBLICK 2020/AUSBLICK 2021
Onkologie
Dr. med. Thomas von Briel Onkozentrum Hirslanden Zürich
der zweiten Pandemiewelle ist das vorerst nicht anders als im Frühjahr. Ob sinnvolle Screeninguntersuchungen zur Früherkennung von Tumoren, von denen es bekanntlich nur wenige gibt, wegen der Coronapandemie vernachlässigt wurden und wie sich das auswirken wird, wissen wir noch nicht. Das wird sich, wenn überhaupt, erst nach längerer Zeit weisen.
Corona beeinträchtigt die Betreuung von Tumorpatienten eher nicht
Wie hat die Coronapandemie Ihre Arbeit im vergangenen Jahr beeinflusst?
Zunächst kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass die empfohlenen Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie sehr effizient sind. Onkologische Patienten und ihre Familien sind zu Recht sehr vorsichtig, und sie beweisen, dass Massnahmen wie Social Distancing und Maskentragen wirksam schützen. Wir haben hier im Onkozentrum Hirslanden seit Beginn der Pandemie nur sehr wenige Patienten gesehen, die sich angesteckt haben. Viele unserer Patienten sind COVID-19-Hochrisikopatienten, insbesondere unter bestimmten Therapien, bei denen die Letalität im Fall einer COVID-19-Erkrankung über 50 Prozent betragen kann. Wenn zum Beispiel jemand mit einem B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphom mit einem AntiCD20-Antikörper behandelt wird und sich dann mit SARSCoV-2 infiziert, ist das für ihn sehr gefährlich. Dass das Einhalten von Hygieneregeln und das Tragen von Masken schützt, sieht man auch in unserem Team. Bis heute (Stand: 15. Januar 2021) hat sich niemand mit SARS-CoV-2 infiziert. Dazu tragen aber zweifellos auch unsere vorsichtigen Patienten viel bei. Ein schönes Beispiel, dass gegenseitige Rücksichtnahme hilft. Wenn man sich vor Corona schützt, tut man das eben nicht nur für sich selbst – ein Aspekt, der in öffentlichen Diskussionen oft zu wenig betont wird.
Mussten Sie Untersuchungen und Behandlungen wegen der Coronapandemie verschieben, und welche Folgen könnte das für die Patienten haben?
Eine weitere Erfahrung während der Pandemie ist, dass unsere Patienten ihre Erkrankung sehr ernst nehmen. Man befürchtete bereits im Frühjahr, dass wegen der Pandemie das Monitoring von Tumorpatienten schlechter werden könnte. Würden sie es wagen, beispielsweise für eine 3-Monats-Kontrolle ins Spital zu kommen, oder ist ihre Angst grösser, sich dort möglicherweise mit SARS-CoV-2 zu infizieren? Wir haben alle Termine wie vereinbart angeboten, und nur eine kleine Minderheit der Patienten hat diese verschoben. Therapieabbrüche gab es praktisch keine. Das zeigte mir, wie wichtig den Patienten die Kontrollen und die konsequente Behandlung ihrer Erkrankung sind. Auch in
Abgesehen von der Coronapandemie: Welche neuen Erkenntnisse und Erfahrungen des letzten Jahres fanden Sie für Ihr Fachgebiet besonders spannend?
Der Trend der letzten Jahre, dass die onkologischen Therapien immer besser werden, hat sich auch 2020 fortgesetzt. Man kann immer noch mehr tun, und man kann es noch besser machen – sei es bei der Immuntherapie mit Antikörpern oder bei den zielgerichteten Therapien mit kleinen Molekülen, bei denen man sich das Wissen um spezifische Signalwege in Tumorzellen zunutze macht. Generell ist es bei diesen zumeist sehr teuren neuen Behandlungen wichtig, Marker zu haben, die eine Prognose erlauben, ob die Therapie wirklich helfen wird oder nicht. Bei den kleinen Molekülen, die den Effekt einer Mutation blockieren, ist das relativ einfach. Wenn die besagte Mutation nicht vorliegt, bringt der Einsatz eines gegen diese Mutation gerichteten Medikaments natürlich nichts. Liegt eine therapierbare Mutation vor, dann hängt die Wirksamkeit der Blockade davon ab, wie matchentscheidend diese Mutation für die Krebszelle ist. Darüber hat das Wissen auch in diesem Jahr wieder zugenommen, indem neue Moleküle entwickelt wurden, zum Beispiel gegen eine relativ häufige Mutation des KRAS-Gens bei Lungenkrebs. Schwieriger bleibt die Vorhersage der Wirksamkeit bei den Immuntherapien. Hier spielen die Anzahl der Mutationen in den Krebszellen, die sogenannte Mutationslast, und die Anzahl von Molekülen an der Oberfläche der Tumor- und Immunzellen, welche die Abwehrzellen «abschalten» (Immunhistochemie auf PD-L1, s. unten), eine wichtige Rolle. Einfach gesagt: Je mehr Mutationen vorhanden sind, umso «wilder» beziehungsweise abnormaler ist die Krebszelle und hat somit mehr Eigenschaften, die von der Abwehr erkannt und bekämpft werden können. Ein Krebs mit vielen Mutationen spricht somit eher auf eine Immuntherapie an. Diese Erkenntnis schlägt sich nun in der Routine der Darmkrebstherapie nieder. Bei den Patienten mit einem Darmkrebs mit sehr hoher Mutationslast wirkt eine Immuntherapie besser als eine herkömmliche Chemotherapie. Schwierig bleibt die Vorhersage der Wirksamkeit einer Immuntherapie mithilfe der Immunhistochemie zum Nachweis der PD-L1-Expression. Je nach Tumorentität und teilweise auch je nach Therapielinie ist diese Messung hilfreich oder nutzlos. Beim Magenkrebs gab es im vergangenen Jahr in dieser Hinsicht einen Fortschritt. Hier sind es nicht in erster Linie die Tumorzellen, die PD-L1 exprimieren müssen, sondern die Zellen des Immunsystem selbst, die in möglichst hoher Zahl PD-L1 aufweisen sollten, damit die
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Hinzugabe einer Immuntherapie zur Chemotherapie eine deutliche Verbesserung der Erfolgsaussichten der Behandlung bringt. Das wird dazu führen, dass wir nun viele Magenkrebspatienten mit einer Kombination aus Immuntherapie und Chemotherapie behandeln werden.
Gibt es weitere Beispiele für neue, klinisch relevante Entwicklungen in der Immuntherapie im letzten Jahr?
Ein weiteres Beispiel ist das hepatozelluläre Karzinom, ein früher sehr schwer zu behandelnder Tumor. Über Jahrzehnte waren wir mit den klassischen Chemotherapien bei dieser Krankheit nicht erfolgreich. Ein erster Fortschritt war vor Jahren die Einführung des Kinasehemmers Sorafenib (Nexavar®), der unter anderem die Angiogenese hemmt, die bei diesem Tumor eine wichtige Rolle spielt. Nexavar® war über mehr als zehn Jahre die Standardtherapie, die sich kaum durch neue Medikamente verbessern liess. Nun hat sich gezeigt, dass die Kombination von Antiangiogenese und Immuntherapie, nämlich von Bevacizumab (Avastin®),
das als Antikörper die Angiogenese hemmt, und von Ate-
zolizumab (Tecentriq®), einem immuntherapeutischen An-
tikörper, der sich gegen den Liganden von PD-1 richtet,
deutlich wirksamer ist als Sorafenib. Man hat vor wenigen
Jahren wohl eher nicht erwartet, dass eine Immuntherapie
beim hepatozellulären Karzinom derart wirksam sein
könnte.
Neu ist auch, dass die Therapie mit CAR-T-Zellen immer
mehr zur Routine wird. Auch wir führen diese Therapien
durch. Dabei werden dem Patienten T-Zellen entnommen
und in vitro modifiziert. Die Abwehrzellen tragen danach
einen chimären, künstlichen Rezeptor gegen Tumoranti-
gene, daher kommt die Abkürzung CAR für «chimeric
antigen receptor». Diese Zellen werden dem Patienten wie-
der infundiert und bekämpfen dann die Tumorzellen. Vor-
erst wendet man diese Strategie vor allem bei Lymphomen,
Leukämien und multiplen Myelomen an. Es ist aber durch-
aus vorstellbar, dass ich in den kommenden Jahren auch
von Fortschritten dieser Therapiestrategie bei anderen
Tumorentitäten berichten kann.
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