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FORTBILDUNG
Harnsäuresenkende Therapie richtig dosieren
Neue Guidelines des American College of Rheumatology zur Gichttherapie
Die Fachgesellschaft der US-amerikanischen Rheumatologen hat ihre Richtlinien zur akuten und langfristigen Therapie bei Gicht aktualisiert. Im Zentrum stehen die Indikation, Initialisierung und Durchführung der harnsäuresenkenden Langzeittherapie nach dem Treat-to-target-Prinzip.
Arthritis Care Research
Nicht weniger als 42 Empfehlungen hat die Fachgesellschaft der US-amerikanischen Rheumatologen (ACR) in ihren aktualisierten Guidelines zur Behandlung von Gicht-
MERKSÄTZE
� Patienten mit ≥ 1 subkutanen Gichttophus und/oder bildgebenden Befunden, die für gichtbedingte Gelenkschäden sprechen, sowie Patienten mit ≥ 2 Gichtschüben pro Jahr bedürfen einer harnsäuresenkenden Langzeittherapie (ULT).
� Bei bestimmten Patientengruppen ist eine ULT auch bei seltenen Gichtschüben sinnvoll.
� Patienten mit asymptomatischer Hyperurikämie (SU > 400 µmol/l bzw. 6,8 mg/dl) benötigen keine ULT.
� Allopurinol ist weiterhin die erste Wahl für alle Gichtpatienten. Generell sind die Xantinoxidasehemmer Allopurinol und Febuxostat gegenüber Urikosurika zu bevorzugen.
� Der Zielwert für die Harnsäure im Serum beträgt < 350 µmol/l (6 mg/dl); niedrigere Zielwerte können bei Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung sinnvoll sein.
patienten formuliert. Das ACR stuft seine Empfehlungen entweder als «stark» oder als «bedingt» ein. Die starke Empfehlung für eine Massnahme beruht auf einer mittleren bis sehr guten Datenlage; der Nutzen dieser Massnahme ist deutlich grösser als potenzielle Nebenwirkungen und Risiken. Die bedingten Empfehlungen beziehen sich auf Massnahmen, bei denen Nutzen und Risiken näher beieinander liegen und/oder zu denen zu wenige oder keine Studiendaten vorliegen. Zu den starken Empfehlungen gehörten die Regeln zur Indikationsstellung für die harnsäuresenkende Langzeittherapie (ULT). Der Zielwert für die Harnsäure im Serum beträgt < 350 µmol/l (6 mg/dl); niedrigere Zielwerte können bei Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung sinnvoll sein.
Wie wichtig ist der Lifestyle?
Bezüglich der gängigen Lifestyle-Faktoren (Alkohol, purinund fruktosereiche Lebensmittel, Körpergewicht) hat sich in den neuen ACR-Richtlinien nichts Wesentliches geändert. Der Einfluss der allgemeinen Ernährung und von speziellen Nahrungsmitteln auf den Serumharnsäurewert (SU) scheint jedoch eher gering zu sein. So betont das ACR in seinen neuen Guidelines, dass man einem Patienten nicht
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Akuttherapie im Gichtschub
First Line s Für die Akuttherapie empfiehlt das ACR niedrig dosiertes Colchicin,
NSAID oder Glukokortikoide (p.o., i.m. oder intraartikulär). Für welches Medikament man sich entscheidet, ist vom individuellen Fall und von den Präferenzen des Patienten abhängig. s Das Kühlen des Gelenks wird empfohlen. s Wenn die Patienten keine oralen Medikamente einnehmen können, sollten primär Glukokortikoide zum Einsatz kommen (i.m., i.v. oder intraartikulär) und nicht gleich IL-1-Inhibitoren oder ACTH (adrenokortikotropes Hormon).
Second Line s Falls die o. g. Medikamente nicht helfen oder kontraindiziert sind,
kommen IL-1-Inhibitoren infrage (Canakinumab [Ilaris®]).
die Schuld für seine Gichterkrankung geben dürfe, weil Gicht zu einem erheblichen Anteil auch genetisch bedingt sei. Alkohol: Das Risiko für Gichtschübe ist bei hohem Alkoholkonsum (≥ 30 Einheiten Alkohol pro Woche) erhöht, und zwar auch bei Patienten mit intensiver ULT. Der SU von Gichtpatienten, die ihren Alkoholkonsum stark einschränkten oder ganz darauf verzichteten, sank um durchschnittlich 95 µmol/l (1,6 mg/dl), und ein Glas Bier erhöht den SU um 9 µmol/l (0,16 mg/dl). Purinarme Diät: Für den Nutzen einer purinarmen Ernährung führen die ACR-Autoren eine Studie an, in der sich eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen einem erhöhten Purinkonsum und einem erhöhten Risiko für Gichtschübe zeigte. Fruktose: Der Konsum vom 1 g Fruktose pro kg Körpergewicht erhöht den SU innert 2 Stunden um 60 bis 120 µmol/l (1–2 mg/dl). Epidemiologische Studien zeigten, dass der häufige Genuss von Fruktosesirup, ein gängiges Süssungsmittel in Limonaden, mit einem erhöhten Gichtrisiko einhergeht. Andere Nahrungsmittel: Für andere Nahrungsmittel, wie beispielsweise Kirschen und Protein aus Milchprodukten, liegen keine ausreichenden Daten vor. Nur das Vitamin C ist eine Ausnahme: Wurde es früher noch zur Prävention von Gicht empfohlen, spricht sich das ACR mangels Wirkungsnachweis nun gegen den Gebrauch von Vitamin-C-Supplementen bei Gicht aus. Körpergewicht: Die Datenlage für einen positiven Zusammenhang zwischen der Reduktion eines zu hohen Gewichts und der Minderung des Gichtrisikos ist dürftig. In den meist kleinen Studien gab es unter anderem Hinweise darauf, dass Adipositas oder die Steigerung des BMI um > 5 Prozent das Gichtrisiko erhöht. Zusammenfassend spricht das ACR bedingte Empfehlungen aus ▲ für eine Einschränkung des Alkoholkonsums ▲ für eine Einschränkung purinreicher Nahrungsmittel ▲ für eine Einschränkung fruktosehaltiger Getränke und
Nahrungsmittel ▲ für eine Gewichtsreduktion bei Übergewicht oder Adi-
positas ▲ gegen den Gebrauch von Vitamin-C-Supplementen.
Welche Patienten brauchen eine ULT?
Eine ULT wird vom ACR dringend empfohlen für Patienten mit ▲ ≥ 1 subkutanen Gichttophus und/oder bildgebenden Be-
funden, die für gichtbedingte Gelenkschäden sprechen ▲ ≥ 2 Gichtschüben pro Jahr. Aber auch für Patienten ohne Tophi oder mit seltenen Gichtschüben (< 2 pro Jahr) ist eine ULT indiziert, nämlich dann, wenn sie bereits > 1 Gichtschub erlitten haben. Grundlage dieser bedingten Empfehlung ist eine Studie, in der Patienten mit ≤ 2 Gichtschüben und weniger als 1 Gichtschub im Vorjahr mit Febuxostat oder Plazebo behandelt wurden. Nach 2 Jahren waren mit Febuxostat weniger Gichtschübe zu verzeichnen als unter Plazebo (30% vs. 41%; p < 0,05). Für spezielle Gruppen von Patienten mit seltenen Gichtschüben und Faktoren wie einem SU > 540 µmol/l (9 mg/ dl), kardiovaskulären Erkrankungen oder Niereninuffizienz werden mangels Daten keine speziellen Empfehlungen gegeben. Komorbiditäten spielen jedoch eine Rolle bei der Frage, ob eine ULT bereits nach dem ersten Gichtschub begonnen werden sollte. Bei unkomplizierter Gicht ist diese nicht indiziert. Sie wird jedoch bedingt empfohlen für Patienten mit mittelschwerer bis schwerer chronischer Niereninsuffizienz (CKD-Stadium ≥ 3), SU > 540 µmol/l (9 mg/dl) oder Urolithiasis. Keine ULT brauchen Patienten mit asymptomatischer Hyperurikämie (SU > 400 µmol/l [6,8 mg/dl]). Man müsste 24 dieser Patienten 3 Jahre lang mit einer ULT behandeln, um einen inzidenten Gichtschub zu verhindern.
Wann beginnt die ULT, und wie lange dauert sie?
In der Regel beginnt die ULT nach Abklingen des Gichtschubs. Es ist jedoch auch möglich, bereits im Schub mit der ULT zu beginnen. Das kann von Vorteil sein, um den Patienten nicht zu «verlieren», weil er nach Abklingen der Beschwerden eventuell nicht mehr zurückkehrt, um eine ULT zu beginnen. Bekanntermassen ist die Therapietreue der Patienten bei der ULT gering. In einem Vergleich mit Patienten mit sechs anderen häufigen chronischen Erkrankungen landete die Gicht auf dem letzten Platz. Auch die bei der Erstellung der Guidelines einbezogenen Patientenvertreter betonten, dass die Motivation für eine ULT im Gichtschub sicher höher sei als danach. Gegen den Beginn einer ULT vor Abklingen des Gichtschubs sprechen eine potenzielle Verstärkung der Beschwerden sowie eine eventuelle Überfrachtung der Patienten mit zu viel Information auf einmal. Der Entscheid für oder gegen den Beginn einer ULT bereits während des Gichtschubs sei gemeinsam mit dem Patienten und entsprechend seinen Präferenzen zu fällen, so das ACR. Von einer Remission spricht man, wenn Patienten ≥ 1 Jahr keine Gichtschübe und keine Tophi haben. Das ACR empfiehlt, die ULT trotzdem weiterzuführen, möglichst lebenslang. Diese bedingte Empfehlung stützt sich auf die Beobachtung, dass 87 Prozent der Patienten in Remission und mit einem SU < 420 µmol/l (7 mg/dl) ohne ULT innert 5 Jahren erneute Gichtschübe erlitten. Auch die Patientenvertreter sprachen sich für die lebenslange ULT aus, sofern diese gut vertragen werde und nicht belastend sei.
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Welche Medikamente werden in welcher Dosis empfohlen?
Allopurinol (Zyloric® und Generika) ist weiterhin die erste Wahl für alle Gichtpatienten (inkl. CKD-Stadium ≥ 3). Die Xantinoxidasehemmer (XOI) Allopurinol und Febuxostat (Adenuric®) sind insbesondere bei Patienten mit CKD-Stadium ≥ 3 gegenüber Probenecid (Santuril®) zu bevorzugen. Pegloticase (in der Schweiz noch nicht zugelassen) ist keine First-Line-Option für eine ULT. Sowohl für Allopurinol und Febuxostat als auch für Probenecid gilt, dass die ULT mit einer niedrigen Dosis zu beginnen ist. Die Dosis wird im Lauf der Zeit so lange erhöht, bis der SU-Zielwert < 360 µmol/l (6 mg/dl) bei guter Verträglichkeit der Medikation erreicht wird. Die Titration sollte innert Wochen und Monaten erfolgen. Empfohlen werden Intervalle von 2 bis 5 Wochen.
Allopurinol
Für Allopurinol beträgt die Startdosis ≤ 100 mg/Tag, bei Patienten mit CKD-Stadium ≥ 3 sind initial niedrigere Dosen zu erwägen (≤ 50 mg/Tag). Um den SU-Zielwert zu erreichen, sind häufig > 300 mg/Tag notwendig. Die von der FDA maximal zugelassene Dosis beträgt 800 mg/Tag (in der Schweiz sind bis 900 mg/Tag zugelassen). Ein bestimmter HLA-Typ (HLA-B*5801) ist mit einem erhöhten Risiko für das AHS (Allopurinol Hypersensitivity Syndrome) verbunden. Ein vorgängiger genetischer Test ist nur bei Bevölkerungsgruppen indiziert, bei denen dieses Allel häufig vorkommt (bestimmte asiatische Bevölkerungsgruppen wie Han-Chinesen, Koreaner und Thailänder sowie Afroamerikaner).
Febuxostat
Für Febuxostat beträgt die Startdosis ≤ 40 mg/Tag, die Höchstdosis 80 mg/Tag. In der Schweiz besteht Limitatio für Febuxostat, wonach das Medikament von den Krankenkassen nur dann bezahlt werden muss, wenn sich Allopurinol als nicht genügend wirksam erwiesen hat oder die Patienten aufgrund von Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten nicht mit Allopurinol behandelt werden können. In den USA hatte die FDA eine Blackbox-Warnung wegen potenzieller kardiovaskulärer Risiken ausgesprochen. In der von der FDA veranlassten CARES-Studie war Febuxostat im Vergleich mit Allopurinol hinsichtlich kardiovaskulärer Ereignisse nicht unterlegen, aber es zeigte sich ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Todesfälle und eine erhöhte Gesamtmortalität (aufgrund kardiovaskulärer Ursachen). Allerdings sei die Interpretation dieser Resultate schwierig, weil die Drop-out-Rate hoch war und die meisten Todesfälle eintraten, nachdem die ULT bereits beendet worden war, so das ACR. Darüber hinaus gab es keine nicht behandelte Kontrollgruppe, sodass das absolute mit den Substanzen verbundene kardiovaskuläre Risiko unbekannt ist. In einer grossen Beobachtungsstudie zeigte sich kein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko mit Febuxostat im Vergleich mit Allopurinol. In einer weiteren Auswertung von Patientenakten war das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse mit Febuxostat sogar niedriger als mit Allopurinol, wobei in dieser Studie gewisse statistische Verzerrungen
(confounding by indication) nicht ausgeschlossen werden konnten. Angesichts der schwierigen Datenlage spricht das ACR eine bedingte Empfehlung dafür aus, dass Patienten mit einem kardiovaskulären Ereignis in der Vergangenheit oder einem neu auftretenden kardiovaskulären Ereignis in Absprache mit ihrem behandelnden Arzt zu einem anderen oralen ULT-Medikament wechseln. Letztlich sei dieser Entscheid, wie bei allen bedingten Empfehlungen in dieser Guideline, individuell und gemeinsam von Arzt und Patient zu fällen, so das ACR.
Antientzündliche Medikation nicht vergessen!
Bei Beginn einer ULT ist mit einer Verschlechterung der Gichtsymptome zu rechnen. Darum müssen gleichzeitig antientzündliche Medikamente in den ersten 3 bis 6 Monaten einer ULT gegeben werden. Die antientzündliche Medikation kann bei Bedarf auch für längere Zeit erfolgen. Empfohlen werden NSAID, Prednison oder Colchicin (in der Schweiz nicht mehr auf dem Markt).
Welchen Stellenwert haben Probenecid und Lesinurad?
Wie bereits erwähnt, wird Probenecid nicht als First-LineULT empfohlen. Falls weder Allopurinol noch Febuxostat möglich sind, kann Probenecid zum Einsatz kommen (nicht bei CKD-Stadium ≥ 3, erhöhter Harnsäureausscheidung und Urolithiasis). Die vom ACR empfohlene Anfangsdosis beträgt 500 mg 1- bis 2-mal pro Tag, in der Schweiz werden 250 mg 2-mal täglich als Startdosis empfohlen. Die Bestimmung der Harnsäure im Urin vor der Verordnung eines Urikosurikums sowie die Alkalisierung des Urins unter Urikosurikumtherapie sind nicht notwendig. Urikosurika wie Probenecid und Lesinurad (Zurampic®) können als Add-on-Therapie mit XOI zu einer besseren Kontrolle des SU-Werts führen. Das ACR favorisiert jedoch zunächst den Wechsel von einem XOI zu einem anderen (d.h. in der Regel von Allopurinol zu Febuxostat), falls der SU > 360 µmol/l (6 mg/dl) trotz Erreichen der Höchstdosis beträgt.
Pegloticase
Bis anhin nicht in der Schweiz zugelassen ist die Pegloticase,
eine pegylierte Uricase. Sie fördert den Abbau von Harn-
säure zum wasserlöslichen Allantoin, das über die Niere
ausgeschieden wird. In den USA ist die Substanz unter dem
Handelsnamen Krystexxa® zugelassen. Sie wird vom ACR
empfohlen, falls ein Patient trotz maximaler XOI-Therapie
plus Urikosurikum weiterhin SU > 360 µmol/l (6 mg/dl)
aufweist und häufige Gichtschübe erleidet und/oder Gicht-
tophi hat, die sich nicht auflösen. Ein SU > 360 µmol/l (6
mg/dl) mit seltenen Gichtschüben ohne Tophi ist hingegen
keine Indikation für Pegloticase.
s
Renate Bonifer
FitzGerald JD et al.: 2020 American College of Rheumatology guideline for the management of gout. Arthritis Care Res (Hoboken) 2020; 72(6): 744–760.
Interessenlage: Einige der Autoren der referierten Leitlinie deklarieren Forschungsgelder oder Berater- und Vortragshonorare verschiedener Firmen.
In der Guideline erfolgten die SU-Angaben in der alten Masseinheit mg/dl. Sie wurden von der Redaktion in die SI-Einheit µmol/l umgerechnet.
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