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STUDIE REFERIERT
Brustkrebstherapie
Schützt eine hormonmodulierende Therapie Frauen vor Demenz im Alter?
Die Inzidenz von Mammakarzinomen bei Frauen nimmt weiter zu, aber durch verbesserte Behandlungsmöglichkeiten wie die hormonmodulierende Therapie (HMT) sind auch die Überlebensraten gestiegen. Potenzielle zusätzliche Nutzen und Risiken von Krebstherapien erhalten daher wachsende Bedeutung. Eine aktuelle retrospektive Kohortenstudie ist der Frage nachgegangen, wie sich die HMT auf das Risiko für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen auswirkt.
JAMA Network Open
Brustkrebs ist weltweit die bei Frauen zweithäufigste Tumorerkrankung. Eine der Ursachen für die zunehmende Häufigkeit von Mammakarzinomen ist eine immer älter werdende Bevölkerung. Das Alter gilt als Hauptrisikofaktor für Brustkrebs, und im Durchschnitt sind Frauen 61 Jahre alt, wenn sie die Diagnose erhalten. Zugleich ist zunehmendes Alter aber auch derjenige Parameter, der das Risiko für die Entwicklung altersassoziierter neurodegenerativer Erkrankungen (NDE) am ungünstigsten beeinflusst. Unter diesen zeigen bei Frauen die Alzheimer-Erkrankung (AE; 2-fach) und die Multiple Sklerose (MS; 2,8-fach) eine höhere Prävalenz als bei Männern. Das verbesserte Überleben von Brustkrebspatientinnen steht in Zusammenhang mit dem Langzeitgebrauch von Antiöstrogenen. Nicht selten wird unter Einnahme dieser Medikamente jedoch über eine verminderte kognitive Funktion berichtet, die häufig erstes Anzeichen einer sich manifestierenden AE ist. Zu den zur Behandlung hormonrezeptorpositiver Mammakarzinome eingesetzten Wirkstoffen, welche direkt auf die Produktion von Östrogen oder auf dessen Rezeptoren Einfluss nehmen, zählen die selektiven Östrogenmodulatoren (SERM) Tamoxifen und Raloxifen sowie die Aromatasehemmer Exemestan (steroidal), Anastrozol und Letrozol (jeweils nicht steroidal). Um zu untersuchen, inwieweit eine Langzeit-HMT das Risiko für die Entwicklung von NDE beeinflusst, hat eine Gruppe von Medizinern und Neurowissenschaftlern der Universität von Arizona in Tucson (USA) nun anhand von Versicherungsdaten der hauptsächlich im Südosten der USA angesiedelten Be-
völkerung die bis anhin umfangreichste retrospektive Kohortenstudie zum Thema durchgeführt. Eingeschlossen in die Analyse wurden die Daten von insgesamt 57 843 postmenopausalen Frauen mit Brustkrebs im Zeitraum von 2007 bis 2017, von denen 18 126 (31,3%; mittleres Alter: 76,2 [±7] Jahre) eine HMT und 39 717 (68,7%; 76,8 [±7] Jahre) keine HMT erhalten hatten. Die Patientinnen wurden für die Dauer von 5,5 (±1,8) Jahren hinsichtlich frühestens 1 Jahr nach Brustkrebsdiagnose auftretender altersassoziierter NDE (AE, MS, Morbus Parkinson, amyotrophe Lateralsklerose [ALS]) nachbeobachtet.
Geringeres Demenzrisiko mit Tamoxifen und Aromatasehemmern
Wie die Auswertung gemäss Propensity Score Matching ergab, war die Anzahl von Brustkrebspatientinnen, bei denen während des Follow-up eine NDE diagnostiziert wurde, in der HMT-behandelten Population insgesamt geringer als in der Gruppe der nicht HMT-behandelten Frauen (12,5% [2229 von 17 878] vs. 14,3% [2559/17 878]; relatives Risiko [RR]: 0,89; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,84–0,93; p < 0,001). Dieser Unterschied ging hauptsächlich auf ein bei HMT-behandelten Frauen seltener beobachtetes Auftreten von AE (4,9% [877/17 878] vs. 6,0% [1068/17 878]; RR: 0,82; 95%-KI: 0,75–0,90; p < 0,001) und anderen Demenzformen (10,4% [1862/17 878] vs. 11,8% [2116/17 878]; RR: 0,88; 95%-KI: 0,83–0,93; p < 0,001) zurück. Stratifiziert nach Altersgruppen zeigten die Daten eine mit zunehmendem Alter
ausgeprägtere HMT-assoziierte Reduktion des Risikos für NDE insgesamt sowie für AE. Die ausgeprägteste Risikoreduktion bezüglich des Auftretens sämtlicher NDE ergab sich für tamoxifenbehandelte Frauen, gefolgt von solchen, die Aromataseinhibitoren (insbesondere Exemestan) erhalten hatten; bei raloxifenbehandelten Patientinnen war dagegen kein statistisch signifikanter Effekt zu verzeichnen. Wie die Autoren einräumen, ergeben sich unter anderem aus dem retrospektiven Charakter der Analyse von Daten, die zudem im Rahmen von gemeldeten Versicherungsfällen erhoben wurden und daher potenzielle darüber hinausgehende Behandlungen der Patienten nicht abbilden können, gewisse Limitationen ihrer Studie. Aus den Ergebnissen ihrer Untersuchung leitet sich ihrer Ansicht nach jedoch die Notwendigkeit ab, in Anbetracht der zunehmenden Häufigkeit von Mammakarzinomen bei zudem disproportional von AE und Demenz betroffenen Frauen sowie der inzwischen gestiegenen Lebenserwartung nach Krebstherapie künftig bei der Auswahl der optimalen Behandlungsstrategie vermehrt die Langzeiteffekte einzelner Therapieoptionen auf altersassoziierte NDE zu berücksichtigen. RABE s
Quelle: Branigan GL et al.: Association between hormone-modulating breast cancer therapies and incidence of neurodegenerative outcomes for women with breast cancer. JAMA Network Open 2020; 3(3): e201541; DOI:10.1001/ jamanetworkopen.2020.1541.
Interessenlage: Einer der Autoren der referierten Studie gibt an, für diese Arbeit Forschungsunterstützung vom Women’s Alzheimer’s Movement und vom National Institute on Aging erhalten zu haben.
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ARS MEDICI 20 | 2020