Transkript
FORTBILDUNG
Aktuelle Optionen bei progredienter Multipler Sklerose
Weltweit sind nur vier verlaufsmodifizierende Therapien zugelassen
Bislang sind die Möglichkeiten einer verlaufsmodifizierenden Therapie bei progredienter MS im Vergleich zur schubförmigen MS deutlich eingeschränkt. Ein Grund hierfür könnte die unterschiedliche Pathophysiologie der Neurodegeneration bei progredienter und schubförmiger MS sein. Im Folgenden werden die zurzeit bei primär oder sekundär progredienter MS zugelassenen Präparate vorgestellt.
Cornelius Kronlage und Athina Papadopoulou
Die Multiple Sklerose (MS) ist pathophysiologisch nicht nur durch entzündliche Prozesse, sondern auch durch eine Neurodegeneration im zentralen Nervensystem (ZNS) charakterisiert (1– 3). Letzteres spielt wahrscheinlich eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Progredienz (2, 3). Dabei handelt es sich um eine irreversible, klinisch manifeste Verschlechterung neurologischer Funktionen, die unabhängig von Schüben auftritt (4). Dabei kann zwischen einer primären (primär progrediente MS: PPMS) und einer sekundären Progredienz (sekundär progrediente MS: SPMS) unterschieden werden (5). Zirka 50 Prozent der Patienten mit schubförmiger MS (relapsing remitting MS: RRMS) ohne Basistherapie konvertieren innerhalb von 10 bis 15 Jahren nach Erkrankungsbeginn zur SPMS (6). Die Möglichkeiten der verlaufsmodifizierenden Therapie bei progredienter MS sind im Vergleich zur RRMS deutlich eingeschränkt. Ein Grund hierfür könnte die unterschiedliche Pathophysiologie der Neurodegeneration bei progredienter und schubförmiger MS sein (2, 3), sodass immunmodulierende, bei RRMS bewährte Substanzen hier nicht wirksam sind. Darüber hinaus ist die progrediente MS durch
MERKSÄTZE
� Die Multiple Sklerose (MS) ist pathophysiologisch durch Entzündung und Neurodegeneration im zentralen Nervensystem charakterisiert. Letztere spielt wahrscheinlich eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Progression.
� Derzeit sind weltweit insgesamt nur 4 Substanzen für Patienten mit progredienter MS zugelassen.
� In den letzten 3 Jahren wurden mit den Zulassungen von Ocrelizumab für PPMS und Siponimod für SPMS deutliche Fortschritte erreicht.
� Andere Substanzen mit möglicher neuroprotektiver Wirkung werden derzeit untersucht.
eine Kompartimentierung der entzündlichen Prozesse im ZNS bei intakter Blut-Hirn-Schranke charakterisiert (3, 7, 8). Auch für zahlreiche andere immunmodulierende beziehungsweise immunsuppressive Substanzen, die bei RRMS nicht routinemässig zum Einsatz kommen (u. a. Methotrexat, Cyclophosphamid, intravenöse Immunglobuline [IVIG], Langzeitkortikosteroide und Azathioprin), liess sich zusammenfassend keine Wirksamkeit bei progredienter MS nachweisen (9). Derzeit sind weltweit insgesamt nur 4 Substanzen für Patienten mit progredienter MS zugelassen: Interferon beta-1b, Mitoxantron, Ocrelizumab und Siponimod (Letzteres zurzeit in den USA und EU, bei noch laufendem Zulassungsverfahren in der Schweiz).
Interferon beta-1b bei SPMS
Interferon beta-1b (Betaferon®, 8 Mio IE s.c. alle 2 Tage) ist ein immunmodulierendes Medikament, das nicht nur bei RRMS, sondern auch bei SPMS zugelassen ist. Die Zulassung basierte auf den positiven Resultaten einer europäischen multizentrischen, plazebokontrollierten Studie mit insgesamt 718 Patienten (10, 11). Es konnte nach mindestens 2 Jahren Behandlung ein statistisch signifikanter Therapieeffekt hinsichtlich der Behinderungsprogression nachgewiesen werden. In einer zweiten grossen Untersuchung in Nordamerika mit 939 Teilnehmern war dies hingegen nicht nachweisbar, wohl aber ein Effekt auf die klinische Schubrate und auf kernspintomografische Surrogatmarker der Krankheitsaktivität (12). Eine retrospektive, gepoolte Analyse beider Studien ergab einen statistisch signifikanten Therapieeffekt (Hazard Ratio [HR]: 0,79; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,66 – 0,93; p = 0,008), der vor allem durch die Ergebnisse der europäischen Studie bedingt war (13); in Subgruppenanalysen fand sich ein Therapieeffekt in der gepoolten Analyse insbesondere für Patienten mit ausgeprägter Behinderungsprogression vor Studienbeginn und für Patienten mit Schüben. In einer Cochrane-Metaanalyse, in der darüber hinaus 3 randomisierte, kontrollierte Studien mit Interferon beta-1a bei SPMS berücksichtigt wurden, fand man keinen Effekt der Interferone auf die klinische Krankheitsprogression bei SPMS (14). Auch bei
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FORTBILDUNG
PPMS war bisher kein Therapieeffekt von Interferon beta-1a oder -1b nachweisbar (15). In der Schweiz ist Interferon beta-1b für die Behandlung der SPMS generell, in der EU für die Behandlung der SPMS mit durch Schübe ausgewiesener Krankheitsaktivität zugelassen. Das Medikament hat ein günstiges längerfristiges Sicherheitsprofil. Unter Berücksichtigung der oben erwähnten Studienlage ist von einem eher geringen Effekt auf die Behinderungsprogression auszugehen.
Mitoxantron bei SPMS
Mitoxantron (Novantron®) ist ein Zytostatikum, das auch zur Therapie bestimmter Malignome (v. a. Leukämien und Lymphome) zugelassen ist. Seine immunmodulierende Wirkung beruht auf der Suppression aktivierter B- und T-Lymphozyten (16). Einzelfälle und Beobachtungsstudien mit Mitoxantron bei MS, auch SPMS, lieferten ermutigende Resultate, was zur Durchführung einer randomisierten, plazebokontrollierten Studie führte (17). In diese Studie wurden insgesamt 194 relativ junge Patienten sowohl mit RRMS und Behinderungsprogression zwischen Schüben als auch mit SPMS und teilweise überlagerten Schüben eingeschlossen. Nach 2 Jahren zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den mit hoch dosiertem Mitoxantron und den mit Plazebo behandelten Patienten bezüglich der Anzahl der Schübe und der klinischen Behinderung, gemessen mittels EDSS, sowie des «ambulation index» (17). Diese Resultate führten zur Zulassung für die Therapie bei SPMS. In der Schweiz ist die Zulassung von Mitoxantron beschränkt auf gehfähige Patienten mit rasch progredientem Verlauf (RRMS sowie SPMS mit und ohne überlagerte Schübe) und Versagen oder Unverträglichkeit anderer Immunmodulatoren. Die kurz- (u. a. Übelkeit, Alopezie, Infektionen) und längerfristigen Nebenwirkungen (u. a. dosisabhängige Kardiotoxizität, Amenorrhö, therapieassoziierte Leukämie) limitieren den Gebrauch dieser Substanz (18). Vor jeder Applikation sind Echokardiografiekontrollen erforderlich, und eine kumulative Dosis von 140 mg/m2 KOF (Körperoberfläche) sollte nicht überschritten werden. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Effekte von Mitoxantron in der oben genannten Zulassungsstudie möglicherweise durch die immunmodulierende Wirkung bei Patienten mit wesentlicher entzündlich schubförmiger Krankheitsaktivität zu erklären sind. Tatsächlich lag die durchschnittliche Anzahl von Schüben innerhalb eines Jahres vor Studienbeginn bei zirka 1,3, was darauf hindeutet, dass es sich um relativ aktive SPMS-Patienten handelte. Aber auch eine Subgruppenanalyse der Patienten ohne Schübe (46 Patienten, 26%) zeigte einen Trend zugunsten von Mitoxantron (mittlere Veränderung des EDSS 0,1 ± 0,7 vs. 0,7 ± 0,9 unter Plazebo) (17). Diese Resultate sollten jedoch aufgrund der geringen Fallzahl und des retrospektiven, explorativen Charakters dieser Analyse vorsichtig interpretiert werden. Es konnten bisher keine Wirksamkeit von Mitoxantron bei PPMS (19) und kein Effekt der Substanz auf die Hirnatrophie nachgewiesen werden (20).
Ocrelizumab bei PPMS
Ocrelizumab (Ocrevus®) ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der an CD20-positive B-Zellen bindet. Diese Zel-
len spielen eine zentrale Rolle in der Pathogenese der MS (21), sodass eine Immunmodulation via B-Zell-Depletion ein Angriffspunkt für die verlaufsmodifizierende Therapie ist (22). Mit Ocrelizumab zeigte sich in zwei grossen internationalen, kontrollierten Phase-3-Studien eine deutliche Reduktion der klinischen Schübe und aktiven MRT-Läsionen im Vergleich mit s.c. Interferon beta-1a bei Patienten mit RRMS (23). Mit Ocrelizumab behandelte Patienten hatten auch ein signifikant geringeres Risiko für eine nach 3 und 6 Monaten bestätigte Behinderungsprogression im Vergleich zur Interferongruppe (23). Darüber hinaus gab es bereits Hinweise auf eine Wirksamkeit des ebenfalls gegen CD20 gerichteten monoklonalen Antikörpers Rituximab (Mabthera®) bei Patienten mit progredienter MS: Explorative Subgruppenanalysen der plazebokontrollierten OLYMPUS-Studie zeigten einen Effekt von Rituximab auf die Behinderungsprogression bei PPMS bei Patienten unter 51 Jahren und/oder mit kontrastmittelaufnehmenden Läsionen zu Beginn der Studie (24). Bei SPMS wurde in einer retrospektiven Untersuchung eine geringere und verzögerte Behinderungsprogression bei Patienten mit Rituximab (n = 54) im Vergleich zu Patienten (n = 59), die nie damit behandelt worden waren, beschrieben (8). In Übereinstimmung mit diesen ermutigenden Daten konnte man für Ocrelizumab in einer kontrollierten Phase-3-Studie (ORATORIO) (25) eine verlaufsmodifizierende Wirkung bei PPMS nachweisen. Ocrelizumab reduzierte das Risiko für eine nach 3 und 6 Monaten bestätigte Behinderungsprogression gegenüber Plazebo um 24 beziehungsweise 25 Prozent (25). Ebenso führte es zu einem geringeren Gesamtvolumen T2-hyperintenser MRT-Läsionen sowie zu einer geringeren Abnahme des Hirnvolumens. Klinisch zeigte sich zudem ein positiver Effekt auf die Gehfähigkeit (geringeres Risiko für Verschlechterung im T25FW) (25) und auf die Funktion der oberen Extremitäten (geringeres Risiko für Verschlechterung im 9HPT) (26). Anhand dieser Resultate wurde Ocrelizumab in den USA, in der EU und in der Schweiz für die Therapie bei PPMS zugelassen. In Ermangelung therapeutischer Alternativen sieht die schweizerische Fachinformation – ähnlich der amerikanischen und im Gegensatz zur europäischen – für Ocrelizumab keine Einschränkungen hinsichtlich Krankheitsdauer, Behinderungsgrad oder bildgebender Aktivität vor. Impliziert wird jedoch eine erhaltene Gehfähigkeit, welche aber nicht genau definiert wird (z. B. bezüglich Hilfsmitteln) (27). Die Verträglichkeit von Ocrelizumab ist gut, schwere infusionsbedingte Reaktionen sind selten (2,5%). In den Phase-3-Studien (23, 25) wurde ein leicht erhöhtes Risiko für Infektionen beobachtet, insbesondere Infektionen der Atemwege und Herpesinfektionen. Ebenfalls leicht erhöht war das Risiko für Neoplasien, zum Beispiel in der ORATORIO-Studie (2,3 vs. 0,8 Prozent unter Plazebo), wobei Mammakarzinome am häufigste waren (25). Darum ist im Rahmen einer Ocrelizumabtherapie auf eine regelmässige Tumorvorsorge im Rahmen der etablierten Programme zu achten. Darüber hinaus sollten mindestens 6 Wochen vor Therapiebeginn wichtige Schutzimpfungen aufgefrischt werden, weil von einer reduzierten Impfantwort unter B-Zell-Depletion auszugehen ist (28).
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Positive Zulassungsstudien bei progredienter MS
Interferon beta-1b (8 Mio. IE s.c. alle 2 Tage)
Mitoxantron
Ocrelizumab
(12 mg/m2 Körperoberfläche i.v. (600 mg i.v. alle 6 Monate
alle 3 Monate)
Siponimod (2 mg/Tag p.o.)
Name der Studie
European multicenter trial on IFNbta-1b in SPMS (10, 11)
MIMS (17)
ORATORIO (35)
EXPAND (31)
Studiendesign
Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert
Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert
Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert
Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert
Population
SPMS
«worsening» RRMS (mit Behinderungsprogression zwischen Schüben) und SPMS (94/188 = 50% der in die Analyse eingeschlossenen Patienten)
PPMS
SPMS
Anzahl Patienten (Plazebo: Verum)
358:360
64:60 (MTX 12 mg)*
244:488
546:1105
Charakteristika der Patienten mittleres Alter 41 Jahre
mittleres Alter 33 Jahre
mittleres Alter 44,6 Jahre
am Studienbeginn
(SD ca. 7,2 Jahre), mittlere
(SD ca. 8 Jahre), mittlere
(von 18 bis 56), mittlere
Krankheitsdauer 13,1 Jahre
Krankheitsdauer 10 Jahre
Krankheitsdauer 6,4 Jahre,
(SD 7 Jahre), mittlerer
(SD 7 Jahre), mittlerer
medianer EDSS 4,5
EDSS 5,2 (SD 1,1)
EDSS 4,6 (SD 1)
(von 2,5 bis 7)
mittleres Alter 48 Jahre (von 21 bis 61), mittlere Krankheitsdauer ca. 17 Jahre (mittlere Zeit seit Beginn der Progression 3,8 Jahre), medianer EDSS 6,0 (von 2 bis 7)
Studiendauer
3 Jahre
2 Jahre
ca. 3 Jahre****
ca. 2 Jahre*****
Primärer Endpunkt
Anteil der Patienten mit nach
3 Monaten bestätigter
Behinderungsprogression
anhand EDSS
multivariate Analyse von 5 klinischen Outcomes inkl. Veränderung von EDSS und «ambulation index» nach 2 Jahren**
Anteil der Patienten mit nach 3 Monaten bestätigter Behinderungsprogression anhand EDSS
Anteil der Patienten mit nach 3 Monaten bestätigter Behinderungsprogression anhand EDSS
Hauptergebnis
Interferon 39% vs. Plazebo
50% (OR 0,65; p = 0,0008)
Differenz 0,30 (p < 0,0001)
Ocrelizumab 32,9%
Siponimod 26%
in der multivariaten Analyse, in vs. Plazebo
vs. Plazebo
univariaten Analysen Differenz 39,3% (HR 0,76; p = 0,03)
32% (HR 0,79; p = 0,013)
in der Änderung des EDSS
0,24 (p = 0,0194) und des
«ambulation index» 0,21
(p = 0,0306)***
Relevante Ergebnisse der
Therapieeffekt auch
Therapieeffekt auch
sekundären Endpunkte
hinsichtlich Gesamtvolumen hinsichtlich Anzahl
der T2-hyperintensen
der T2-hyperintensen
MRT-Läsionen
MRT-Läsionen in einer
untersuchten Subgruppe
Anteil der Patienten mit nach 6 Monaten bestätigter Behinderungsprogression: Ocrelizumab 29,6% vs. Plazebo 35,7% (HR = 0,75; p = 0,04); Therapieeffekt auch hinsichtlich Gesamtvolumen der T2-hyperintensen MRT- Läsionen sowie der Hirn- atrophierate (–0,009 unter Ocrelizumab vs. –0,011 unter Plazebo; p = 0,02)
Anteil der Patienten mit nach 6 Monaten bestätigter Behinderungsprogression: Siponimod 20% vs. Plazebo 26% (HR = 0,74; p = 0,006); Therapieeffekt auch hinsichtlich Gesamtvolumen der T2hyperintensen MRT-Läsionen sowie der Hirnatrophierate (–0,005 unter Siponimod vs. –0,0065 unter Plazebo, p = 0,0002)
* Es gab auch eine dritte explorative Interventionsgruppe mit 64 Patienten, die eine geringere Dosis von MTX 5 mg/m2 Körperoberfläche erhielten. ** Die anderen drei Outcomes des primären Endpunkts waren: Anzahl von mit Steroid behandelten Schüben, Zeit bis zum ersten Schub und Veränderung im «standardisierten neurologischen Status» über 2 Jahre (17). *** Die weiteren klinischen Outcomes in den univariaten Analysen waren: adjustierte Anzahl der behandelten Schübe (0,38; p = 0,0002), Zeit bis zum ersten behandelten Schub (0,44; p = 0,0004), Änderung im «standardneurologischen Status» (0,23; p = 0,0268). **** Die mediane Studiendauer betrug 2,9 Jahre für die Ocrelizumab- und 2,8 Jahre für die Plazebogruppe. ***** Die mediane Studiendauer betrug 21 Monate (von 0,2 bis 37).
Abkürzungen: HR = Hazard Ratio, KI = Konfidenzintervall, EDSS = Expanded Disability Status Scale, KG = Körpergewicht, KM = Kontrastmittel, MRT = Magnetresonanztomografie, MTX = Mitoxantron, OR = Odds Ratio, p.o. = peroral, PPMS = primär progrediente Multiple Sklerose , s.c. = subkutan, SD = Standardabweichung, SPMS = sekundär progrediente Multiple Sklerose , 9HPT = 9-Hole-Peg-Test, T25FW = Timed 25-Foot Walk
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FORTBILDUNG
Sipominod bei SPMS
Siponimod (Mayzent®) ist ein oraler Sphingosin-1-Phosphatrezeptor-Modulator, eine Weiterentwicklung des für RRMS bereits zugelassenen Fingolimod (Gilenya®), der selektiver an die Rezeptorsubtypen 1 und 5 (S1P1 und S1P5) bindet (29). Im Vergleich zu Fingolimod hat es eine deutlich kürzere Halbwertszeit, und es wird innerhalb von 7 Tagen nach Beendigung der Therapie vom Körper eliminiert (30). Siponimod führte in der EXPAND-Studie bei SPMS (31) zu einer signifikanten Reduktion des Risikos für eine nach 3 und 6 Monaten bestätigte Behinderungsprogression (21% bzw. 26% gegenüber Plazebo) (31). Dieser Effekt war unabhängig von Schüben (32). Darüber hinaus zeigten sich bei mit Siponimod behandelten Patienten weniger entzündliche Aktivität im MRT sowie ein geringerer Verlust von Hirnvolumen gegenüber Plazebo (0,5% vs. 0,65%). In einer separaten Analyse ergaben sich zudem Hinweise für einen positiven Einfluss auf die kognitiven Funktionen (33). Ein Effekt der Substanz auf die Gehgeschwindigkeit, gemessen mit dem T25FW-Test, konnte allerdings nicht nachgewiesen werden (31). Die in der EXPAND eingeschlossenen Patienten entsprachen einer relativ typischen SPMS-Population: Die meisten (64%) hatten keine Schübe in den letzten 2 Jahren und keine kontrastmittelaufnehmenden Läsionen zu Beginn der Studie (ca. 80%). Darüber hinaus war die Mehrheit der Patienten zum Zeitpunkt des Studienbeginns auf eine Gehhilfe angewiesen (> 55%, EDSS ≥ 6 zu Studienbeginn). Dennoch ergaben Subgruppenanalysen Hinweise für eine höhere Wirksamkeit von Siponimod bei Patienten mit Schüben und/oder rascher Behinderungsprogression in den letzten 2 Jahren, sodass die Zulassung in den USA – und seit Januar 2020 auch in der EU – auf Patienten mit «aktiver SPMS» eingeschränkt ist (34, 35). Siponimod war in der EXPAND-Studie insgesamt gut verträglich, das Sicherheitsprofil scheint ähnlich demjenigen von Fingolimod zu sein (31).
Substanzen in Entwicklung
Mehrere Substanzen mit aufgrund experimenteller Daten erhoffter neuroprotektiver Wirkung wurden oder werden zurzeit bei progredienter MS untersucht (36). Als nicht wirksam erwiesen sich Amilorid, Fluoxetin und Riluzol bei SPMS (36 – 38), hochdosiertes Biotin bei PPMS und SPMS (39) und Ibudilast bei PPMS und SPMS (40). Noch ausstehend sind die Resultate von Studien mit Domperidon (41) und Simvastatin (42) bei SPMS sowie Liponsäure (43) bei progredienter MS.
Fazit
Nach vielen negativen Studien mit immunmodulierenden Substanzen bei progredienter MS wurden in den letzten 3 Jahren mit den Zulassungen von Ocrelizumab für PPMS und Siponimod für SPMS deutliche Fortschritte erreicht. Die neuen Medikamente sind wirksam im Sinne einer Verzögerung der Behinderungsprogression. Erweiterungen des Therapiespektrums in diesem Bereich in den nächsten Jahren sind zu erwarten. Generell könnte der Effekt immunmodulatorischer Therapien jedoch bei der progredienten MS begrenzt sein. Es werden bereits zahlreiche Substanzen mit einer potenziell neuroprotektiven Wirkung evaluiert. Zukünftig sind durch
ein verbessertes Verständnis der genauen pathophysiologi-
schen Mechanismen, welche der Progression zugrunde liegen,
neue Therapieansätze zu erhoffen.
s
Dr. med. Athina Papadopoulou
Oberärztin Neurologische Klinik und Poliklinik
Petersgraben 4
4031 Basel
E-Mail: athina.papadopoulou@usb.ch
Interessenlage: Dr. Athina Papadopoulou erhielt finanzielle Zuwendungen von Sanofi-Genzyme (Sprecherin), Bayer (Reiseunterstützung), Teva (Reiseunterstützung) und Hoffmann-La Roche (Reiseunterstützung) sowie Förderung durch die Universität Basel, die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft, den Schweizer Nationalfonds, die Stiftung zur Förderung der gastroenterologischen und allgemeinen klinischen Forschung und der medizinischen Bildauswertung (ausserhalb der eingereichten Arbeit). Der Autor Cornelius Kronlage hat keine potenziellen Interessenkonflikte.
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Neue Ausgabe des MS-Atlas online
MS, wird ersichtlich, dass die Zahl der MS-Patienten seit 2013 in allen Regionen der Welt zugenommen hat. Ob das an besseren Erfassungsmethoden, genaueren Diagnosen und am Bevölkerungswachstum liegt oder an einem erhöhten Risiko, an MS zu erkranken, kann nicht genau gesagt werden.
Jüngsten Daten zufolge gibt es weltweit 2,8 Millionen Menschen, die an Multipler Sklerose (MS) leiden. Das bedeutet gemäss Schätzung der MS International Federation, dass mindestens 1 von 3000 Menschen mit der Krankheit lebt. Im MS-Atlas, der bisher umfassendsten Erhebung von Daten zur
Daten aus der Schweiz
In der Schweiz wird bei 89 Prozent der Menschen anfänglich eine schubförmig remittierende MS diagnostiziert, bei der sie Phasen des Rückfalls und der Remission erleben, während bei 11 Prozent zunächst eine progressive MS diagnostiziert wird. Weltweit wird die Diagnose durchschnittlich im Alter von 32 Jahren gestellt, in der Schweiz mit 37 Jahren. Gemäss der globalen Studie leben aber mindestens 30 000 Menschen unter 18 Jahren mit MS.
Auf der Seite des MS-Atlas können Sie den kompletten Report einsehen und herunterladen. Nutzen Sie den Atlas, um sich umzuschauen oder gezielt zu suchen unter: www.atlasofms.orgMü s
ARS MEDICI 20 | 2020
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