Transkript
EDITORIAL
«Wissenschaft ist Hoffnung»
Eindrücklich waren die Nachrichten und Bilder, die schon Anfang des Jahres aus der chinesischen Industriemetropole Wuhan kamen. Und doch dauerte es lange, viel länger als das Virus brauchte, um seinem ihm vorauseilenden Ruf nachzufolgen, bis in Mitteleuropa die Menschen, also die Bevölkerung und ihre Regierungen, anfingen zu begreifen, dass sie sich plötzlich selbst im Hotspot einer grassierenden Pandemie befanden. Auch wenn entsprechende Planspiele vorlagen – darauf vorbereitet war hierzulande kaum jemand, auch nicht die zum Glück wenigen, die dies und jenes selbstverständlich «schon immer gewusst» haben wollen (tatsächlich aber meist auch im Nachhinein noch ahnungslos sind). Überraschen kann das nicht: «Aus Schaden wird man klug», lauteten der Grossmutter tröstende Worte, welche wir Kinder zwar in den hoffentlich die Tränen rasch trocknenden Wind schrieben, die aber schon damals nichts anderes meinten, als dass «erst die unmittelbare, praktische Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand einem Individuum effektives, sinnstiftendes Lernen ermögliche», wie es heute bei Wikipedia zum didaktischen Modell des erfahrungsbasierten Lernens heisst. Und hinsichtlich praktischer Auseinandersetzung mit neuartigen Virusepidemien waren fernöstliche Gesellschaften denen Europas zumindest bis Mitte März schlicht deutlich voraus. Ob die Schlüsse, die man hier wie dort daraus gezogen hat, nun tatsächlich alle so klug waren, steht dahin. Wie überhaupt bei diesem Lerngegenstand derzeit lediglich sicher zu sein scheint, dass die Ausbildung noch andauert – womöglich auch deshalb, weil für manche ein Schaden gar nicht erkennbar ist. Ebenfalls aus Fernost, genauer aus Chiba (Japan) und aus Wuhan selbst, stammt ein kürzlich online publizierter Review-Artikel (1), deren Autoren sich die Mühe gemacht haben, den aktuellen Stand der weltweit auf Hochtouren laufenden Forschung zu poten ziellen Wirk- und Impfstoffen gegen COVID-19/SARS-CoV-2 über-
sichtlich zusammenzufassen. Die immense Bedeutung des Themas muss kaum betont werden, sieht sich die Weltgemeinschaft, noch immer eher am Anfang des Pandemiegeschehens stehend, doch schier unkalkulierbaren Risiken und Schäden gegenüber, welche jeweils aus einer unkontrollierten Ausbreitung des Virus einerseits und den zu deren Eindämmung verhängten Kontaktund Ausgangssperren andererseits resultieren – ein Dilemma, das, je länger es andauert, selbst freiheitliche Gesellschaftsordnungen zu destabilisieren vermag und aus dem lediglich die Verfügbarkeit eines wirksamen Medikaments oder besser noch einer Vakzine herauszuführen scheint. Im deutschen Braunschweig, auf dem Campus der dortigen TU, wurden die dunklen Lockdown-Nächte von illuminierten, jeweils ein Fenster eines Hochhauses füllenden Buchstaben erhellt: «Wissenschaft ist Hoffnung» war die Botschaft (2). Dem ist fraglos zuzustimmen – nicht erst seit Ärzte, Epidemiologen und Virologen sich in Fernsehstudios wie Regierungshäusern die Klinken in die Hand geben, sondern weil, wie der oben erwähnte Review zeigt, rund um den Globus (und manchmal rund um die Uhr) etliche eher weniger im Rampenlicht stehende Forscher an vielversprechenden älteren und neuen Substanzen – allen voran der antivirale Ebola-Wirkstoff Remdesivir – unermüdlich arbeiten, und zwar, auch das sei an dieser Stelle einmal ausdrücklich erwähnt, in öffentlichen Laboren wie auch in solchen der häufig zu Unrecht als rein profitorientiert verunglimpften Pharmaindustrie. Hoffnung nährt sich in der Krise nicht zuletzt aber auch aus dem Wesen der Wissenschaften, und zwar nicht nur der medizinisch- epidemiologischen, sondern auch der Sozial- und Wirtschaftsdisziplinen, sich fragend (und im besten Fall aufeinander zu) zu bewegen, anstatt glaubend in vorgefassten Annahmen zu verharren. Als Wissenschaftler schaffe man keine Fakten, sondern wolle Fakten untersuchen oder identifizieren, meinte denn auch der medial omnipräsente Berliner Virologe Christian Drosten (3) kürzlich im Interview. Das macht die Prozesse natürlich langwieriger und komplexer, lässt aber nur so die Kinder in Zukunft möglicherweise zur Einsicht gelangen, bevor sie in den Brunnen fallen. Freilich kann die Wissenschaft die Politik nur beraten, nicht ersetzen, doch «als Wissenschaftler weiss ich», so Jeldrik Mainka, der Initiator der Braunschweiger Leuchtreklame, «dass die Menschheit viel anpassungsfähiger ist als jedes Virus und dass wir mithilfe der Wissenschaft und Forschung auf jeden Fall alles wieder in den Griff bekommen – alles andere ist keine Option». Was, bitte, könnte in diesen Zeiten systemrelevanter sein als ein solches Berufsethos?
Ralf Behrens
1. Zhang J et al.: Current status of potential therapeutic candidates for the COVID-19 crisis. Brain Behav Immun 2020, Apr 22; doi: 10.1016/j. bbi.2020.04.046.
2. TU Braunschweig: Wissenschaft ist Hoffnung! Braunschweiger Zeitung, 25.3.2020.
3. «Als Wissenschaftler schafft man keine Fakten», Interview mit Prof. Dr. Christian Drosten, Süddeutsche Zeitung, 24.4.2020.
ARS MEDICI 10 | 2020
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