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STUDIE REFERIERT
Testosteronsubstitution bei älteren Männern
Kleiner Anschub, aber kein Jungbrunnen ...
In letzter Zeit wird vermehrt, vor allem in den USA, auch bei Vorliegen unspezifischer Symptome, wie Antriebslosigkeit und nachlassender sexueller Leistungsfähigkeit, sowie nicht organisch bedingt niedrigen Testosteronspiegeln eine Substitution des Sexualhormons initiiert. Eine aktuelle Metaanalyse hat versucht, die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Testosteronbehandlung bei Männern ohne organische Ursache für Hypogonadismus zu quantifizieren.
Annals of Internal Medicine
Infolge einer gestörten Testosteronproduktion, entweder in den Hoden selbst oder im übergeordneten Hypothalamus-Hypophysen-System, kann sich ein Testosteronmangelsyndrom entwickeln, das sich bei betroffenen Männern vor allem auch in Form von sexuellen Appetenz- oder Funktionsstörungen äussert und als Hypogonadismus bezeichnet wird. Hierbei wird unterschieden zwischen organisch bedingtem, «klassischem» Hyogonadismus und solchem, welcher auf altersassoziierte hormonelle Veränderungen zurückgeht (Alters- bzw. Late-onset-Hypogonadismus [LOH]). Im ersten Fall, also bei primärem (Hoden) oder sekundärem (Hypothalamus, Hypophyse) Hypogonadismus, gilt eine Testosteronsubstitution als Standardbehandlung. Um den Nutzen und die Risiken einer Testosteronbehandlung bei Männern ohne organisch bedingten Testosteronmangel zu erfassen, hat ein Team von Wissenschaftlern des Minneapolis Veterans Affairs Health Care System und der University of Minnesota School of Medicine die aus randomisierten, kontrollierten (RCT) und Beobachtungsstudien (observational studies, OS) zum Thema verfügbare Evidenz zusammengetragen und als Grundlage für eine neue klinische Praxisleitlinie des American College of Physicians (ACP) ausgewertet. Insgesamt wurden 38 RCT und 20 OS in die Metaanalyse einbezogen, in denen jeweils an überwiegend älteren Männern (> 60 Jahre) die Effekte einer mindestens 6-monatigen transdermalen oder intramuskulären Testosterontherapie versus Plazebo oder keinerlei Behandlung untersucht worden waren.
Geringfügig verbesserte sexuelle Funktion
Bei der Auswertung der Daten unter Priorisierung von patientenzentrierten gegenüber intermediär gemessenen Resultaten (Körperzusammensetzung, metabolische Faktoren) zeigte sich, dass die Testosteronsubstitution zu geringfügigen Verbesserungen der sexuellen Funktion und der Lebensqualität führte, hinsichtlich weiterer physischer Parameter, depressiver Symptome, Antrieb und Vitalität sowie Kognition jedoch nahezu ohne Auswirkungen blieb. Die Lebensqualität, sofern in den Studien untersucht, wurde typischerweise über die AMS-(Aging Males’ Symptoms-)Skala erfasst, und die hier beobachteten Effekte gingen möglicherweise in erster Linie auf Veränderungen in der sexuellen Subskala zurück. Die in den einzelnen Untersuchungen berichtete Evidenz für die Wirksamkeit und auch für unerwünschte Wirkungen der Testosteronsubstitution war von geringer bis moderater Gewissheit. Bezüglich der Applikationsform (intramuskulär/ transdermal) liessen sich im Rahmen der Metaanalyse keinerlei Unterschiede in den Ergebnissen feststellen.
Langzeit- und Nebenwirkungen weiterhin unklar
Keine der eingeschlossenen Studien verfügte über ausreichend statistische Power, um das Risiko für die klinisch wichtigsten Nebenwirkungen – kardiovaskuläre Ereignisse, Prostatakrebs, Thrombembolien oder Tod – abzuschätzen, wenn nicht Patienten mit entsprechenden Risiken sogar von vornherein ausgeschlossen worden waren. Von Männern im Alter von 18 bis 50 Jahren waren kaum Daten verfügbar.
Nur wenige der Studien dauerten länger als ein Jahr, sodass die Aussagekraft der Metaanalyse hinsichtlich der Effekte und Nebenwirkungen einer Langzeittherapie sehr eingeschränkt ist. Weitere Limitationen ergeben sich aus der Tatsache, dass die minimal wichtigen Unterschiede der Studienresultate oft nicht ausgewiesen sowie ein als gering zu bewertender Testosteronspiegel und auch andere Einschlusskriterien (Körperzusammensetzung, metabolische Varia blen) jeweils unterschiedlich definiert worden waren. Zudem müssen die Ergebnisse der OS aufgrund von möglichen ungemessenen Störgrössen (confounding by indication/contraindication) mit Vorsicht interpretiert werden. Trotz der genannten Heterogenitäten in den Einzelstudien sind die Autoren der Metaanalyse der Ansicht, dass die untersuchte Stichprobe insgesamt die klinische Situation – vor allem diejenige, welche die Hausärzte als in erster Linie mit der Beurteilung und Behandlung dieser Patienten befasste Therapeutengruppe vorfinden – widerspiegelt. Konsistent mit den hier vorgestellten Resultaten hatten auch bisher publizierte systematische Reviews der Testosterontherapie bei altersbedingtem Hypogonadismus ebenfalls eine lediglich geringfügige Wirksamkeit bescheinigen und potenzielle Langzeitschäden nicht abschliessend bewerten können. RABE s
Diem SJ et al.: Efficacy and safety of testosterone treatment in men: an evidence report for a clinical practice guideline by the American College of Physicians. Ann Intern Med 2020; 172: 105–118.
Interessenlage: Die referierte Metaanalyse wurde finanziert durch einen Vertrag mit dem American College of Physicians. Die Erstautorin gibt an, Forschungsunterstützung vom National Institute on Aging erhalten zu haben.
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ARS MEDICI 6 | 2020