Transkript
STUDIE REFERIERT
NOAK für hochbetagte Patienten mit Vorhofflimmern?
Was dafür und was dagegen spricht
Die Hirnschlagprävention bei sehr alten Patienten mit Vorhofflimmern ist eine Herausforderung. Ohne Antikoagulation droht ein hohes Risiko für eine Thromboembolie und bei Verschreibung von Antikoagulanzien steigt das Blutungsrisiko markant an. Der Nutzen einer NOAK-Therapie übersteigt jedoch das Blutungsrisiko, sofern gewisse Umstände berücksichtigt werden.
Cardiology Practice
Mit zunehmendem Alter steigt auch die Inzidenz für Vorhofflimmern. Bei über 80-jährigen Patienten mit Vorhofflimmern ist das Hirnschlagrisiko vier- bis fünffach erhöht, aber auch das Risiko für schwere Blutungen steigt an, insbesondere unter einer Behandlung mit Antikoagulanzien. Die Evidenz für diese Altersgruppe ist nicht sehr gross. In den randomisierten Studien zur Antikoagulation bei Vorhofflimmern waren nur etwa 20 Prozent der Patienten aus der Altersgruppe über 75 Jahre eingeschlossen. Dies wegen des hohen Sturz- und Blutungsrisikos, insbesondere intrakranialer Blutungen. Gemäss der WHO (World Health Organization) sollte die Entscheidung zur Antikoagulation individuell aufgrund der Risikoscores CHA2DS2-VASc und HAS-BLED getroffen werden. Das Hirnschlagrisiko wird mit dem CHA2DS2-VASc-Score ermittelt. Jeweils 1 Punkt gibt es für Herzinsuffizienz, Hypertonie, Alter 65 bis 74, Diabetes mellitus, weibliches Geschlecht und vaskuläre Erkrankungen wie KHK, pAVK, Aortenaneurysma. Je 2 Punkte zählen Alter über 75 Jahre, vorgängiger Hirnschlag oder TIA (transiente ischämische Attacke). Hochsensitives Troponin-T oder -I sowie BNP können zusätzliche Informationen liefern. Das Blutungsrisiko wird mittels HASBLED-Score ermittelt. Jeweils 1 Punkt zählen dabei Hypertonie, abnormale Leber- oder Nierenfunktion, Status nach Hirnschlag, vorgängige Blutungen, labile INR, Alter über 65 Jahre, Medikamente, Alkoholabusus. Höheres Alter, Hypertonie und vorgängiger Hirnschlag weisen auf ein Risiko für Hirnschlag wie auch für Blutungen hin. Ein hohes Blutungsrisiko muss eine Antikoagulation jedoch nicht kontra-
indizieren, solange die Risikofaktoren bekannt und unter Kontrolle sind.
Vom Blutungsrisiko abhängig
Antikoagulanzien reduzieren zwar das Risiko für einen ischämischen Hirnschlag effizienter als Plättchenhemmer, dennoch werden sie wegen des erhöhten Hämorraghierisikos nicht genügend eingesetzt. Die Mehrheit der älteren Patienten mit Vorhofflimmern sollte eine Antikoagulationstherapie erhalten, ausser bei eindeutigen Kontraindikationen. Um die beste therapeutische Herangehensweise zu ermitteln, sollte das Hirnschlag- und Blutungsrisiko bei jedem Patienten ermittelt und periodisch überprüft werden. Wenn das Blutungsrisiko nicht ausserordentlich hoch ist, ist eine Antikoagulation angemessen. Überwiegt dagegen das Blutungsrisiko jenes eines Hirnschlags, sollte die Therapie abgesetzt werden. Damit steigt jedoch das Risiko für Tod und thromboembolische Komplikationen unweigerlich wieder an.
Optionen für orale Antikoagulation bei Hochbetagten
Ausgehend davon, dass die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) gleich effizient sind wie Warfarin, und Vitamin-K-Antagonisten (VKA) das Hirnschlagrisiko im Vergleich zu Plazebo reduzieren, ist der Schluss zulässig, dass eine Therapie besser ist als keine. NOAK sind für ältere Patienten mit Vorhofflimmern selektiver im Wirkmechanismus und einfacher zu handhaben als VKA. In den Zulassungsstudien haben Dabigatran, Apixaban, Rivaroxaban und Edoxaban die Nichtunterlegenheit gegenüber Warfarin unter Beweis gestellt. Für einen Einsatz bei hochbetagten Patienten gibt es jedoch nur wenig Daten.
Direkte Thrombinhemmung
Der direkte Thrombinhemmer Dabigatran ist ein Prodrug und wird zweimal täglich verabreicht. Es wird zu 80 Prozent über die Niere ausgeschieden und ist demnach bei schwerer Nierenerkrankung (Kreatininclearance [CrCl] < 30 ml/ min) kontraindiziert. In der RELY-Studie wurde Dabigatran bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern in zwei Dosierungen (110 und 150 mg) mit Warfarin verglichen. Der Anteil an Patienten älter als 75 Jahre betrug 40 Prozent. Unter Dabigatran 150 mg sank das Risiko für Hirnschlag und systemische Embolien, unter 110 mg war dieses Risiko nicht grösser als unter Warfarin. Das Risiko für extrakraniale Blutungen war in der Gruppe der über 75-Jährigen mit 150 mg grösser als Warfarin, mit 110 mg sank dieses Risiko dagegen um 20 Prozent. Beide Dosierungen reduzierten, verglichen mit Warfarin, altersunabhängig die Rate intrakranialer Blutungen. Subgruppenanalysen betreffend gastrointestinale Blutungen zeigten ein höheres Risiko für über 75-jährige Frauen und für über 85-jährige Männer. Diese Erkenntnisse legen eine zweimal tägliche Gabe von Dabigatran 110 mg bei über 80-jährigen Patienten nahe.
Faktor-Xa-Hemmer
Rivaroxaban wird vorwiegend in der Leber metabolisiert und ist damit weniger abhängig von einer Ausscheidung über die Niere. In der ROCKET-AFStudie wurde Rivaroxaban mit Warfarin verglichen. Die Dosis betrug 20 mg täglich und 15 mg bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion (CrCl 15– 49 ml/min). In dieser Studie waren 38 Prozent der Patienten über 75 Jahre alt. Rivaroxaban war Warfarin in der
574
ARS MEDICI 17 | 2019
STUDIE REFERIERT
Prävention von Hirnschlag und systemischen Embolien ebenbürtig, unabhängig von einer reduzierten oder nicht reduzierten CrCl. Das Risiko für intrakraniale Blutungen war unter Rivaroxaban tiefer und jenes für gastrointestinale Blutungen höher als bei Warfarin, das galt auch für Patienten über 75 Jahre. Apixaban wurde in der ARISTOTLEStudie mit Warfarin verglichen und in der AVERROES-Studie mit Acetylsalicylsäure (ASS) bei Patienten, die keine VKA vertragen. In beiden Studien wurde die Dosierung bei Patienten mit Serumkreatinin > 133 mmol/l (> 1,5 mg/dl), Alter > 80 Jahre oder Gewicht < 60 kg von 5 auf 2,5 mg reduziert. In der ARISTOTLE-Studie war Apixaban Warfarin in der Reduktion von Hirnschlag und Gesamtmortalität überlegen und zeigte überdies ein tieferes Risiko für schwere Blutungen unabhängig vom Alter. Bei den über 75-Jährigen (31% der Studienpopulation) war die Reduktion von Hirnschlag und systemi-
schen Embolien ähnlich wie unter Warfarin. Bezüglich schwerer Blutungen war Apixaban bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion von Vorteil. Insgesamt war der absolute Nutzen in der älteren Population grösser. In der AVERROES-Studie dagegen war die Rate von Hirnschlag und systemischen Embolien unter Apixaban im Vergleich zu ASS signifikant tiefer, mit ähnlichen Effekten bei intrakranialen Blutungen, unabhängig vom Alter. Das zeigt, dass Apixaban auch bei Patienten über 80 Jahre, die keine VKA vertragen, eine valable Option darstellt. Es kam zu keinem Anstieg von schweren Blutungsfällen. Das vierte NOAK Edoxaban wurde in der ENGAGE-AF-Studie bei 40 Prozent über 75 Jahre alten Patienten untersucht. Die Patienten erhielten randomisiert entweder Edoxaban 60 mg täglich oder Warfarin. Eine Dosisreduktion auf 30 mg pro Tag erfolgte bei CrCl ≤ 50 ml/ min, Gewicht ≤ 60 kg oder gleichzeitigem Gebrauch von P-GlykoproteinInhibitoren. In der Subgruppe der über
80-Jährigen war der präventive Effekt der auf 30 mg reduzierten Dosis bezüglich Hirnschlag und systemischen Embolien mit Warfarin vergleichbar, die Reduktion von schweren Blutungen jedoch grösser. Die Rate an intrakranialen Blutungen war unter Edoxaban tiefer als mit Warfarin, schwere gastrointestinale Blutungen jedoch waren häufiger unter der hohen Dosierung. In der ENGAGE-AF-TIMI-48-Studie stieg das Risiko für schwere Blutungen mit zunehmendem Alter markant an.
Bei Hochbetagten speziell
In der Therapie von sehr alten Patienten mit Vorhofflimmern ist zu bedenken, dass die Pharmakokinetik infolge veränderten Muskel- und Wasseranteils im Körper anders ist. Bei Dabigatran und Rivaroxaban ist keine Dosisanpassung bei Gewicht < 50 kg notwendig, eine engmaschige Überwachung ist jedoch angezeigt. Mit Apixaban und Edoxaban braucht es unter bestimmten Umständen eine Dosishalbierung. NOAK sollten, um Interaktionen vor-
STUDIE REFERIERT
zubeugen, nicht zusammen mit CYP3A4- und P-Glykoprotein-Inhibitoren kombiniert werden. Insgesamt haben NOAK ein tieferes Interaktionspotenzial als VKA und eignen sich daher besser für ältere Personen mit Polymedikation. Für Personen mit kognitiver Funktionseinschränkung stellen NOAK eine Option dar, weil die womöglich mangelhafte INR-Kontrolle mit den VKA entfällt. Der Nutzen einer Antikoagulation mit NOAK überwiegt deren Risiken im Vergleich zu Warfarin. Nicht nur das Risiko für Vorhofflimmern und Blutungen steigt mit dem Alter, sondern auch jenes für Stürze. Dieses Risiko ist aber tiefer, verglichen mit jenem für Hirnschlag bei älteren Patienten mit Vorhofflimmern. Nach Beseitigung der Risikofaktoren für Stürze können NOAK normal verschrieben werden. Verglichen mit Warfarin, haben NOAK ein geringeres Risiko für intrakraniale Blutungen, jene traumatischer Natur eingeschlossen. Daher sind sie für eine Antikoagulation zu bevorzugen.
Caveats bei Begleiterkrankungen
Alte Patienten können viele Komorbiditäten aufweisen, wie beispielsweise eine chronische Nierenerkrankung (CKD). Vor Beginn einer NOAK-Therapie sollte daher die Nierenfunktion abgeklärt und jährlich oder bei Verschlechterung oder Gebrechlichkeit (Frailty) mindestens halbjährlich überprüft werden. Die Empfehlungen der European Heart Rhythm Association diesbezüglich lauten: s Milde bis moderate CKD: VKA redu-
zieren Hirnschlag und Mortalität bei diesen Patienten, doch alle vier NOAK zeigten hier eine ausreichende Wirksamkeit und Sicherheit. s Bei Patienten mit einer CrCl < 50 ml/min und hohem Blutungsrisiko ist Dabigatran 10 mg/Tag empfohlen. s Schwere CKD: Es existieren für NOAK keine randomisierten kontrollierten Studien zur Hirnschlagprävention bei Patienten mit Vorhofflimmern mit schwerer CKD. Bei CrCl 15 bis 29 ml/min muss die Dosierung von Apixaban und Edoxaban um 50 Prozent und von Rivaroxaban um 25 Prozent reduziert werden. Dabigatran ist kontraindiziert bei CrCl-Werten < 30 ml/min. Bei Patien-
ten an der Dialyse oder mit CrCl < 15 ml/min sind Rivaroxaban, Apixaban und Edoxaban nicht empfohlen. Studien mit NOAK bei Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz sind im Gang. Bei Leberfunktionsstörungen gibt es keine Daten zu NOAK, weil diese Patienten von den Studien ausgeschlossen waren. Daher sind alle NOAK bei an der Leber erkrankten Patienten mit Koagulopathie und klinisch relevantem Blutungsrisiko kontraindiziert. Zu guter Letzt soll auf die Präferenzen des Patienten eingegangen werden, bevor eine Antikoagulationstherapie begonnen wird.
Vorteile einer NOAK-Therapie
Der grösste Vorteil der NOAK im Gegensatz zu VKA bei sehr alten Patienten ist die vorhersehbare Pharmakokinetik: schneller Wirkbeginn innerhalb 2 bis 4 Stunden (Warfarin 72 h), kurze Halbwertszeit, ein breites therapeutisches Fenster ohne notwendiges Monitoring und ein geringes Risiko für Interaktionen mit Arznei- oder Lebensmitteln. NOAK beugen bei sehr alten Patienten mit Vorhofflimmern wirksam Hirnschlag und systemischen Embolien vor. Die aktuellen Empfehlungen der Guidelines lauten daher, dass alle männlichen Patienten mit Vorhofflimmern und CHA2DS2-VASc-Score ≥ 2 beziehungsweise ≥ 3 bei Frauen oder 1 beziehungsweise 2 Punkten je nach individuellen Umständen eine orale Antikoagulation zur Thromboembolieprophylaxe erhalten sollen. Dabei sind die NOAK Apixaban, Dabigatran, Edoxaban oder Rivaroxaban erste Wahl vor dem Einsatz von VKA. Im Fall einer VKA-Therapie sollte die Zeit im therapeutischen Bereich möglichst hoch (> 70%) sein, und der Patient sollte engmaschig überwacht werden. Eine Plättchenhemmertherapie ist zur Prävention eines kardioembolischen Hirnschlags bei Vorhofflimmern nicht empfohlen. Ein weiterer Vorteil der NOAK ist das geringere Blutungsrisiko bei sehr alten Patienten. Bei über 75-jährigen Patienten war das Risiko für schwere gastrointestinale Blutungen unter Dabigatran 110 mg ähnlich hoch wie unter Warfarin, mit einer Dosierung von 150 mg war dieses grösser, wie auch mit Rivaroxaban und Edoxaban; unter Apixaban war es altersunabhängig tie-
fer. Direkte Vergleichsstudien zwischen den einzelnen NOAK gibt es nicht. Doch zeigte eine Metaanalyse mit 11 randomisierten kontrollierten Studien für alle vier NOAK eine mit VKA vergleichbare Risikoreduktion von Hirnschlag und systemischen Embolien bei über 75-jährigen Patienten mit Vorhofflimmern. Es gibt auch Nachteile: Der wichtigste ist das Fehlen von Antidota, um eine Blutung zu stoppen. Glücklicherweise haben die NOAK alle eine relativ kurze Halbwertszeit zwischen 5 und 17 Stunden (Warfarin: 36 bis 42 h). Im Fall einer Dabigatrantherapie kann Idarucizumab dessen Wirkung neutralisieren. Ein zweiter Nachteil sind die im Vergleich zu VKA höheren Kosten.
Therapiempfehlung bei hochbetagten Patienten
Ausser bei hohem Blutungsrisiko ist
eine Antikoagulation bei hochbetagten
Patienten empfohlen. Die aktuellen
Guidelines der European Society of
Cardiology empfehlen dazu NOAK auf-
grund der positiven Resultate aus den
grossen Studien. Um das Blutungsrisiko
möglichst gering zu halten, sollte die
Dosierung an Alter, Gewicht und CrCl
angepasst werden. Die gleichzeitige Ein-
nahme von nicht steroidalen Antiphlo-
gistika und Plättchenhemmern wie
auch Alkoholabusus ist zu vermeiden.
Bei Patienten mit moderat einge-
schränkter Nierenfunktion ist ein siche-
rer Einsatz von NOAK möglich, erfor-
dert jedoch eine Dosisanpassung. Le-
bensqualität, Lebenserwartung, Frailty,
Demenz sowie andere Komorbiditäten
sollen periodisch reevaluiert werden.
Bei Patienten mit Sturzrisiko ist es ver-
nünftig, eine Antikoagulation mit
NOAK (zweite Wahl VKA) zu betrei-
ben, da der Nutzen einer Antikoagula-
tion höher ist als das Risiko intrakra-
nialer Blutungen. Eine Plättchenhem-
mertherapie kann bei Patienten mit
vaskulären Erkrankungen erwogen
werden, die keine Antikoagulation
möchten.
s
Valérie Herzog
Referenzen: Toader DM et al.: Treating atrial fibrillation in very old patients with new oral anticoagulation drugs: arguments pro and contra. E-Journal of Cardiology Practice 2019; 17(5); 17. April 2019
Interessenlage: Die Autorin deklariert keine Interessenkonflikte.
576
ARS MEDICI 17 | 2019