Transkript
BERICHT
Antidepressiva wirken auch im Alter
Alzheimer oder Depression?
Depressionen verlaufen im Alter oft anders und sind nicht immer leicht zu erkennen. Erschwerend kommt in manchen Fällen die Abgrenzung gegenüber einer Demenz hinzu. Aber sie seien auch im Alter psychotherapeutisch und pharmakologisch gut behandelbar, betonte Prof. Dr. med. Reto W. Kressig, Universitäre Altersmedizin, Felix-Platter-Spital, Basel, an einer Fortbildungsveranstaltung in Zürich.
In der Altersmedizin sind die Patienten in fortgeschrittenem Alter und leiden an mehreren somatischen Erkrankungen. Liegt eine Demenz vor, gilt es zunächst immer, behandelbare Demenzursachen aufzudecken und zu therapieren. Die Liste möglicher Ursachen ist lang, in der Praxis sind aber vor allem Depression, Schilddrüsen- und Vitaminmangelerkrankungen, Schlafapnoesyndrom sowie Hirnblutungen, Tumoren und Normaldruckhydrozephalus relativ häufig.
charakterisieren (Kasten) (2). Oft nehmen Demenzkranke ihre Defizite nicht wirklich wahr, weshalb sie zur Verleugnung oder Konfabulation neigen. Häufig beunruhigt dies die Angehörigen, die dann eine Vorstellung beim Arzt veranlassen, während Depressive eher von sich aus Hilfe suchen. «Ich erlaube mir auch immer, die Frage nach der Libido zu stellen, da dies bei einer Differenzierung hilft», so Kressig.
Demenz zu selten diagnostiziert und zu selten behandelt
Depressionen sind im Alter häufig. Dies gilt besonders für alte Menschen mit Gebrechlichkeit (frailty), wie eine Metaanalyse kürzlich gezeigt hat (1). Depressionen bei alten Menschen zeigen Besonderheiten bei Symptomen und Patientenklagen. Neben der wegleitenden Freud- und Lustlosigkeit sind negative Gedanken über sich selbst, die Welt, die Zukunft und die Lebensbilanz vorherrschend. Auch können kognitive Defizite und körperliche Klagen (Somatisierung) hinzutreten. Kognitive Beeinträchtigungen erfordern die Abgrenzung von einer demenziellen Entwicklung. Anhand der Anamnese und des aktuellen Zustandsbilds lassen sich Hinweise auf eine Depression in Abgrenzung zur Demenz
KURZ & BÜNDIG
Die Depression ist eine wichtige Differenzialdiagnose, aber auch ein Risikofaktor für Demenz.
Altersdepressionen haben nicht selten eine atypische Präsentation (z.B. mürrische Verstimmung).
Altersdepressionen sind unterdiagnostiziert und untertherapiert.
Altersdepressionen bedeuten ein erhöhtes Suizidrisiko. Antidepressiva sind auch im Alter wirksam. Für die Psychotherapie gelingt der Evidenznachweis auch
bei Depressionen im höheren Lebensalter. Bezüglich der Frage der Pharmakotherapie von Depressionen
bei Demenzkranken sind die Meinungen geteilt.
Ich erlaube mir auch immer, die Frage nach der Libido zu stellen, da dies bei einer Differenzierung hilft.
Allerdings verhält sich die Symptomatik nicht immer lehrbuchgerecht. So kann die depressive Stimmung über die grösste Zeit des Tages anhalten und nicht nur im Morgentief vorherrschen. Appetit- und Gewichtsverlust gelten als typisch, aber auch eine Zunahme kommt vor. Ebenso kann bei Depression Schlaflosigkeit oder vermehrtes Schlafbedürfnis imponieren. Oft ist die depressive Symptomatik zudem bei älteren Patienten nicht so ausgeprägt, was dazu führt, dass die Erkrankung unterdiagnostiziert und untertherapiert bleibt. Entscheidet man sich für eine pharmakologische Intervention, sollte diese nach einer gewissen Zeit überprüft und allenfalls ein Absetzversuch durchgeführt werden. Allerdings ist das Risiko für einen Rückfall oder eine Chronifizierung der Depression im Alter immer zu berücksichtigen. Dass die Erkennung und Behandlung einer Depression im Alter sehr bedeutsam sind, zeigen die spezifischen Folgen der Erkrankung, zu denen vermehrte Inanspruchnahme des Gesundheitswesens, reduzierte Lebensqualität für Betroffene und ihre Angehörigen, eine schlechtere Prognose von Begleiterkrankungen sowie eine geringere Lebenserwartung und ein erhöhtes Suizidrisiko gehören. Besonders bei Männern steigt das Suizidrisiko ab 60 Jahren gemäss der Schweizer Statistik deutlich an. Bei depressiven älteren Männern ist nach Kressigs Erfahrung oft eine mürrische, gereizte Verstimmung leitendes Symptom, das es nicht zu verpassen gilt. Schliesslich ist das Vorliegen einer Depression auch ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Demenz (3).
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BERICHT
Kasten:
Wie sich Demenz und Depression in der Praxis unterscheiden lassen
Hinweis auf Demenz meist langsamer Beginn (erste Zeichen liegen länger als 1 Jahr zurück) konstante Leistungsminderung bei Aufgaben gleicher Schwierigkeit desorientiert, ungezielt, Hilfe suchend bagatellisiert, klagt weniger affektlabil, leicht umstimmbar verneint, beschuldigt andere, konfabuliert Libido erhalten
Hinweis auf Depression rascher Beginn (Dauer weniger als 6 Monate)
auffällige Leistungsschwankungen bei Aufgaben gleicher Schwierigkeit orientiert, weiss Hilfe zu finden subjektive Klagen stärker als objektive Befunde depressive Stimmung mit Morgentief Schuldgefühle und Versagensangst Libido gemindert
Altersdepressionen sprechen gut auf Psycho- und Pharmakotherapie an
«Die gute Nachricht ist, dass wir auch im Alter bei Depression über gute Behandlungsmöglichkeiten verfügen», betonte Kressig. So hat eine Metaanalyse von zehn Studien mit neueren Antidepressiva (SSRI, SNRI, DNRI im Vergleich mit Plazebo) eine Odds Ratio für das Ansprechen auf die Therapie von 1,40 (95%-Konfidenzintervall: 1,24–1,57, p < 0,001) und eine «number needed to treat» (NNT) von 11 ergeben (4). «Diese NNT ist ganz deutlich tiefer als zum Beispiel diejenige für eine Schlaganfallprophylaxe mit Acetylsalicylsäure», kommentierte Kressig. Auch für psychologische Interventionen bei Depression im Alter belegt eine grosse Metanalyse eine evidenzbasierte Wirksamkeit (5). In einer vergleichenden metaanalytischen Studie bei Depressionen im Alter war die Effektgrösse für Psychotherapien sogar etwas grösser als für Pharmakotherapien (6).
Die gute Nachricht ist, dass wir auch im Alter bei Depression über gute Behandlungsmöglichkeiten verfügen.
Soll man depressive Stimmungslagen bei Demenz überhaupt behandeln? Die schwierige Frage stellt sich in der Praxis oft, denn depressive Symptome liegen bei 30 bis 50 Prozent der Alzheimer-Patienten vor. Schwere depressive Episoden werden vor allem in frühen und mittleren Demenzstadien bei mehr als 10 Prozent der Patienten beobachtet. Bei Patienten mit vaskulären Demenzen sind bis zu 50 Prozent von schweren depressiven Episoden betroffen. Depressive Symptome zeigen sich auch bei rund der Hälfte der Fälle von Lewy-Körper-Demenz (2). Zur Pharmakotherapie von Depressionen bei Demenzkranken gibt es widersprüchliche Meinungen, und die Datenlage zu dieser Frage ist vorderhand nicht klar. Eine neuere Metaanalyse fand anhand von sieben Studien mit verschiedenen Antidepressiva (Imipramin, Clomipramin, Sertralin, Fluoxe-
tin, Mirtazapin) keine statistisch signifikante Differenz zu-
gunsten einer pharmakologischen Intervention bei Depres-
sion und gleichzeitiger Alzheimer-Demenz, allerdings gab es
einen Trend für ein im Vergleich zu Plazebo besseres Thera-
pieansprechen (7).
s
Halid Bas
Literatur: 1. Soysal P et al.: Relationship between depression and frailty in older
adults: A systematic review and meta-analysis. Ageing Res Rev 2017; 36: 78–87. 2. Leyhe T et al.: A common challenge in older adults: Classification, overlap, and therapy of depression and dementia. Alzheimers Dement 2017; 13(1): 59–71. 3. Diniz BS et al.: Late-life depression and risk of vascular dementia and Alzheimer's disease: systematic review and meta-analysis of community-based cohort studies. Br J Psychiatry 2013; 202(5): 329–335. 4. Nelson JC et al.: Efficacy of second generation antidepressants in latelife depression: a meta-analysis of the evidence. Am J Geriatr Psychiatry 2008; 16(7): 558–567. 5. Cuijpers P et al.: Managing depression in older age: psychological interventions. Maturitas 2014; 79(2): 160–169. 6. Pinquart M et al.: Treatments for later-life depressive conditions: a meta-analytic comparison of pharmacotherapy and psychotherapy. Am J Psychiatry 2006; 163(9): 1493–1501. 7. Orgeta V et al.: Efficacy of antidepressants for depression in Alzheimer's disease: Systematic review and meta-analysis. J Alzheimers Dis 2017; 58(3): 725–733.
Quelle: Vortrag Prof. Dr. med. Reto W. Kressig am Fortbildungssymposium «Psychiatrie und Somatik im Dialog 2018», 13. September 2018 in Zürich. Hauptsponsor war die Mepha Pharma AG, die keinen Einfluss auf den Inhalt des wissenschaftlichen Programms nahm.
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