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FORTBILDUNG
HbA1c-Zielwerte bei Diabetes Typ 2 neu justiert
Guidance-Statements des American College of Physicians
Das American College of Physicians (ACP) hat neue Empfehlungen zur Bestimmung von HbA1c-Zielwerten im Rahmen einer medikamentösen Blutzuckersenkung bei Diabetes Typ 2 herausgegeben. Für die meisten Patienten sind Werte zwischen 7 und 8 Prozent am besten geeignet. Niedrigere Ziele sollten nur angestrebt werden, wenn sie mit Lebensstilmassnahmen erreicht werden können. Bei einer Lebenserwartung von weniger als zehn Jahren reicht eine Linderung der diabetesbedingten Symptome aus.
Annals of Internal Medicine
Stark erhöhte Blutzuckerspiegel können langfristig zu Sehverlusten, Neuropathien, sensorischen Verlusten, Fussgeschwüren, Herzinfarkten, Schlaganfällen und Nierenerkrankungen im Endstadium führen. Eine Senkung der Blutglukose reduziert das Risiko für diese Komplikationen, kann aber mit anderen gesundheitlichen Nachteilen verbunden sein. Bei zu hohen HbA1c-Spiegeln wird in Leitlinien meist der Beginn oder die Intensivierung einer medikamentösen Blutzuckersenkung empfohlen. Der optimale HbA1c-Zielwert wird jedoch kontrovers diskutiert. Experten des ACP analysierten jetzt kürzlich die aktuellen Leitlinien amerikanischer und britischer Fachgesellschaften im Hinblick auf den Nutzen und die Risiken niedriger und höherer HbA1c-Zielwerte bei nicht schwangeren Erwachsenen mit Diabetes Typ 2. Bei den ausgewerteten Empfehlungen handelte es sich um die Leitlinien des National Institute for Health and Care Excellence (NICE), des Institute for Clinical Systems Improvement (ICSI), die gemeinsame Leitlinie der American Association of
MERKSÄTZE
Der HbA1c-Wert sollte individuell festgelegt werden. Bei medikamentöser Blutzuckersenkung sind HbA1c-Werte
zwischen 7 und 8 Prozent für die meisten Diabetes-Typ-2Patienten am besten geeignet.
HbA1c-Werte < 6,5 Prozent sind bei Diabetes Typ 2 nur anzustreben, wenn sie mit Lebensstilmassnahmen erreichbar sind.
Bei medikamentös erreichten HbA1c-Werten < 6,5 Prozent sollte eine Deintensivierung der Behandlung vorgenommen werden.
Bei begrenzter Lebenserwartung sind keine HbA1c-Zielwerte mehr erforderlich.
Clinical Endocrinologists und des American College of Endocrinology (AACE/ACE) sowie um die Leitlinien der American Diabetes Association (ADA), des Scottish Intercollegiate Guidelines Network (SIGN) und des U.S. Department of Veterans Affairs and Department of Defense (VA/DoD). Anhand der Ergebnisse erarbeiteten die ACP-Experten vier Guidance-Statements, die die Ärzte bei der Auswahl geeigneter glykämischer Zielwerte im Rahmen einer medikamentösen Blutzuckersenkung unterstützen sollen.
Individuelle HbA1c-Ziele
Statement 1: Ärzte sollten die glykämischen Ziele für Patienten mit Diabetes Typ 2 entsprechend der Medikation, dem Gesundheitszustand und der Lebenserwartung sowie den potenziellen unerwünschten Wirkungen personalisieren. In allen Leitlinien werden individuelle HbA1c-Zielwerte empfohlen, die entsprechend der voraussichtlichen Behandlungsdauer, den Komorbiditäten, dem Hypoglykämierisiko und der Medikation angepasst werden können. Des Weiteren orientiert sich der HbA1c-Zielwert am Risiko der Gewichtszunahme, am Patientenalter und an der Lebenserwartung sowie an funktionellen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen, am Sturzrisiko und an der Fähigkeit zur Compliance.
HbA1c-Wert zwischen 7 und 8 Prozent
Statement 2: Für die meisten Diabetes-Typ-2-Patienten ist ein HbA1c-Wert zwischen 7 und 8 Prozent am besten geeignet. Diese Empfehlung basiert auf den Ergebnissen von 5 Studien. Hier zeigte sich, dass HbA1c-Ziele ≤ 7 Prozent über einen Zeitraum von 5 bis 10 Jahren die Mortalität oder makrovaskuläre Ereignisse im Vergleich zu HbA1c-Werten um 8 Prozent nicht senkten, dabei aber mit schweren unerwünschten Ereignissen wie Hypoglykämien verbunden waren. In der Studie ACCORD (Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes) wurde bei HbA1c-Werten unter 6,5 Prozent sogar ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko beobachtet. HbA1c-Zielwerte von etwa 7 Prozent werden in den Leitlinien vor allem für Patienten mit neu diagnostiziertem Dia-
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FORTBILDUNG
betes und ohne schwere diabetesbedingte Komplikationen empfohlen. Da sich der Nutzen einer intensiven glykämischen Kontrolle erst nach langer Zeit zeigt, sind stringentere Ziele eher für Personen geeignet, deren Lebenserwartung mehr als 15 Jahre beträgt. Die Empfehlung eines HbA1c-Zielwerts zwischen 7 und 8 Prozent bezieht sich jedoch nur auf die pharmakologische Blutzuckersenkung. Ein niedrigerer HbA1c-Wert kann gewählt werden, wenn er durch Änderungen der Ernährung und des Lebensstils erreichbar ist. Die ACP-Experten raten dazu, Patienten die Wirksamkeit von Lebensstilinterventionen wie Sport, Ernährungsumstellung und Gewichtsverlust im Hinblick auf eine gute glykämische Kontrolle zu verdeutlichen. Die Beendigung des Rauchens, die Kontrolle des Blutdrucks und ein erfolgreiches Lipidmanagement sind bei Patienten mit Diabetes Typ 2 zur Prävention makrovaskulärer Komplikationen ebenfalls indiziert.
Deintensivierung bei zu niedrigen HbA1c-Werten
Statement 3: Bei Patienten, die mit Antidiabetika einen HbA1c-Wert unter 6,5 Prozent erreicht haben, sollte die Behandlung deintensiviert werden. In keiner Studie wurde bei HbA1c-Zielwerten unter 6,5 Prozent eine Verbesserung der klinischen Ergebnisse beobachtet. Gleichzeitig war die medikamentöse Behandlung zur Erreichung dieses Ziels mit erheblichen gesundheitlichen Nachteilen verbunden. Die ACCORD-Studie wurde aufgrund einer erhöhten Gesamtsterblichkeit, einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität und der Zunahme schwerer hypoglykämischer Ereignisse vorzeitig abgebrochen.
Die Deintensivierung der medikamentösen Blutzuckersenkung kann durch eine Reduzierung der Dosis, durch Absetzen eines Medikaments oder durch Beendigung der Behandlung vorgenommen werden.
Bei geringer Lebenserwartung keine HbA1c-Ziele
Statement 4: Bei Patienten, deren Lebenserwartung auf-
grund hohen Alters (< 80) oder chronischer Erkrankungen
wie Demenz, Krebs, Nierenerkrankungen, schwerer COPD
und Herzinsuffizienz weniger als 10 Jahre beträgt, sollten nur
die hyperglykämiebedingten Symptome gelindert und keine
HbA1c-Zielwerte mehr angestrebt werden, weil bei diesen
Personen die Risiken den Nutzen überwiegen.
In allen Leitlinien werden für Patienten mit begrenzter
Lebenserwartung, Multimorbidität oder erhöhtem Hypo-
glykämierisiko weniger stringente HbA1c-Zielvorgaben emp-
fohlen. In einer Modellstudie waren intensiviere HbA1c-Ziele
von ≤ 7,5 Prozent im Vergleich zu Werten von etwa 8,5 Pro-
zent – sogar unter der Annahme geringfügiger behandlungs-
bedingter unerwünschter Wirkungen – bei den meisten
Patienten über 55 Jahre mit mehr Schaden als Nutzen ver-
bunden.
L
Petra Stölting
Quelle: Quaseem A et al.: Hemoglobin A1c targets for glycemic control with pharmacologic therapy for nonpregnant adults with type 2 diabetes mellitus: a guidance statement update from the American College of Physicians. Ann Intern Med 2018, published online March 6, 2018.
Interessenlage: 2 der 6 Autoren der ACA-Empfehlungen wurden aufgrund finanzieller Interessenkonflikte von der Abstimmung über die neue Leitlinie ausgeschlossen.
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