Transkript
Kompressionstherapie
Geringer Druck reicht oft aus
FORTBILDUNG
Patienten mit Ödemen profitieren fast immer von einer Kompressionstherapie. Auch die meisten Menschen mit Diabetes oder peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK) lassen sich gut mit Verbänden und Strumpfsystemen versorgen. Von Stützstrumpf & Co. die Hände weglassen muss der Arzt allerdings bei fortgeschrittener pAVK (kritische Ischämie) und dekompensierter Herzinsuffizienz. Er sollte auch immer bedenken, dass niedrigere Kompressionsklassen oft genauso effektiv sind. Die Patienten kommen damit meist auch viel besser klar.
Joachim Dissemond, Peter Schlüter, Knut Kröger
Eine Kompressionstherapie ist grundsätzlich bei allen Patienten mit Ödemen der unteren Extremitäten indiziert. Besonders bei Erkrankungen des venösen und lymphatischen Gefässsystems sollte immer daran gedacht werden (13, 18). Auch wenn es nur wenige Untersuchungen dazu gibt: Der aktuellen Lehrmeinung entspricht es zudem, dass die Kompressionstherapie auch bei Patienten nach operativen Eingriffen, nach Infektionskrankheiten (z.B. Erysipel) oder bei Inflammation (z.B. Vaskulitis) vorgenommen werden sollte (4, 5). Gleiches gilt für Ödeme bei internistischen Komorbiditäten wie einer kompensierten Herz- oder Niereninsuffizienz. Hinsichtlich möglicher Kontraindikationen muss man zwischen der fortgeschrittenen (kritischen Ischämie) und der kompensierten pAVK differenzieren (vgl. Tabelle 1) (7). Patienten mit kompensierter pAVK können durchaus mit einer Kompressi-
MERKSÄTZE
Eine Kompressionstherapie ist grundsätzlich bei allen Patienten mit Ödemen der unteren Extremitäten sowie nach operativen Eingriffen, nach Infektionskrankheiten oder bei Inflammation indiziert.
Hinsichtlich möglicher Kontraindikationen ist zwischen der fortgeschrittenen (kritische Ischämie) und der kompensierten pAVK zu differenzieren.
Vor Therapiebeginn ist die arterielle Durchblutungssituation abzuklären und der Knöchel-Arm-Druck-Index (KADI) zu bestimmen.
Zur Kompressionstherapie stehen diverse Materialien und Systeme zur Verfügung, sodass sich in nahezu allen Fällen eine individuell angepasste Behandlungsstrategie finden lässt.
In der Schweiz werden ärztlich verordnete medizinische Kompressionsstrümpfe von den Krankenkassen vergütet.
Ein typischer Fall
Herr T. (79) stellt sich mit einem therapierefraktären Ulcus cruris in der Sprechstunde vor (Abbildung 1). Das Ulkus besteht seit über zwei Jahren, und Herr T. hat deshalb zum Teil ausgeprägte Schmerzen. Es wurden schon verschiedenste Wundauflagen ausprobiert. Eine apparative Diagnostik ist bislang nicht erfolgt. Kompressionsverbände lehnt Herr T. ab, da diese ihm in der Vergangenheit Schmerzen verursacht hatten.
Der Fall: Wie ging es weiter? Bei Herrn T. zeigte sich in der Duplexsonografie der Beinvenen eine Insuffizienz der V. saphena magna. Er lehnte eine operative Intervention ab, stimmte aber einer ambulant durchgeführten Schaumsklerosierung zu. Die Wunde wurde nach Säuberung weiter mit Wundauflagen versorgt. Für die Kompressionstherapie passte man Herrn T. eine adaptive Kompressionsbandage an, bei der er über Klettbänder den Kompressionsdruck selbst regulieren konnte. Nach acht Wochen war das Ulcus cruris venosum vollständig abgeheilt.
onstherapie mit bis zu 40 mmHg versorgt werden (11). Bei fortgeschrittener Polyneuropathie ist eine engmaschigere Kontrolle erforderlich, da es bei schlecht sitzenden oder fehlerhaften Materialien zu Schnürfurchen oder Druckschäden kommen kann (5).
Basisdiagnostik
Vor Beginn einer Kompressionstherapie ist die arterielle Durchblutungssituation abzuklären. Die Temperatur, die Färbung der Zehen beziehungsweise der Füsse und die Fusspulse liefern erste Hinweise. Der Knöchel-Arm-Druck-Index (KADI) wird mittels Dopplersonde und Blutdruckmanschette schnell und unkompliziert gemessen (5) (siehe Kasten).
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Kasten:
Knöchel-Arm-Druck-Index
Für die Bestimmung des Knöchel-Arm-Druck-Index (KADI) sollte der Patient fünf Minuten entspannt liegen. Dann wird jeweils der systolische Druck über der A. tibialis posterior und der A. dorsalis pedis gemessen und der höhere Wert notiert. Anschliessend erfolgt die Messung des systolischen Drucks über der A. brachialis beidseits. Auch hier verwendet man für die Berechnung nur den höheren systolischen Druck. Der Quotient aus Fussarterien- und Armarteriendruck ergibt dann den KADI (Tabelle 2).
Tabelle 1:
Kontraindikationen der Kompressionstherapie
Absolute Kontraindikationen der Kompressionstherapie
L kritische Ischämie, KADI < 0,5 oder absoluter Knöchelarteriendruck < 60 mmHg
L septische Phlebitis L Phlegmasia coerulea dolens L dekompensierte Herzinsuffizienz
Relative Kontraindikationen L fortgeschrittene Neuropathie, z.B. bei Diabetes mellitus L pAVK ohne kritische Ischämie, KADI zwischen 0,5 und 0,9 L Materialunverträglichkeiten bzw. -allergien L akute Infektionskrankheit, z.B. Erysipel
KADI: Knöchel-Arm-Druck-Index, pAVK: periphere arterielle Verschlusskrankheit
Tabelle 2:
Knöchel-Arm-Druck-Indizes (KADI) – diagnostische Interpretation und therapeutische Konsequenzen*
KADI Interpretation
0,9–1,3 Normalbefund
0,5–0,9 pAVK
< 0,5
kritische Ischämie
> 1,3 Mönckeberg-Mediasklerose
pAVK: periphere arterielle Verschlusskrankheit
Praktische Konsequenzen Kompression meist möglich Kompression meist möglich Kompression nicht möglich
Materialien
Für die Kompressionstherapie sind unterschiedliche Materialien verfügbar. Kurzzugbinden haben ein geringes Dehnungsvermögen von weniger als 100 Prozent und ermöglichen einen hohen Arbeitsdruck bei niedrigem Ruhedruck. Die Anlagetechniken sind komplex und sehr fehleranfällig (5, 14, 16). Die Verbände sollten bei mobilen Patienten eingesetzt und täglich gewechselt sowie gewaschen werden. Das Material verliert durch Verwendung und Waschen an Festigkeit, sodass Binden nach etwa einem Monat ersetzt werden sollten. Mehrkomponentensysteme sind vorgefertigte Sets mit zwei bis vier verschiedenen Binden (8). Hier werden oft Kurz- und Langzugbinden und kohäsive Materialien und Polsterbinden
Abbildung 1: Therapierefraktäres Ulcus cruris bei einem 79-jährigen Patienten
kombiniert eingesetzt. Bei einigen Mehrkomponentensystemen sind Markierungen auf die Binden gedruckt, die durch Verformung anzeigen, wann der erwünschte Kompressionsdruck bei der Vordehnung erzielt wird. Von einigen Mehrkomponentensystemen sind – neben den konventionellen Systemen, die einen Kompressionsdruck von 40 mmHg erzielen – auch sogenannte Lite-Versionen erhältlich, die lediglich 20 mmHg erzeugen. Mehrkomponentensysteme können mehrere Tage relativ konstant den Kompressionsdruck erhalten und nach entsprechender Schulung relativ einfach korrekt angelegt werden (20). Adaptive Kompressionsbandagen bestehen aus einem Unterstrumpf, der dem Hautschutz dient, und der eigentlichen Kompressionsbandage, bei der man über mehrere Klettverschlüsse segmental den Druck gezielt in einem Bereich zwischen 20 und 50 mmHg einstellen kann (10). Abschliessend wird eine Kompressionssocke angezogen. Viele Patienten sind nach kurzer Schulung in der Lage, diese Systeme selbst an- und auszuziehen (3). Ulkus-Strumpfsysteme haben einen Unterstrumpf mit einem geringen Anpressdruck, der auch nachts belassen werden kann. Er fixiert den Wundverband und dient gleichzeitig als Anziehhilfe. Darüber wird dann der eigentliche Kompressionsstrumpf angezogen. Mit An- und Ausziehhilfe können viele Patienten diese Strümpfe selbst anlegen (19). Medizinische Kompressionsstrümpfe (MKS) sind für die Langzeit- und Dauerbehandlung von Patienten mit Venenerkrankungen und nach Ulkusabheilung für die Rezidivprophylaxe indiziert (9, 12). MKS werden, je nach Indikation, in verschiedenen Kompressionsklassen (KKL) als konfektioniertes Fertigprodukt angepasst oder nach Mass angefertigt (Tabelle 3). Diese sind sowohl im Rund- als auch im Flachstrickverfahren hergestellt worden.
Kompressionstherapie mit geringen Anpressdrücken
Die Zuordnung der KKL in die Gruppen von Krankheitsbildern wurde in den letzten Jahren stark propagiert. In Studien
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Patientencharakteristika
schmal geringer Umfang geringe Ödemneigung
symptomatische pAVK mit Drücken > 50 mmHg ausgeprägte Polyneuropathie
An- und Ausziehprobleme bei Finger- oder Hüftarthrose geringe Symptomatik
kräftig grosser Umfang starke Ödemneigung Reduktion auf KKL I
«leichtes Material» KKL II
«leichtes Material» transparent
«mittleres Material» KKL II
Ödeme unter KKL II Dermatolipofaszioosklerose
Rezidivulkus
«kräftiges Material» KKL II
Erhöhung auf KKL III
«kräftiges Material» blickdicht
Kompressionsstrumpfcharakteristika
Abbildung 2: Verordnungslogik von medizinischen Kompressionsstrümpfen (pAVK: periphere arterielle Verschlusskrankheit, KKL: Kompressionsklasse; nach [6])
Tabelle 3:
Kompressionsklassen (KKL) von medizinischen Kompressionsstrümpfen (MKS)**
KKL I KKL II KKL III KKL IV
18–21 mmHg 23–32 mmHg 36–46 mmHg > 49 mmHg
hat man dies bislang aber nur selten untersucht. Aus phlebologischer Sicht favorisierte man meist hohe Kompressionsdrücke, wie sie einer KKL III entsprechen. In Deutschland werden aber auch durch Experten fast ausschliesslich MKS der KKL II verordnet (17). Viele der älteren, adipösen oder multimorbiden Patienten kommen jedoch mit den höheren KKL im Alltag nicht zurecht und wenden die Kompressionstherapie dann oft nicht regelmässig an (15). Eine Metaanalyse randomisierter Studien kommt zu dem Ergebnis, dass auch MKS der KKL I bei Patienten mit gering ausgeprägter chronisch-venöser Insuffizienz (CVI) eine gute und meist ausreichende Wirksamkeit haben, die sich durch Erhöhung des Kompressionsdrucks nicht weiter steigern lässt (1). Selbst bei der Abheilung des Ulcus cruris venosum und zu dessen Rezidivprophylaxe wirken MKS der KKL I (2).
Verordnungslogik
Aktuell wurde von einer Expertengruppe eine Verordnungslogik von MKS für Patienten mit CVI vorgestellt (6). Dieser entsprechend erhalten Patienten wie bis anhin primär einen MKS der Kompressionsklasse II. Der verordnende Arzt muss sich nur mit der Frage auseinandersetzen, ob aufgrund der Komorbiditäten oder Kofaktoren die KKL reduziert oder
erhöht werden sollte. Auf der Basis dieser Verordnung erfolgt in Absprache mit dem Patienten auch die Auswahl des geeigneten Gestricks. Ein schmales Bein mit wenig Ödemneigung kann mit einem dünneren Gestrick versorgt werden. Ein kräftiges Bein mit grösseren Umfängen ist mit einem kräftigeren Gestrick zu versorgen (Abbildung 2).
Verordnung von medizinischen Kompressionsstrümpfen in der Schweiz
Heute kann der Arzt eine Kompressionstherapie mit sehr
unterschiedlichen Materialien und Systemen vornehmen, so-
dass sich für nahezu alle Betroffenen eine individuelle Be-
handlungsstrategie finden lässt, die sich an den Bedürfnissen
und Fähigkeiten der Patienten orientiert.
In der Schweiz werden die Kosten für Ulkus-Strumpfsysteme
und MKS mit Ausnahme solcher der KKL I von Kranken-
kassen (abzüglich Franchise und Selbstbehalt) vergütet. Vo-
raussetzung ist die Vorlage einer entsprechenden ärztlichen
Verordnung. In der vom Bundesamt für Gesundheit (BAG)
herausgegebenen Mittel- und Gegenständeliste (MiGeL) sind
im Kapitel 17 die verschiedenen Kompressionstherapiemittel
aufgeführt. Von den konfektionierten Produkten, welche
auch in Apotheken oder über den Onlinehandel erhältlich
sind, sind maximal zwei Paar pro Jahr erstattungsfähig.
Massangefertigte Kompressionsbandagen sind dagegen nicht
limitiert: Hierfür übernehmen die Krankenkassen die Kosten
für sämtliche vom Arzt verordneten Versorgungen. Im ent-
sprechenden ärztlichen Rezept muss das Produkt exakt
beschrieben werden (Indikation und Diagnose gem. ICD-10-
Code, Hilfsmittelnummer oder Bezeichnung des Hilfsmittels,
KKL, Anzahl: z.B. 1 Paar oder 1 Stück, Länge: AD Knie-
strumpf, AF Halbschenkelstrumpf, AG Schenkelstrumpf, AT
Strumpfhose, Fussspitze: offen oder geschlossen), und aus-
serdem muss zwingend erwähnt sein, dass es sich um eine
Flachstrickversorgung nach Mass handelt.
L
Korrespondierender Autor: Prof. Dr. med. Joachim Dissemond Universitätsklinikum Essen Klinik und Poliklinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie D-45122 Essen
Interessenkonflikte: JD: Honorare für Vorträge, Beratungen oder Studien von BSN, Hartmann, Juzo, Lohmann & Rauscher, medi, Urgo; KK: Honorare für Vorträge von Sanofi, Bayer, UCB, BSN, Lohmann & Rauscher, Bauerfeind, Urgo; PS: Honorare für Vorträge von medi, Urgo.
Literatur unter www.arsmedici.ch
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 18/2017. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Anpassungen an Schweizer Verhältnisse erfolgten durch die Redaktion von ARS MEDICI.
* Vor Erstanlage einer Kompressionstherapie sind die arteriellen Verschlussdrücke (KADI) zu messen, um das Vorhandensein einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) abschätzen zu können.
** Einteilung nach Stärke des Drucks, der in Ruhe auf den Knöchelbereich ausgeübt wird (gemäss deutscher Norm GZG [Gütezeichengemeinschaft medizinische Kompressionsstrümpfe])
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