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BERICHT
Erhöhen Antidepressiva die Suizidalität?
Stellenwert der medikamentösen Therapie in der Suizidprävention
Suizide von Jugendlichen unter Antidepressiva führten dazu, dass diese Medikamente in der Öffentlichkeit in Verruf gerieten und dass bei behandelnden Ärzten Unsicherheiten bei der Verordnung bestehen. Mit einem kurzen Blick auf die Geschichte und dem Überblick über die wichtigsten Studien bringt Prof. Martin Hatzinger, Solothurn, im Rahmen der Fortbildung «Psychiatrie und Somatik» Klärung: Eine unterlassene Antidepressivatherapie ist das grösste Risiko für Suizidalität.
Marianne I. Knecht
Die Diskussion um die Gefährlichkeit von Antidepressiva begann 1990 mit den ersten Fallberichten aus den USA, in denen Fluoxetin eine erhöhte Suizidalität zugeschrieben wurde. 1993 veröffentlichte eine Expertengruppe des American College of Neuropsychopharmacology nach Prüfung der Datenlage ein Consensus Statement, worin festgehalten wurde, dass «… keine Evidenz dafür besteht, dass SSRI wie beispielsweise Fluoxetin Suizidgedanken in einer Häufigkeit triggern, die über jene, welche mit einer Depression oder der Behandlung mit anderen Antidepressiva assoziiert ist, hinausgeht». Weiter betont die Expertengruppe, dass «… die meisten Patienten von der Behandlung mit diesem Medikament und verwandten Substanzen substanziell profitieren». 2003 stellte das British Committee on Safety of Medicines je-
MERKSÄTZE
O Suizide unter Antidepressivatherapie sind in keiner Altersgruppe erhöht.
O Anhaltende Suidzidalitätssymptome sind bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 24 Jahre im ersten Monat einer Antidepressivatherapie möglich.
O Das grösste Risiko für Suizidalität ist eine unterlassene antidepressive Therapie.
doch Risiken bei der Behandlung einer depressiven Erkrankung mit bestimmten SSRI (ausgenommen Fluoxetin!) fest, welche bei 18-Jährigen grösser seien als der potenzielle Nutzen. Die europäische Arzneimittel-Agentur EMEA sprach 2004 sogar eine Kontraindikation für Paroxetin bei Kindern und Jugendlichen aus. Etwas weniger restriktiv formulierte im selben Jahr die FDA ihre Black-Box-Warnung, nach der alle Antidepressiva, nicht nur SSRI, zu Beginn der Behandlung bei Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren zu Suizidgedanken und suizidalem Verhalten führen können. 2007 wurde diese Warnung auf junge Erwachsene bis 24 Jahre ausgedehnt. Wohl weil Kinder und Jugendliche betroffen sind, wurde das Thema der Suizidalität unter Antidepressiva auch von der Laienpresse aufgegriffen und erreicht seither alle paar Jahre eine viel beachtete mediale Präsenz. Aber wie gefährlich sind denn nun Antidepressiva? Sollen depressive Jugendliche nicht medikamentös behandelt werden?
Keine erhöhte Suizidalität
bei Erwachsenen
Sehr viele Studien haben seit diesen Warnungen den Zusammenhang zwischen Suizidalität und Antidepressiva untersucht. Wichtig bei der Beurteilung der Studiendaten ist die Trennung von Erwachsenen und Kindern beziehungsweise Jugendlichen, wie Prof. Dr. med. Martin Hatzinger, Direktor Psychiatri-
sche Dienste soH und Chefarzt der Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Solothurn, betonte. Überdies ist eine klare Definition der unter antidepressiver Behandlung zu beobachtenden Ereignisse notwendig, denn der Begriff «Suizidalität» bezeichnet nicht nur vollendete Tötungshandlungen, sondern schliesst ebenfalls Gedanken an den Tod, eigentliche Suizidgedanken und suizidale Handlungen, welche nicht zum Tod führen (Suizidversuch, Parasuizid), mit ein. Die 2005 von Fergusson et al. veröffentlichte Übersichtsstudie aus Grossbritannien konnte bei Erwachsenen unter Behandlung mit SSRI im Querschnitt zwar eine gewisse Zunahme der Suizidversuche (OR 2,28), aber keine Erhöhung der vollendeten Suizide feststellen (OR 0,95) (1). Gunnell et al. fanden ebenfalls keine Erhöhung der Suizidrate, betonten aber, dass Suizide in klinischen Studien zu selten sind, um statistisch schlüssige Informationen zu liefern (2). Um eine aussagekräftige Studie durchzuführen, würde man über 2 Millionen Studienpatienten benötigen. Darüber hinaus seien suizidale Patienten von den meisten klinischen Studien aus ethischen Gründen ausgeschlossen. Auch neuere Studien liefern keine Hinweise auf eine erhöhtes Suizidrisiko bei der Einnahme von Antidepressiva (SSRI, Trizyklika und andere) (3). Im Gegenteil: Die Suizidversuche nahmen innerhalb des ersten Monats seit Beginn einer antidepressiven Behandlung um mehr als die Hälfte ab und wurden auch während der folgenden Monate nicht signifikant weniger (4). Hatzinger wies in seinem Referat darauf hin, dass behandelnde Ärzte sich auch über den Verlauf einer Depression im Klaren sein sollten: Wird gemäss Leitlinien eine mittelschwere oder schwere Depression diagnostiziert und mit einer antidepressiven Behandlung begonnen, so kommt es immer – analog der Behandlung beispielsweise einer Pneumonie mit Antibiotika – zu einer gewissen
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BERICHT
Latenz bis zum Ansprechen der Medikamente. In dieser Zeit ist der Patient faktisch noch unbehandelt. Kommt es während dieser Latzenzzeit zu einem Suizid, hat das wahrscheinlich eher damit zu tun, dass die Wirkung der antidepressiven Behandlung noch nicht eingetreten ist und der Suizid durch die stark depressive Symptomatik ausgelöst wurde, die zum Aufsuchen des Arztes oder der Einweisung in die Klink geführt hat. Eine indirekte Evidenz dafür, dass Antidepressiva nicht zu vermehrtem Suizid führen, zeigen auch die gleichbleibenden oder sich verringernden Suizidraten seit der Zunahme von Antidepressivaverschreibungen Anfang der Neunzigerjahre.
Auch bei Kindern und Jugendlichen
keine Zunahme der Suizide
Bei Kindern und Jugendlichen sehen die Untersuchungsergebnisse etwas anders aus. Europäische und amerikanische Studien, die antidepressive Behandlungen von Kindern und Jugendlichen mit Depressionen, aber auch mit Angstund Zwangsstörungen sowie sozialen Phobien untersuchten, kamen zum Schluss, dass das relative Risiko der Suizidalität (nicht der vollendeten Suizide!) unter Antidepressiva zwar nicht signifikant, aber dennoch moderat erhöht ist. Stone et al. konnten 2009 in einer Metaanalyse von 372 plazebokontrollierten Studien mit fast 100 000 Patienten nachweisen, dass das Suizidalitätsrisiko unter Antidepressiva streng altersabhängig ist und nur bei der Gruppe der < 25-Jährigen ein grenzwertig erhöhtes Risiko besteht (5). Ein Cochrane-Review aus dem Jahr 2012 stellt zwar eine Zunahme von suizidassoziierten Ereignissen unter Antidepressiva von 25 (Plazebo) auf 40 (Verum) fest, betont aber, dass «bei der Interpretation der Daten angesichts der methodischen Schwächen einzelner Studien Vorsicht geboten sei» (6). Wie bei den Erwachsenen lässt sich auch bei Kindern und Jugendlichen eine zeitliche Beziehung der Suizidversuche zu der Verschreibung von Antidepressiva feststellen: Die absolute Zahl der Suizidversuche liegt bei Jugendlichen bekanntermassen fünfmal höher als bei Erwachsenen, nimmt jedoch nach dem ersten Monat einer antidepressiven Behandlung um mehr als die Hälfte ab. Auch eine neuere retrospektive Kohor-
tenstudie aus dem Jahr 2015 kommt zum Schluss, dass das vor der Therapie bestehende hohe Suizidrisiko bei unter 25-Jährigen im ersten Monat nach Behandlungsbeginn bestehen bleibt (7). Eine Nutzen-Risiko-Analyse ergab für Depressionen eine Number needed to treat von 10 gegenüber einer Number needed to harm von 143, wobei mit «harm» Suizidgedanken oder Suizidhandlungen gemeint waren (8). Der Nutzen von Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen ist demnach trotz einer anfänglich weiterbestehenden Suizidialität grösser als der mögliche Schaden. Interessante Resultate lieferte auch eine toxikologische Studie. Von 1995 bis 2005 wurde in Schweden bei Kindern und Jugendlichen nach einem Suizid der Antidepressivaspiegel post mortem bestimmt. Nur 7 von 52 Kindern (< 15 Jahren) und 13 von 326 Jugendlichen (15–19 Jahre), welche sich das Leben genommen hatten, waren überhaupt antidepressiv behandelt gewesen (9). Bei keinem der 52 Kinder wurden im toxikologischen Screening SSRI entdeckt. 2014 konnte zudem ein Anstieg der Suizidrate bei den 10- bis 19-Jährigen nach der BlackBox-Warnung von 2004 nachgewiesen werden, hauptsächlich bei jungen Menschen, welche nicht antidepressiv behandelt worden waren (10). War die Warnung der FDA möglichrweise kontraproduktiv?
Nutzen einer antidepressiven
Therapie grösser als Suizidrisiko
Zusammenfassend betont Hatzinger, dass vollendete Suizide in keiner Altersgruppe erhöht seien. Suizidalitätssymptome wie Suizidgedanken und suizidale Handlungen sind jedoch bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 24 Jahre möglich. Die höchste Rate der Suizidversuche findet sich vor Behandlungsbeginn und nimmt mit der Einnahme von Antidepressiva kontinuierlich ab, ausser bei den Jugendlichen, wo die Suizidrate im ersten Monat nach Therapiebeginn anhaltend hoch bleibt. In dieser Phase bedarf es bei allen Patienten, insbesondere aber bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, einer engmaschigen Begleitung mit regelmässigem Patientenkontakt. Das antidepressivaassoziierte Suizidrisiko nimmt mit zunehmendem Alter ab. Bei Patienten > 65 Jahren sind
Suizidhandlungen unter Pharmakotherapie deutlich seltener als unter Plazebo. Eine Aktivitätssteigerung zu Beginn der antidepressiven Therapie könnte der Grund für eine vorübergehend erhöhte Suizidalität sein, zu dieser kommt es jedoch bei allen Therapieverfahren zur Behandlung einer Depression, wie Hatzinger zu bedenken gibt. Die Studien der letzten Jahre belegen, dass in allen Altersgruppen der Nutzen einer Antidepressivatherapie gegenüber einem möglichen zusätzlichen Suizidrisiko überwiegt. Eine unterlassene antidepressive Therapie stellt deshalb das grösste Risiko für Suizidalität dar. Schwere Depressionen bedürfen immer einer raschen und adäquaten Behandlung. Wird bei Kindern eine Therapie mit Antidepressiva in Betracht gezogen, sollte vor Behandlungsbeginn eine sorgfältige Risiko-NutzenAbwägung durchgeführt und in der ersten Zeit der Therapie sehr engmaschig betreut werden. O
Marianne I. Knecht
Quelle: «Antidepressiva und Selbstgefährdung: ein Widerspruch?», Vortrag im Rahmen der Fortbildung Psychiatrie und Somatik im Dialog 2017, 21. September 2017 in Zürich.
Referenzen: 1. Fergusson D et al.: Association between suicide
attempts and selective serotonin reuptake inhibitors: systematic review of randomised controlled trials. BMJ 2005; 330: 396. 2. Gunell D et al.: Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRIs) and suicide in adults: meta-analysis of drug company data from placebo controlled, randomised controlled trials submitted to the MHRA’s safety review. BMJ 2005; 330(7488): 385. 3. Cheung K et al.: Antidepressant use and the risk of suicide: a population-based cohort study. J Affect Disord 2015; 174: 479–484. 4. Simon GE et al.: Suicide risk during antidepressant treatment. Am J Psychiatry 2006; 163(1): 41–47. 5. Stone M et al.: Risk of suicidality in clinical trials of antidepressants in adults: analysis of proprietary data submitted to US Food and Drug Administration. BMJ 2009; 339: b2880. 6. Hetrick SE et al.: Newer generation antidepressants for depressive disorders in children and adolescents. Cochrane Database Syst Rev 2012; 11: CD004851. 7. Termorshuizen F et al.: Suicide Behavior Before and After the Start with Antidepressants: A High Persistent Risk in the First Month of Treatment Among the Young. Int J Neuropsychopharmacol 2015; 19(2). 8. Bridge JA et al.: Clinical response and risk for reported suicidal ideation and suicide attempts in pediatric antidepressant treatment: a meta-analysis of randomized controlled trials. JAMA 2007; 297(15): 1683–1696. 9. Isacsson G et al.: Decrease in suicide among the individuals treated with antidepressants: a controlled study of antidepressants in suicide, Sweden 1995–2005. Acta Psychiatr Scand 2009; 120 (1): 37–44. 10. Isacsson G, Ahlner J: Antidepressants and the risk of suicide in young persons – prescription trends and toxicological analyses. Acta Psychiatr Scand 2014; 129(4): 296–302.
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