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BERICHT
Die Milch machts – oder eher doch nicht?
Milchprodukte und das kardiovaskuläre Risiko
Milch gilt als gesund, zumindest für Kinder. Erwachsene scheuen dagegen vielfach den regelmässigen Verzehr wegen des möglicherweise schädlichen Einflusses der darin enthaltenen Fette. Am europäischen Kardiologenkongress in Barcelona versuchte Dr. Laurie Kopin, University of Rochester, New York (USA), entsprechende Bedenken auszuräumen und die gesundheitlichen Vorzüge der weissen Nährflüssigkeit herauszukehren.
Ralf Behrens
Seit etwa 8000 Jahren verzehren Menschen Käse und Vollfett-Milchprodukte – eine lange Zeit. Und zumindest in Relation zur sonst doch eher schnelllebigen Entwicklung auf dem Gebiet der Medizin hält sich auch die weit verbreitete Meinung, wonach gesättigte Fettsäuren, also auch Milchprodukte, eher gesundheitsschädlich, ungesättigte dagegen von Vorteil sind, schon eine halbe Ewigkeit, nämlich seit rund 50 Jahren.
Die «Fett-Kontroverse» …
In ihrem Vortrag am ESC-Kongress in Barcelona zu den Effekten von Milchprodukten auf die kardiovaskuläre Gesundheit ging Dr. Laurie Kopin denn auch zunächst auf diese andauernde «Fett-Kontroverse» ein und lieferte, zumindest die Milch betreffend, ein paar interessante Fakten: Milch enthält etwa 400 verschiedene Fettsäuren, wovon etwa 70 Prozent gesättigt, 25 Prozent einfach ungesättigt und immerhin 2,3 Prozent mehrfach ungesättigt vorliegen. Viele dieser Fettsäuren sind biologisch relevant und nützlich; insbesondere aber wird den Eigenschaften der Milchfettglobulinmembran ein protektives Potenzial im Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen (cardiovascular diseases, CVD) zugesprochen. Vor etwa zehn Jahren wurden in den USA Empfehlungen laut, dass alle Men-
schen ab einem Alter von 9 Jahren Milchprodukte (Milch, Käse, Joghurt) in der vorgeschlagenen Menge von drei Tassen pro Tag zur Prävention von CVD zu sich nehmen sollten. Gleichzeitig erschienen immer mehr Studien, die für einen kausalen Zusammenhang zwischen CVD und gesättigten Fettsäuren keinerlei zugrunde liegende physiologische Mechanismen finden konnten. Dennoch sprechen sich die Ernährungsguidelines der amerikanischen Fachgesellschaften (Dietary Guidelines for Americans, American Diabetes Association, Academy of Nutrition and Dietetics) wie auch der World Health Organization (WHO) immer noch dafür aus, dass nicht mehr als 10 Prozent der aufgenommenen Kalorien aus gesättigten Fettsäuren stammen sollten. Die American Heart Association (AHA) plädiert dagegen zwar für eine noch striktere Begrenzung von gesättigten Fettsäuren auf maximal 5 bis 6 Prozent der aufgenommenen Kalorien, räumt aber ein, dass ein höherer Verzehr von Milch und Milchprodukten mit einer geringeren Inzidenz von Diabetes mellitus (hier insbesondere Joghurt und Käse) und auch mit einem Trend zu einem geringeren Schlaganfallrisiko, wenn auch nicht signifikant mit einem höheren oder niedrigeren CVD-Risiko, assoziiert ist (1).
… und Daten aus neueren Studien
Kolpin stellte dann die Ergebnisse neuerer Studien zu den kardiovaskulären Effekten des Milchprodukteverzehrs vor. Spricht man von einem potenziellen gesundheitlichen Nutzen von Milchprodukten, ist Butter wohl davon auszunehmen, denn in einer randomisierten Crossover-Studie (2) zum Vergleich der Effekte des hinsichtlich des jeweiligen Fettgehalts angeglichenen Verzehrs von Käse gegenüber Butter wurden unter Käse um 6,9 Prozent niedrigere LDL-(low-density lipoprotein-)Cholesterin-Konzentrationen gemessen als unter Butter. Des Weiteren gibt es Hinweise für geschlechtsspezifische Assoziationen zwischen dem Verzehr von Milch und Käse mit hohem Fettanteil und dem CVDRisiko: Während bei Frauen die Aufnahme von fettreicher Milch mit einem höheren Risiko einherzugehen scheint, zeichnet sich für fettreichen Käse dagegen ein vermindertes Risiko ab. Bei Männern liessen sich entsprechende Zusammenhänge nicht beobachten (3). In der HOORN-Studie (4) an 50- bis 75-Jährigen hatte sich zwischen der Gesamtmenge von verzehrten Milchprodukten und der Veränderung von kardiovaskulären Risikofaktoren keinerlei Assoziation ergeben. In dieser populationsbasierten Untersuchung war auf der anderen Seite zwar eine erhöhte CVD-Mortalitäts-Rate bei hohem Milchprodukteverzehr beobachtet worden, diese wurde von den Studienautoren in der Endauswertung jedoch hauptsächlich auf eine Korrelation mit einer allgemein hohen Kalorienaufnahme und Adipositas zurückgeführt, wie die Referentin betonte. In einer prospektiven Studie an 35 bis 64 Jahre alten Männern (5) hatte sich im Verlauf des 25-jährigen Follow-ups eine inverse Assoziation zwischen dem
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Milchverzehr und der allgemeinen Sterblichkeit sowie der Mortalität aufgrund von kardiovaskulären, verschiedenen Nichtlungenkrebs- oder anderen Erkrankungen ergeben. Für ein erhöhtes allgemeines oder kardiovaskuläres Sterblichkeitsrisiko von regelmässigen Milchtrinkern ergaben sich demnach keinerlei Hinweise, wohl aber dafür, dass sie in verschiedener Hinsicht gesundheitlich sogar profitierten.
Was ist mit Alternativen …
Zu den in den letzten Jahren vermehrt aufgekommenen Kampagnen gegen den Milchverzehr bemerkte Kolpin, dass diese sämtlich auf keiner stabilen wissenschaftlichen Evidenz basierten. Während die in den USA zahlenmässig recht starke vegane Bewegung Milch als Nahrungsmittel jenseits der frühen Kindheit grundsätzlich ablehnt, empfiehlt die amerikanische Ernährungsleitlinie Personen mit Unverträglichkeitsreaktionen oder Laktoseintoleranz, auf Sojagetränke auszuweichen. Diese werden aufgrund ihres Nährstoffgehalts gegenub̈ er Reis- oder Mandelmilch bevorzugt.
… und mit dem Kalzium?
Verschiedene Studien haben Bedenken geschürt, dass Kalzium aus Nahrungssupplementen das CVD-Risiko erhöhen könnte. Ein solcher Zusammenhang war etwa in der NIH-AARP-Studie (6), dort allerdings nur für Männer, sowie durch die Women’s Health Initiative dann auch bei Frauen beobachtet worden. Obwohl bis anhin kein physiologischer Mechanismus bekannt ist, der eine Assoziation zwischen Kalzium und CVD nahelegen würde, gehen einige Wissenschaftler davon aus, dass eine exzessive Kalziumaufnahme aus Supplementen das homöostatische Gleichgewicht des Serumkalziums stören und zu einer temporären Hyper-
kalzämie führen könnte. Letztere geht einher mit erhöhter Blutkoagulation, Gefässkalzifizierung und arterieller Steifigkeit, welche jeweils das CVD-Risiko erhöhen. In einem 2016 veröffentlichten systematischen Review mit Metaanalyse über 4 randomisierte und 27 Beobachtungsstudien kommen die American Society for Preventive Cardiology und die National Osteoporosis Foundation jedoch zum Schluss, dass eine Zufuhr von Kalzium mit oder ohne Vitamin D bei allgemein gesunden Personen in keinerlei Zusammenhang mit dem Risiko für kardio- oder zerebrovaskuläre Erkrankungen beziehungsweise Mortalität oder die allgemeine Sterblichkeit steht. Eine die empfohlene tägliche Menge nicht überschreitende Kalziumaufnahme aus Nahrung oder Supplementen sei demnach in kardiovaskulärer Hinsicht als sicher zu betrachten (7).
Vorteile überwiegen
Abschliessend listete Kolpin nochmals die aus ihrer Sicht wesentlichen Argumente für den Verzehr von Milch und Milchprodukten auf: O verbesserte Knochengesundheit und
potenziell reduziertes Osteoporoserisiko O wichtig für die Knochengesundheit, insbesondere während Kindheit und Adoleszenz, wenn Knochenmasse aufgebaut wird O Vitamin-D-Gehalt vieler angereicherter Milchprodukte (hilfreich zur Aufrechterhaltung angemessener Kalzium- und Phosphatspiegel) O Assoziation mit vermindertem Risiko für CVD, Diabetes Typ 2 und Hypertonie O Kalziumquelle (hilfreich zur Aufrechterhaltung eines gesunden Blutdrucks) O Abschwächung von Effekten des metabolischen Syndroms
Bei allen genannten, bereits nachgewiesenen Vorzügen der Milchprodukte sieht die Referentin dennoch in verschiedenen Bereichen weiteren Forschungsbedarf. So wäre etwa die Rolle der erwähnten Milchfettglobulinmembran eingehender zu klären. Ausserdem sollte das Augenmerk eher auf das Nahrungsmittel als Ganzes und weniger auf seine einzelnen Inhaltsstoffe gerichtet sein. Zur Klärung der Frage, ob Milchprodukte (mit Ausnahme von Butter) einen neutralen oder eventuell sogar positiven Effekt auf das CVD-Risiko haben, sind weitere Studien an grossen Kohorten erforderlich. Insgesamt müssen die Fragen zum Nutzen einer Ernährung mit Milch und Milchprodukten verstärkt auch unter dem Aspekt von Adipositas und nachhaltiger Gewichtskontrolle betrachtet werden. O
Ralf Behrens
Quelle: Vortrag «Got milk? Effect of dairy products on cardiovascular disease» von Laurie Kolpin an der Jahrestagung 2017 der European Society of Cardiology (ESC), 29. August 2017, in Barcelona.
Referenzen: 1. Go AS et al.: Heart disease and stroke statistics –
2013 update: a report from the American Heart Association. Circulation 2013; 127: 143–152. 2. Hjerpsted J et al.: Cheese intake in large amounts lowers LDL-cholesterol concentrations compared with butter intake of equal fat content. Am J Clin Nutr 2011; 94: 1479–1484. 3. Sonestedt E et al.: Dairy products and its association with incidence of cardiovascular disease: the Malmö diet and cancer cohort. Eur J Epidemiol 2011; 26: 609–618. 4. van Aerde MA et al.: Dairy intake in relation to cardiovascular disease mortality and all-cause mortality: the Hoorn Study. Eur J Nutr 2013; 52: 609–616. 5. Ness A et al.: Milk, coronary heart disease and mortality. J Epidemiol Community Health 2001; 55: 379–382. 6. Xiao Q et al.: Dietary and supplemental calcium intake and cardiovascular disease mortality: the National Institutes of Health-AARP diet and health study. JAMA Intern Med 2013; 173: 639–646. 7. National Institutes of Health (NIH): Calcium – Fact Sheet for Health Professionals. https://ods.od.nih. gov/ factsheets/Calcium-HealthProfessional/
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