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BERICHT
Vorhofflimmern und KHK: Wen wie lange und womit antikoagulieren?
PD Dr. med. Jan Steffel von der Abteilung Kardiologie des Universitätsspitals Zürich sprach anlässlich des Symposiums Interventionelle Kardiologie über die neuen ESC-Guidelines zur oralen Antikoagulation von Patienten mit Vorhofflimmern und gleichzeitiger koronarer Herzkrankheit.
Marianne I. Knecht
Patienten, welche gleichermassen unter einem Vorhofflimmern (VHF) und einer koronaren Herzkrankheit (KHK) leiden, benötigen eine zuverlässige Blutverdünnung, damit sowohl Schlaganfälle als auch Stenosen der Koronarien verhindert werden können. Dabei liegt die Herausforderung darin, zwischen einer effektiven Thromboseprophylaxe und dem erhöhten Blutungsrisiko unter Antikoagulation abzuwägen. Patienten mit VHF und KHK gehören laut Dr. Steffel zu einer schwierig zu behandelnden Patientenpopula-
MERKSÄTZE
O DOAK sind bei Vorhofflimmern zur Schlaganfallprophylaxe Medikamente erster Wahl.
O DOAK sind auch bei KHK und ACS wirksam.
O ASS als Monotherapie zur Langzeitprophylaxe bei Vorhofflimmern ist obsolet.
O Vorhofflimmern und ACS und/oder Stentimplantation: Tripel-Antikoagulation mit DOAK, ASS und Clopidogrel (je geringer das atherothrombotische Risiko, desto kürzer).
O Vorhofflimmern und ACS und/oder Stentimplantation: Nach einem Jahr genügt eine Monotherapie mit einem DOAK.
tion, da lebensgefährliche Blutungen unter oraler Antikoagulation eine häufige Ursache für die erhöhte Morbidität und Mortalität dieser Patientengruppe sind. Das Verhindern von potenziellen Blutungen hat bei der Wahl der Antikoagulation und der Behandlungsdauer deshalb eminente Bedeutung.
DOAK auch bei ACS und KHK
Bisher ging man von der Annahme aus, dass Thrombozytenaggregationshemmer in den Koronargefässen, wo bekanntermassen ein hoher Druck und damit grosse Scherkräfte am Wirken sind, zur Thromboseprophylaxe am effektivsten sind. Im linken Vorhof hingegen werden geringere Drücke und niedrigere Scherkräfte erzeugt, und entsprechend seien plasmatische Antikoagulanzien bei VHF die Therapie der Wahl. Diese vereinfachte Richtlinie ist mittlerweile nicht mehr zulässig, wie Dr. Steffel in seinem Referat ausführte. Denn plasmatische Gerinnungshemmer wie die direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) sind durchaus auch beim akuten Koronarsyndrom (ACS) und bei der KHK wirksam. Schon seit Längerem weiss man, dass Vitamin-KAntagonisten (VKA) – die am längsten bekannten plasmatischen Gerinnungshemmer – bei der Sekundärprophylaxe nach ACS sehr gut wirken. Frühere Studien zeigten zudem, dass Patienten mit stabiler KHK und einer Prophylaxe mit Acetylsalicylsäure (ASS) beziehungsweise VKA gleich gut abschneiden be-
züglich des Auftretens von Reinfarkten. Mittlerweile ist ebenfalls bekannt, dass der linke Vorhof bei VHF nicht die einzige Quelle von Thromben ist. Auch Plaques aus der Aorta oder den Karotiden sind für Schlaganfälle verantwortlich. Mit dem Wegfall dieser einfachen Einteilung bei der Entscheidung für plasmatische oder zelluläre Antikoagulanzien wird die Behandlung von Patienten mit KHK und VHF etwas komplizierter. Wer nun welche Thromboseprophylaxe mit welchem Medikament benötigt, darüber geben die von der European Society of Cardiology (ESC) 2016 neu herausgegebenen Guidelines zum Management des VHF Aufschluss (1). Das Abschätzen des Schlaganfallrisikos bei Patienten mit VHF wird wie bis anhin anhand des CHA2DS2-VASc-Scores vorgenommen (Tabelle 1). Dr. Steffel betont, für die präzise Interpretation dieses Scores sei zu beachten, dass das weibliche Geschlecht allein noch nicht als Grund für eine Antikoagulation ausreicht. Erst zusammen mit einem weiteren Risikofaktor wird das Geschlecht als indikationsentscheidend gewertet. Des Weiteren umfasst der im CHA2DS2-VASc-Score als «vaskuläre Erkrankungen» bezeichnete Parameter nur einen Status nach Herzinfarkt, eine symptomatische periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) und aortale Plaques. Eine Koronaratheromatose oder auch ein Status nach elektiver Stenteinlage wird nicht zu den vaskulären Erkrankungen gezählt. Desgleichen wird das unter Antikoagulation auftretende Blutungsrisiko in den aktualisierten Richtlinien weiterhin mittels HASBLED-Score bestimmt (Tabelle 2). Hohe Werte im HAS-BLED-Score sollten aber nie dazu führen, dass einem Patienten mit VHF die orale Antikoagulation vorenthalten bleibe, so Dr. Steffel. Laut
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Tabelle 1:
CHA2DS2-VASc-Score zur Abschätzung des Thromboembolierisikos bei Vorhofflimmern
Parameter
Punkte
C Herzinsuffizienz (congestive heart failure) H Hypertension A Alter ≥ 75 Jahre D Diabetes mellitus S St. n. Stroke/TIA oder Thromboembolie V Vaskuläre Erkrankung (MI, pAVK, aortale Plaques) A Alter 65–74 Jahre Sc Weibliches Geschlecht (sex category)
1 1 2 1 2 1 1 1
TIA: transitorische ischämische Attacke; MI: Myokardinfarkt; pAVK: periphere arterielle Verschlusskrankheit
Tabelle 2:
HAS-BLED-Score («er hat geblutet») zur Abschätzung des Blutungsrisikos unter Antikoagulation bei Vorhofflimmern
Parameter
H Hypertonie A Abnormale Leber- oder Nierenfunktion S Schlaganfall in der Anamnese B Blutung in der Anamnese L Labile INR-Einstellung (< 60% der INR-Werte im Zielbereich) E Alter > 65 Jahre (elderly) D Medikamente, Alkohol (drugs)
INR: International Normalized Ratio
Punkte
1 1 1 1 1 1 1
den ESC-Guidelines 2016 soll die Diagnose eines erhöhten Blutungsrisikos dazu dienen, modifizierbare Risikofaktoren zu erkennen und wenn möglich zu verbessern.
Lebenslange Acetylsalicylsäure
hat ausgedient
Für die Schlaganfallprävention bei Patienten mit VHF und KHK gelten seit 2016 folgende Empfehlungen: Als Medikamente erster Wahl sind DOAK (beziehungsweise «new oral anticoagulants», NOAC) wie Rivaroxaban, Apixaban, Edoxaban und Dabigatran einzusetzen und gegenüber den VKA vorzuziehen (Klasse-I-Empfehlung, Evidenzgrad A). Bei Patienten mit mechanischem Klappenersatz oder einer moderaten bis schweren Mitralklappenstenose – früher als valvuläres VHF
bezeichnet – sind DOAK jedoch kontraindiziert. Hingegen können Patienten, welche zusätzlich zum VHF einen Klappenfehler wie eine Aortenstenose oder eine Mitralinsuffizienz aufweisen, problemlos mit DOAK behandelt werden. Eine Monotherapie mit dem Thrombozytenaggregationshemmer ASS wird ungeachtet des Schlaganfallrisikos nicht empfohlen. Im Gegenteil wird mittlerweile entschieden davon abgeraten (Klasse-III-Empfehlung [schädlich], Evidenzgrad B), da der Nutzen von ASS bei VHF lange Zeit über- und das Blutungsrisiko unterschätzt wurde.
DOAK als Monotherapie
zur Langzeitprophylaxe
Für Patienten mit VHF, welche nach elektiver perkutaner transluminaler Koronarangioplastie (PTCA) mit Stent
oder nach einem ACS eine Antikoagulation benötigen, ist die Therapie der Wahl eine sogenannte Tripel-Antikoagulation mit einem DOAK, ASS 75 bis 100 mg und Clopidogrel 75 mg täglich. Das Blutungsrisiko dieser Dreierkombination wird bei einer lang dauernden Behandlung auf 4,5 bis > 25 Prozent geschätzt und stellt damit eine äusserst riskante Medikation dar. Deshalb wird bei Patienten nach einer elektiven PTCA (bzw. «percutaneous coronary intervention», PCI) mit Stent eine Tripel-Antikoagulation nur für einen Monat empfohlen (Abbildung 1). Danach wird je nach Grösse des Blutungsrisikos, das in Relation zum Risiko für ein ACS oder eine Stenose gestellt wurde, für 5 beziehungsweise 11 Monate eine duale Therapie (DOAK und ASS/Clopidogrel) weitergeführt. Ab 6 Monaten beziehungsweise einem Jahr genügt schliesslich die Monotherapie mit einem DOAK. Die Empfehlungen für Patienten mit VHF und ACS sehen vor, dass bei niedrigem Blutungsrisiko für 6 Monate, bei hohem Blutungsrisiko für einen Monat eine TripelAntikoagulation durchgeführt wird (Abbildung 2). Dabei ist laut Steffel zu beachten, dass eine 6-monatige Tripeltherapie eine sehr lange Dauer darstellt und nur dann durchgeführt werden sollte, wenn das Blutungs- und das atherothrombotische Risiko tatsächlich sehr klein sind. Entsprechend dem Behandlungsschema folgt auf die Tripel- eine duale Therapie beziehungsweise nach 12 Monaten schliesslich die Monotherapie mit einem DOAK. Es sei jedoch davon auszugehen, dass die dreifache Blutgerinnungsprophylaxe längerfristig verschwinden werde, erläuterte Steffel weiter. Eine kürzlich durchgeführte Studie weise darauf hin, dass neben der erwartungsgemäss erhöhten Blutungsneigung unter TripelAntikoagulation die Wirksamkeit der Thromboseprophylaxe derjenigen von niedrig dosiertem Rivaroxaban beziehungsweise Rivaroxaban mit Plättchenhemmern entspreche.
Prasugrel und Ticagrelor noch nicht
mit VKA und DOAK kombinierbar
Zusammenfassend unterstrich Steffel den Grundsatz, dass eine Tripel-Antikoagulation umso kürzer ausfallen soll, je geringer das atherothrombotische Risiko ist. Ferner zeigen sämtliche Studien
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Patient mit Vorhofflimmern, der nach elektiver PCI mit Stent einer Antikoagulation bedarf
Patient mit Vorhofflimmern, der nach einem ACS der Antikoagulation bedarf
Niedriges Blutungsrisiko, verglichen mit dem Risiko für
ACS oder Stentthrombose
Hohes Blutungsrisiko, verglichen mit dem Risiko für
ACS oder Stentthrombose
Zeit seit dem ACS
0 1 Monat 3 Monate
6 Monate
Tripletherapiea (IIa-B)
Duale Therapieb (IIa-C)
A oder C
Duale Therapieb (IIa-C)
A oder C
12 Monate lebenslang
OAK-Monotherapiec (I-B)
OAK-Monotherapiec (I-B)
Niedriges Blutungsrisiko, verglichen mit dem Risiko für
ACS oder Stentthrombose
Hohes Blutungsrisiko, verglichen mit dem Risiko für
ACS oder Stentthrombose
Zeit seit dem ACS
0 1 Monat 3 Monate
6 Monate
12 Monate lebenslang
Tripletherapiea (IIa-B)
Duale Therapieb (IIa-C)
A oder C
OAK-Monotherapiec (I-B)
Tripletherapiea (IIa-B)
Duale Therapieb (IIa-C)
A oder C
OAK-Monotherapiec (I-B)
OAK ASS 75 –100 mg/Tag
Clopidogrel 75 mg/Tag
a Eine duale Therapie mit OAK und ASS oder Clopidogrel kann aus ausgewählten Patienten erwogen werden. b OAK plus Thrombozytenhemmer-Monotherapie. c Eine duale Therapie mit OAK und einem Thrombozytenhemmer (ASS oder Clopidogrel) kann bei Patienten mit hohem
Risiko für Koronarereignisse erwogen werden.
Abbildung 1: Antithrombotische Behandlung nach elektiver perkutaner koronarer Intervention (PCI) bei Patienten mit Vorhofflimmern (ACS: akutes Koronarsyndrom; OAK: orale Antikoagulation; ASS: Acetylsalicylsäure; aus [2])
OAK ASS 75 –100 mg/Tag
Clopidogrel 75 mg/Tag
a Eine dualeTherapie mit OAK und ASS oder Clopidogrel kann aus ausgewählten Patienten erwogen werden, insbesondere denen, die keinen Stent erhalten oder bei denen das auslösende Ereignis schon länger zurückliegt. b OAK plus Thrombozytenhemmer-Monotherapie. c Eine dualeTherapie mit OAK und einemThrombozytenhemmer (ASS oder Clopidogrel) kann bei Patienten mit hohem Risiko für Koronarereignisse erwogen werden.
Abbildung 2: Antithrombotische Behandlung nach einem ACS bei Patienten mit Vorhofflimmern (ACS: akutes Koronarsyndrom; OAK: orale Antikoagulation; ASS: Acetylsalicylsäure; aus [2])
und Guidelines mittlerweile eindeutig, dass als Therapie der Wahl für die Langzeitprophylaxe beim Vorhofflimmern DOAK einzusetzen sind. Dies gilt auch für Patienten mit KHK und ACS, bei denen DOAK gleich gut abschneiden wie VAK. Bei Patienten nach ACS und/oder Stenteinlage wird nach einem Jahr eine Monotherapie mit DOAK (und nicht mit ASS!) lebenslang weitergeführt, ausser bei gewissen Hochrisikopatienten (Hauptstammstent, St. n. Stentthrombose), wo eine zusätzliche Behandlung mit ASS noch sinnvoll ist. Zu den neuen und deutlich potenteren Plättchenhemmern (P2Y12-Antagonisten) Prasu-
grel und Ticagrelor ist bis jetzt nicht
bekannt, ob sie mit VKA oder DOAK
kombiniert werden können. Bis ent-
sprechende Studien erste Resultate
über die Unbedenklichkeit einer sol-
chen Kombinationstherapie liefern,
solle vorerst weiter mit den bekannten
Thrombozytenhemmern Clopidogrel
und ASS behandelt werden, empfahl
Steffel in seinem Schlusswort.
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Marianne I. Knecht
Quelle: Referat «Vorhofflimmern und KHK – Wann, was, bei welchem Patienten?», Vortrag von PD Dr. med. Jan Steffel, Leitender Arzt, Klinik für Kardiologie, Universitätsspital Zürich, am Symposium Interventionelle Kardiologie, 23. März 2017 in Zürich.
Referenzen: 1. European Society of Cardiology ESC, Guidelines, «Mana-
gement of Atrial Fibrillation 2016», https://academic. oup.com/eurheartj/article-lookup/doi/10.1093/ eurheartj/ ehw210, zitiert am 25.09.2017. 2. ESC-Pocket-Guidelines «Management von Vorhofflimmern, Version 2016», herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung (DGK).
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