Transkript
FORTBILDUNG
Therapie von Angst- und Panikstörungen
Erste Schritte in der Hausarztpraxis
Ob Panikattacken oder Phobien – die meisten Angstpatien-
ten behandelt der Hausarzt. Der Leidensdruck der Patien-
ten ist hoch. Unbehandelt führen Angststörungen häufig zu
einem kompletten Rückzug der Betroffenen aus dem ge-
sellschaftlichen und beruflichen Leben, was ihren Zustand
weiter verschlimmert. Das Ganze mündet in der Regel in
sekundäre psychische Erkrankungen wie Suchtleiden oder
Depressionen. Als erste Anlaufstelle spielt der Allgemein-
arzt hier eine wichtige Rolle.
Christian Knöchel
Etwa 8,5 Prozent der Patienten in deutschen Allgemeinarztpraxen leiden an einer generalisierten Angststörung und 2,5 Prozent an einer Panikstörung, wie eine WHO-Studie von 1996 zeigt (2). Über die Hälfte der Patienten mit Panikstörung hat zudem eine Agoraphobie. Etwa 40 Prozent der Angstpatienten werden entweder unzureichend, falsch oder gar nicht therapiert (3). Patienten mit diesen Erkrankungsbildern stellen sich häufig ambulant in der Hausarztpraxis vor und bitten dort um Rat und schnelle Hilfe. Liegt eine Panikstörung vor, ist der Patient meist davon überzeugt, an einer körperlichen Erkrankung zu leiden, was dann oft zu wiederholten Vorstellungen und Forderungen nach somatischer Ausschlussdiagnostik führt (2). In psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung begeben sich jedoch im ersten Jahr der Erkrankung nur etwa 20 Prozent der Patienten, obwohl genau dies angezeigt wäre, um eine Chronifizierung zu verhindern. Bei manchen Angsterkrankungen, wie der generalisierten Angststörung, warten die Betroffenen durchschnittlich mehr als ein Jahrzehnt auf eine spezifische Behandlungsaufnahme (1). Die Schnittstelle zwischen Hausarztpraxen und Psychiatern beziehungsweise Psychotherapeuten ist daher für Angststörungspatienten besonders wichtig. Grundsätzlich gilt für alle Angststörungen, dass sie vorwiegend psychotherapeutisch
MERKSATZ
O Der Patient sollte nicht die Rückmeldung erhalten, seine Symptome seien «unreal» oder «übertrieben».
behandelt werden sollten. Die primären Interventionen können jedoch durchaus vom Allgemeinarzt übernommen werden.
Sachlich und empathisch
Achten Sie bei der Behandlung darauf, dass dem Patienten zunächst die eigentliche Problematik sachlich und empathisch dargelegt wird. Häufig ist es schon schwer zu vermitteln, dass man zum Beispiel auf internistischem Fachgebiet kein manifestes Krankheitsbild feststellen kann, der Patient aber trotzdem nicht gesund ist. Ihre Aufgabe besteht nun darin, unnötige Diagnostik zu vermeiden und zum Beispiel bei Panikstörungen dem Patienten in einer sachlichen Form zu erklären, dass Sie seine Beschwerden ernst nehmen und diese für glaubwürdig erachten. Der Patient sollte von Ihnen nicht die Rückmeldung erhalten, seine Symptome seien «unreal» oder gar «übertrieben». Vielmehr sollten Sie gemeinsam mit ihm einen Bezug zwischen psychischer und physischer Symptomatik herleiten. Denn auch psychische Störungen sind oft ernsthafte Erkrankungen mit entsprechender Behandlungsrelevanz. Beim Kontakt zum Allgemeinarzt sind dabei schon erste psychoedukative Prozesse unabdingbar. Denn der Patient muss akzeptieren, dass er an einer psychischen Erkrankung leidet. Die Kernbotschaft lautet: «Angst» ist ein physiologischer Mechanismus, der bei jedem Lebewesen als «Schutzfunktion» vorhanden sein muss. Dieser an sich sinnvolle Mechanismus kann in bestimmten Fällen überaktiviert sein. Es sollten ferner die biochemischen Prozesse dahinter einfach strukturiert erläutert werden. So erkennen Patienten selbst schnell, dass Angst nie – wie von vielen Patienten zunächst angenommen – dauerhaft vorhanden und «immer gleich schlimm» vorliegend sein kann. Ferner sollte der Angstkreislauf mit seinen Prozessen (Situation → Gedanke → Gefühl → körperliche Veränderung → Verhalten) verständlich dargestellt werden (Abbildung). Auch mögliche kognitive Fehlinterpretationen, wie «Ich merke ganz deutlich meinen Herzschlag, also bekomme ich jetzt einen Herzinfarkt» sollten Sie sachlich und im Rahmen des «sokratischen Dialogs» kritisch hinterfragen und widerlegen. Beim sokratischen Dialog ist es wichtig, dass der Patient durch Hilfestellungen des Therapeuten selbst mögliche Fehlinterpretationen aufdeckt und es dadurch zu einer gewünschten kognitiven Umstrukturierung kommt.
Patienten von früher Abklärung überzeugen
Patienten unterscheiden sich stark in ihrer Aufgeschlossenheit, wenn die Rede von einer Überweisung zum Psychiater
ARS MEDICI 21 I 2017
995
FORTBILDUNG
Natürlich ist in Ausnahmesituationen eine stationär-psychiatrische Aufnahme unumgänglich. Anlässe sind akute suizidale Krisen oder derart schwerwiegende Verläufe, bei denen die Alltagsfunktion des Patienten fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Andere Gründe können komorbide Störungen, insbesondere bereits bestehende Abhängigkeitserkrankungen, aber auch schwere depressive Syndrome sein. In solchen Ausnahmefällen sollte die zeitliche Dauer der vollstationären Stabilisierung möglichst kurz gehalten werden. Hilfreich ist es häufig, die Behandlungsdauer von vornherein zu limitieren und frühzeitig eine ambulante Therapie anzustreben. Der Weg dorthin kann durch eine tagesklinische Behandlung überbrückt werden. Insgesamt sollte durch die Behandler sichergestellt werden, dass es dem Patienten trotz schwerer Angsterkrankung möglich ist, tagesklinische oder ambulante Termine wahrnehmen zu können.
Abbildung 1: «Kreislauf der Angst»
beziehungsweise der Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung ist. In unterschiedlichem Ausmass ist es deshalb nötig, oben genannte Schritte zu gehen und die Grundlage der vorliegenden Störung zu erläutern. Grundsätzlich gilt es, dem Patienten möglichst früh im Verlauf zumindest eine diagnostische Abklärung der beklagten Beschwerden auf psychiatrischem beziehungsweise psychotherapeutischem Fachgebiet nahezulegen. Medikamente sind bei Angststörungen grundsätzlich nur Mittel der zweiten Wahl. Bedenklich ist deren vorschneller oder unkritischer Einsatz, insbesondere von Benzodiazepinen, aber auch von anderen Sedativa. Solche Arzneimittel leisten dem therapeutisch problematischen Vermeidungsverhalten Vorschub. Der Patient wird zwar kurzfristig entlastet, mittel- und langfristig aber der therapeutisch notwendigen Lernerfahrung beraubt, dass Angst von allein abnehmen kann, nicht bis ins Unermessliche steigen wird und beispielsweise auch nicht zu einem Herzinfarkt führt.
Abhängigkeit schlägt Angst
Der Patient wird für Angstfreiheit auch eine Abhängigkeit in Kauf nehmen – aus seiner Sicht das weit kleinere Übel – und die Substanzen zunehmend niederschwellig einsetzen. Die Eigeninitiative wird zusätzlich gehemmt, das Selbstvertrauen sinkt, und die dysfunktionale Kognition belastet zusätzlich, nun nicht mehr ohne medikamentöse Hilfestellung leben zu können. Dies ist auch einer der Gründe, warum viele Angstpatienten sekundär eine Benzodiazepin- oder Alkoholabhängigkeit entwickeln. Daher ist besonders die Gabe von schnell wirksamen Benzodiazepinen, bis auf Ausnahmesituationen wie suizidale Krisen, strikt zu vermeiden. Auch stationäre Aufenthalte sollten so selten wie möglich in Betracht gezogen werden. Hier kann das beschützende stationäre Setting eine dysfunktionale Verstärkung haben und sich häufig nachträglich negativ auf den Behandlungsverlauf auswirken.
Langfristige Medikation
Bei schwerwiegenden Angsterkrankungen sollte jedoch nicht
auf eine langfristige medikamentöse Therapie mit zum Bei-
spiel selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI)
oder selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-
hemmern (SSNRI) verzichtet werden. Bei diesen Substanzen
bestehen keine Abhängigkeitsrisiken. Es fehlen kurzfristige
anxiolytische Effekte, weshalb auch die oben dargestellte
Problematik des Vermeidungsverhaltens und von Fehlattri-
buierungen bei diesen Substanzgruppen in den Hintergrund
tritt. Insbesondere bei Vorliegen eines deutlichen depressiven
Syndroms sollten Antidepressiva bereits frühzeitig eingesetzt
werden. Bei SSRI ist eine gute Aufklärung über potenzielle
Eindosierungseffekte (innere Unruhe und Übelkeit) notwen-
dig, da diese sonst gerade bei Angstpatienten oft zu vor-
schnellem Absetzen führen. Die Eindosierung sollte vorsich-
tig mit möglichst niedriger Dosis erfolgen, um solche Effekte
von vornherein zu vermeiden. Dem Patienten muss ferner
erläutert werden, dass ein Wirkungseintritt meist erst nach
zwei bis vier Wochen zu erwarten ist.
O
Dr. med. Christian Knöchel Vitos Klinik für forensische Psychiatrie D-64548 Riedstadt
Interessenkonflikte: keine
Literatur: 1. Becker ES, Hoyer J: Generalisierte Angststörung. Fortschritte der Psychotherapie 25.
Göttingen: Hogrefe, 2005. 2. Hoyer J et al.: Wann und wie gut erkennt der Hausarzt generalisierte Angststörungen?
Fortschr Med 2001; Sonderheft I: 26–35. 3. Margraf J, Poldrack A: Angstsyndrome in Ost- und Westdeutschland. Eine repräsen-
tative Bevölkerungserhebung. Z Klin Psychol Psychother 2000; 29(3): 157–169.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 5/2017. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
996
ARS MEDICI 21 I 2017