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FORTBILDUNG
Vorhofflimmern: aktuelle Therapie und zukünftige Managementstrategien
Integrierte Betreuungsmodelle für die patientenzentrierte Versorgung
Vorhofflimmern zählt zu den grössten kardiovaskulären Herausforderungen, da es eine häufige und chronische Erkrankung ist, die zu schwerwiegenden Folgen wie Schlaganfall, Herzinsuffizienz und plötzlichem Herztod führen kann. Wie sieht die optimale Betreuung dieser Patienten aus?
Wichtig zu wissen ist, dass viele VHF-Patienten asymptomatisch sind («stummes VHF») – ein Schlaganfall kann bei ihnen die Erstmanifestation der Erkrankung sein. Stummes VHF ist häufig. Ein systematisches EKG-Monitoring bei Patienten mit symptomatischem VHF zeigt, dass rund 70 Prozent der VHF-Episoden asymptomatisch verlaufen.
The Lancet
In Europa sind 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung von Vorhofflimmern (VHF) betroffen, und mehr als 1 Prozent des europäischen Gesundheitsbudgets wird für das VHF-Management ausgegeben. Während von den unter 50-Jährigen nur 0,5 Prozent von VHF betroffen sind, haben mehr als 10 Prozent der Menschen ab 80 Jahren ein VHF. Aufgrund des demografischen Wandels dürfte die Zahl der VHF-Patienten in den nächsten Jahren weiter ansteigen. VHF ist eine häufige Ursache für ischämische Schlaganfälle. Von den VHF-Patienten, die unter oraler Antikoagulation stehen, erleiden nur relativ wenige einen Schlaganfall (etwa 1,5% pro Jahr), aber auch bei adäquat behandelten Patienten kommt es relativ häufig zu einer sich verschlechternden Herzinsuffizienz und zu plötzlichem Herztod.
Oft keine Symptome Zu den Symptomen, die man bei VHF-Patienten oft beobachtet, zählen Fatigue, Kurzatmigkeit, Palpitationen, Angst und depressive Stimmung. Diese Symptome können während der initialen Manifestation besonders ausgeprägt sein. Bei manchen Patienten tritt ein Schlaganfall, eine Herzinsuffizienz oder sogar ein plötzlicher Herztod als Erstmanifestation des VHF auf. Jedes Jahr muss ungefähr jeder vierte bis fünfte VHF-Patient stationär behandelt werden. Ungeplante Hospitalisierungen werden meist durch symptomatisches VHF getriggert, doch sie sind auch Ausdruck dafür, dass viele VHF-Patienten andere kardiovaskuläre Erkrankungen haben, die stationär behandelt werden müssen.
MERKSÄTZE
O Vorhofflimmern (VHF) ist häufig und kann zu Schlaganfall, Herzinsuffizienz und plötzlichem Herztod führen.
O VHF-Patienten benötigen eine multidimensionale Langzeittherapie.
O Experten fordern integrierte Versorgungsmodelle und eine stratifizierte Therapie für VHF-Patienten.
EKG-Screening
Ein VHF sollte möglichst früh – vor dem Auftreten eines Schlaganfalls oder einer anderen Komplikation – diagnostiziert werden. VHF-Leitlinien empfehlen bei allen Personen ab 65 Jahren ein «opportunistisches Screening» auf VHF, also die Palpation des Pulses und, falls dieser unregelmässig zu tasten ist, ein EKG. Bei Patienten, die einen Schlaganfall überlebt haben, sowie bei Hochrisikopopulationen wird ein EKG-Monitoring über mindestens 72 Stunden empfohlen. Der Nachweis eines stummen VHF hat unmittelbare Konsequenzen hinsichtlich einer antithrombotischen Therapie. Die meisten Patienten mit einem zufällig oder durch ein systematisches EKG-Screening entdeckten VHF weisen Schlaganfallrisikofaktoren auf, sodass bei ihnen eine orale Antikoagulation ansteht. Bei Patienten mit stummem VHF sollte auch nach therapiebedürftigen kardiovaskulären Begleiterkrankungen gesucht werden. Eine Rhythmuskontrolltherapie ist bei Patienten mit stummem VHF nicht erforderlich – es sei denn, sie entwickeln VHF-Symptome. Es ist ratsam, diese Patienten regelmässig einzubestellen und nach Symptomen und Komplikationen des VHF zu suchen.
Multidimensionale Betreuung
Sobald ein VHF diagnostiziert ist, wird ein langfristiges, multidimensionales Management der Patienten in fünf Bereichen erforderlich: O akute hämodynamische Stabilisierung O Diagnostik und Therapie zugrunde liegender oder beglei-
tender kardiovaskulärer Erkrankungen O Einschätzung des Schlaganfallrisikos und (bei den meisten
Patienten) orale Antikoagulation O Assessment der Ventrikelfrequenz und (bei den meisten Pa-
tienten) Frequenzkontrolltherapie O Beurteilung der VHF-assoziierten Symptome und Rhythmus-
kontrolltherapie bei Patienten mit entsprechenden Symptomen.
Orale Antikoagulation zur Schlaganfallprävention
Das jährliche Schlaganfallrisiko von VHF-Patienten ohne Antikoagulation variiert zwischen < 1 Prozent und > 10 Prozent, je nach Schlaganfallrisikofaktoren. Die orale Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten (VKA) oder Nicht-Vitamin-K-antagonistischen oralen Antikoagulans (NOAK) verhindert bei VHF-Patienten mit einem Schlag-
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Tabelle 1:
Orale Antikoagulanzien zur Schlaganfallprävention bei VHF-Patienten
Substanz Vitamin-K-Antagonisten (VKA) Warfarin Phenprocoumon Acenocoumarol
Dosis
1–5 mg 1-mal täglich 0,5–3 mg 1-mal täglich 2–4 mg 1-mal täglich
Nicht-Vitamin-K-antagonistische orale Antikoagulanzien (NOAK)
Apixaban
5 mg 2-mal täglich
Dabigatran
110 mg 2-mal täglich (in Europa
bei Patienten > 75 Jahre empfohlen)
150 mg 2-mal täglich
Edoxaban
60 mg 2-mal täglich
Rivaroxaban
20 mg 1-mal täglich
Die Dosierung der VKA wird individuell eingestellt, sodass eine International Normalized Ratio (INR) von 2 bis 3 erreicht wird. Die angegebene Dosierung der NOAK muss in bestimmten Situationen (z.B. eingeschränkte Nierenfunktion, hohes Alter, geringes Körpergewicht) reduziert werden.
anfallrisiko die meisten ischämischen Schlaganfälle. Dies übersetzt sich in eine Erhaltung der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Patienten, in eine geringere Morbidität und ein längeres Leben bei Patienten, die ein hohes Schlaganfallrisiko aufweisen. Eine Thrombozytenaggregationshemmung führt bei VHF-Patienten nicht zur Verhinderung von Schlaganfällen. VHF-Patienten mit zwei oder mehr klinischen Schlaganfallrisikofaktoren profitieren von einer oralen Antikoagulation, insbesondere ältere Personen (> 75 Jahre) sowie Patienten, die bereits einen Schlaganfall hinter sich haben. Dies gilt auch für Patienten mit Herzinsuffizienz, Hypertonie, Diabetes mellitus (insbesondere bei Insulinpflichtigkeit) oder vaskulären Erkrankungen. Die orale Antikoagulation ist nicht nebenwirkungsfrei; jedes Jahr erleiden etwa 2 Prozent der mit oralen Antikoagulanzien behandelten VHF-Patienten eine schwerwiegende Blutung. Daher sollten bei VHF-Patienten unter Antikoagulation modifizierbare Risikofaktoren für Blutungen (wie etwa eine unbehandelte Hypertonie oder die Einnahme von nichtsteroidalen Antirheumatika [NSAR]) reduziert werden, um die Blutungsgefahr zu minimieren. Wichtig zu wissen ist, dass die meisten Patienten mit hohem Blutungsrisiko auch ein hohes Schlaganfallrisiko aufweisen und von einer Antikoagulation profitieren. Verschiedene orale Antikoagulanzien sind effektiv und für die Schlaganfallprävention bei VHF zugelassen. Zur Verfügung stehen vier VKA und vier NOAK, sodass für die meisten VHF-Patienten ein geeignetes orales Antikoagulans ausgewählt werden kann (Tabelle 1). Acetylsalicylsäure führt bei VHF-Patienten nicht zur Verhinderung ischämischer Schlaganfälle. Die orale Antikoagulation kann in vielen Fällen von entsprechend ausgebildeten Allgemeinmedizinern eingeleitet werden, insbesondere wenn sie Teil eines grösseren Netzwerks sind, das eine integrierte Betreuung von VHF-Patien-
ten anbietet. Die Therapie mit NOAK führt seltener zu Blutungen (insbesondere treten intrakranielle Blutungen seltener auf), sodass NOAK gegenüber VKA bei geeigneten Patienten bevorzugt eingesetzt werden sollten. Bei selektionierten Patienten mit echten Kontraindikationen gegen jede Form der oralen Antikoagulation kann als Alternative ein interventioneller oder chirurgischer Verschluss des linken Herzohrs erwogen werden. Schwierige Entscheidungen im Hinblick auf eine Antikoagulation sollten in einem interdisziplinären VHF-Herzteam, das sich aus Antikoagulationsspezialisten, auf Schlaganfall spezialisierten Neurologen und Okklusionsexperten zusammensetzt, getroffen werden. Trotz des Nutzens einer oralen Antikoagulation, der bei VHF-Patienten beobachtet wird, erhalten viele Patienten mit Schlaganfallrisiko keine orale Antikoagulation, oder sie beenden die Therapie schon nach kurzer Zeit. Ein häufiger Grund für Therapieabbrüche sind schwerwiegende Blutungsereignisse wie gastrointestinale, hypertensive oder intrakranielle Blutungen. Um akute Blutungsereignisse unter Kontrolle zu bekommen, ist meist eine kurze Unterbrechung der Antikoagulation erforderlich. Sobald die Ursache der Blutung eliminiert wurde (z.B. Behandlung eines Magenulkus, Optimierung der antihypertensiven Behandlung etc.), sollte die orale Antikoagulation jedoch wahrscheinlich bei den meisten VHF-Patienten mit Schlaganfallrisiko empfohlen werden. Um die Einhaltung einer konsequenten Langzeittherapie zu verbessern, sollten integrierte VHF-Management-Konzepte entwickelt werden.
Frequenzkontrolle
Beim VHF wird das Vorhofmyokard mit einer Frequenz von 300 bis 400 Aktivierungen pro Minute stimuliert. Die rasche Reaktivierung des atrialen Myokards führt bei den meisten Patienten zu einem kontraktilen Vorhofstillstand und zu einer raschen, unregelmässigen Kammerfrequenz. Die meisten symptomatischen VHF-Patienten stellen sich mit hohen Kammerfrequenzen vor; die Kontrolle der Kammerfrequenz dient dazu, die linksventrikuläre Funktion und die mit dem VHF assoziierten Symptome zu verbessern. Eine Frequenzkontrolle lässt sich durch eine medikamentöse Verlangsamung des Atrioventrikularknotens mithilfe von Betablockern, Digoxin oder Digitoxin und Verapamil oder Diltiazem erreichen. Das initiale Herzfrequenzziel kann grosszügig gewählt werden (Kammerfrequenz in Ruhe < 110/min). Es gibt keine Evidenz, die für eine strengere initiale Herzfrequenz spricht, auch gibt es keine klare Evidenz, dass eine Frequenzkontrolltherapie zu besseren Ergebnissen führt. Stattdessen basieren die Empfehlungen zur Frequenzkontrolle auf kleinen Studien mit kombinierten Endpunkten sowie auf den Therapien, die in den Frequenzkontrollarmen der Studien AFFIRM, RACE und PIAF evaluiert wurden. Details zur Frequenzkontrolltherapie können in der Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) zum VHF aus dem Jahr 2016 nachgelesen werden.
Rhythmuskontrolle
Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Sinusrhythmus bei VHF-Patienten können die VHF-assoziierten Symptome verbessern; es gibt jedoch keine Evidenz dafür, dass die Rhythmuskontrolle die Resultate bei VHF-Patienten ver-
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Tabelle 2:
Medikamente zur Rhythmuskontrolle bei VHF-Patienten
Substanz Dronedaron 400 mg 2-mal täglich
Antiarrhythmischer Effekt
Verdopplung des Sinusrhythmus im Vergleich zu Plazebo
Flecainid 100–150 mg 2-mal täglich
Verdopplung des Sinusrhythmus im Vergleich zu Plazebo
Propafenon 150–300 mg 3-mal täglich
Verdopplung des Sinusrhythmus im Vergleich zu Plazebo
Sotalol 160 mg 2-mal täglich
Verdopplung des Sinusrhythmus im Vergleich zu Plazebo
Amiodaron 200 mg 1-mal täglich («loading» über mehrere Wochen erforderlich)
hinsichtlich der Aufrechterhaltung des Sinusrhythmus effektiver als andere Antiarrhythmika
Mögliche Nebenwirkungen
Verschlechterung einer schweren Herzinsuffizienz, Torsade de pointes oder Herzblock (selten)
ventrikuläre Tachykardie bei Patienten mit vorausgegangenem Herzinfarkt oder Herzinsuffizienz, Torsade de pointes (selten)
ventrikuläre Tachykardie bei Patienten mit vorausgegangenem Herzinfarkt oder Herzinsuffizienz, Torsade de pointes (selten)
Torsade de pointes, Herzblock, Akkumulation des Medikaments bei akutem Nierenversagen, erhöhtes Proarrhythmierisiko bei linksventrikulärer Hypertrophie und Herzinsuffizienz
hohe Rate an extrakardialen Nebenwirkungen (Schilddrüsen- und Leberfunktionsstörungen, Lichtempfindlichkeit, periphere Neuropathie), Torsade de pointes oder Herzblock (selten)
bessert. Zur Rhythmuskontrolle kommen verschiedene Verfahren zum Einsatz: Kardioversion, Antiarrhythmika sowie die Katheter- oder die chirurgische Ablation des VHF. Das aktuelle Vorgehen bei der Rhythmuskontrolltherapie ist der ESC-Guideline von 2016 zu entnehmen. Bei der Wahl des geeigneten Antiarrhythmikums müssen eventuelle kardiovaskuläre Begleiterkrankungen berücksichtigt werden, um Nebenwirkungen zu minimieren. Eine abnorme Verlängerung des QRS- und des QT-Intervalls während der Einleitung der antiarrhythmischen Pharmakotherapie identifiziert Patienten mit Proarrhythmie. Amiodaron (Tabelle 2) ist das effektivste Anitarrhythmikum und kann bei VHF-Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion eingesetzt werden, aber es führt häufig zu extrakardialen Nebenwirkungen. Antiarrhythmika können mit einer Katheterablation kombiniert werden, um VHFRezidive zu reduzieren. Eine Ablation als Erstlinientherapie kann bei selektionierten Patienten so sicher und effektiv sein wie die medikamentöse antiarrhythmische Therapie, sofern sie in einem Zentrum mit entsprechender Erfahrung durchgeführt wird. Die Katheterablation ist bei VHF-Patienten, die unter antiarrhythmischer Behandlung Rezidive erlitten, oft die Behandlung der Wahl. Bei Patienten mit paroxysmalem oder chronischem VHF ist die Katheterablation effektiver als die Behandlung mit Antiarrhythmika.
Modernes VHF-Management:
integrierte Versorgung und stratifizierte Therapie
Wie bereits erwähnt, benötigen VHF-Patienten eine multidimensionale Langzeitbehandlung (Akutmanagement, Behandlung kardiovaskulärer Begleiterkrankung, Schlaganfallprä-
vention, Frequenz- und Rhythmuskontrolle). Die konsistente
Versorgung aller VHF-Patienten mit diesen Behandlungsop-
tionen ist schwierig, trotz jüngster Verbesserungen hinsicht-
lich der Organisation der Betreuung, hinsichtlich des Wissens
über VHF und hinsichtlich der Therapiemöglichkeiten.
Integrierte Betreuungsmodelle, die eine patientenzentrierte,
wohnortnahe Versorgung sowie Zugang zu allen speziellen
Therapieoptionen bieten, stellen sich zunehmend als der am
besten geeignete Ansatz heraus, um allen VHF-Patienten
diese Langzeittherapien konsistent zu ermöglichen.
Laufende Forschungsarbeiten werden klären, wann Patien-
ten mit durch ein Device festgestellten hochfrequenten Vor-
hofepisoden einer oralen Antikoagulation bedürfen. Ebenso
wird aktuell der prognostische Effekt einer frühen und um-
fassenden Rhythmuskontrolltherapie (inkl. Ablation) unter-
sucht. Zudem widmen sich aktuelle Forschungen der Frage,
wie Blutungskomplikationen bei antikoagulierten Patienten
reduziert werden können. Weitere Forschungsanstrengungen
sind erforderlich, um auf der Basis der wichtigsten VHF-
Ursachen verschiedene VHF-Typen zu definieren und so
den Weg für die klinische Entwicklung einer stratifizierten
VHF-Therapie zu ebnen.
O
Andrea Wülker
Quelle: Kirchhof P: The future of atrial fibrillation management: integrated care and stratified therapy. Lancet 2017; published online April 28, http://dx.doi.org/10.1016/S01406736(17)31072-3.
Interessenlage: Der Autor der referierten Originalpublikation hat finanzielle und nicht finanzielle Unterstützung von verschiedenen Institutionen sowie Honorare von diversen Unternehmen erhalten.
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