Transkript
Nicht invasive Therapien bei Rückenschmerzen
Balance zwischen Nutzen und Risiken muss stimmen
FORTBILDUNG
Eine Guideline des American College of Physicians (ACP)
hatte sich 2007 mit den pharmakologischen Optionen bei
lumbalen Rückenschmerzen befasst. Inzwischen sind neue
Evidenzdaten und Medikamente hinzugekommen und in
den neuesten Empfehlungen berücksichtigt worden.
Annals of Internal Medicine
Im Hinblick auf eine Revision der ACP-Guideline wurde ein systematischer Review zu den pharmakologischen Therapien bei akuten oder chronischen, nicht radikulären oder radikulären lumbalen Rückenschmerzen erstellt (1). Die Zahl der Studien reichte von 9 für Benzodiazepine bis zu 70 für nicht steroidale Antirheumatika (NSAR). Neue Evidenz (basierend auf einer grossen Studie) ergab, dass Phenacetin bei akuten lumbalen Rückenschmerzen ineffektiv war. Auch war der therapeutische Nutzen von NSAR bei chronischen lumbalen Rückenschmerzen geringer als zuvor beobachtet. Duloxetin war effektiv bei chronischen lumbalen Rückenschmerzen, Benzodiazepine hingegen ineffektiv bei Radikulopathien. Für Opioide bleibt die Evidenz auf Kurzzeitstudien beschränkt, die einen bescheidenen Effekt für chronische lumbale Rückenschmerzen belegen. Allerdings waren die Studien nicht für die Erfassung schwerer Behandlungsrisiken ausgelegt. Muskelrelaxanzien waren zur kurzzeitigen Schmerzreduktion bei akuten lumbalen Rücken-
MERKSÄTZE
O Bei akuten und subakuten lumbalen Rückenschmerzen sollen initial nicht pharmakologische Interventionen zur Anwendung kommen.
O Reicht dies nicht, kommen nicht steroidale Antirheumatika und Muskelrelaxanzien zum Zug, zu Paracetamol wird jedoch in dieser Indikation nicht mehr geraten.
O Bei chronischen lumbalen Rückenschmerzen sollen Massnahmen aus dem breiten Spektrum der nicht pharmakologischen Interventionen zum Einsatz kommen.
O Wenn bei Patienten mit chronischen Lumbalgien Medikamente zum Einsatz kommen, müssen Nutzen und Risiken sorgfältig abgewogen und mit den Patienten besprochen werden.
schmerzen effektiv, verursachten aber oft Sedation. Systemische Kortikosteroide scheinen gemäss dem Review nicht effektiv zu sein. Für die effektiven pharmakologischen Interventionen war die Schmerzlinderung gering bis mittelstark und allgemein kurzfristig. Die Funktionsverbesserungen fielen generell kleiner aus. Die Evidenz reicht nicht aus, um die Effekte von Antiepileptika zu bestimmen. Der Review stützte sich nur auf englischsprachige Studien, von denen viele methodische Mängel aufwiesen, zudem wurden lokale Medikamenteninjektionen nicht berücksichtigt.
Wichtig: grosse Selbstheilungstendenz
Die ACP-Guideline unterscheidet akute (< 4 Wochen) von subakuten (4–12 Wochen) und chronischen (> 12 Wochen) Rückenschmerzen (2). Radikuläre lumbale Rückenschmerzen führen zu Schmerzen in den unteren Gliedmassen, Parästhesien und/oder Schwäche als Folge einer Einklemmung der Nervenwurzel. Viele Episoden von akuten lumbalen Rückenschmerzen bleiben selbstlimitierend, und die Betroffenen suchen auch keine Hilfe. Bei Patienten, die in Behandlung kommen, verschwinden die Beschwerden meist rasch, und die Arbeitsfähigkeit kehrt innert des ersten Monats zurück. Allerdings berichtet bis zu ein Drittel auch ein Jahr nach der akuten Episode noch von anhaltenden Schmerzen zumindest mässiger Intensität, und jeder Fünfte fühlt sich in seinen Aktivitäten schwerwiegend eingeschränkt. Als erste Empfehlung rät die Guideline bei akuten lumbalen Rückenschmerzen zu nicht pharmakologischen Therapien wie Wärme, Massage, Akupunktur oder Manipulation (Kasten).
Behandlungsnutzen pharmakologischer Therapien
bei akuten lumbalen Rückenschmerzen
Wenn zusätzlich Medikamente gewünscht werden, befürwortet die Guideline NSAR und Muskelrelaxanzien, hingegen nicht mehr Paracetamol (Kasten). Für NSAR wurde durch Evidenz mittlerer Qualität eine kleine Verbesserung bei der Schmerzintensität im Vergleich zu Plazebo gezeigt. Die Guideline weist aber auch auf mehrere randomisierte, kontrollierte Studien hin, die hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Schmerzlinderung im Vergleich zu Plazebo keinen Unterschied fanden. Funktionsverbesserungen im Vergleich zu Plazebo sind für NSAR durch Evidenz geringer Qualität dokumentiert. Durch Evidenz mittlerer Qualität wurden in den meisten direkten Vergleichen zwischen verschiedenen NSAR keine Unterschiede in der Schmerzlinderung gefunden. Dies galt auch für den Vergleich von Cyclooxygenase-(COX-)2-selektiven und traditionellen NSAR.
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FORTBILDUNG
Kasten:
Die drei amerikanischen Empfehlungen zu nicht invasiven Therapien bei akuten, subakuten und chronischen lumbalen Rückenschmerzen
O Da die meisten Patienten mit akuten oder subakuten lumbalen Rückenschmerzen mit der Zeit unabhängig von einer Therapie eine Besserung erfahren, sollten Ärzte und Patienten eine nicht pharmakologische Behandlung mit oberflächlicher Wärme (Evidenz mittlerer Qualität), Massage, Akupunktur oder spinaler Manipulation (Evidenz geringer Qualität) wählen. Wenn eine pharmakologische Therapie gewünscht wird, sollten nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) oder Muskelrelaxanzien (Evidenz mittlerer Qualität) gewählt werden (starke Empfehlung).
O Für Patienten mit chronischen lumbalen Rückenschmerzen sollte initial eine nicht pharmakologische Behandlung mit Übungen, multidisziplinärer Rehabilitation, Akupunktur, achtsamkeitsbasierter Stressreduktion (Evidenz mittlerer Qualität), TaiChi, Yoga, motorischen Kontrollübungen, progressiver Entspannung, elektromyografischem Feedback, Lasertherapie niedriger Intensität, operanter Therapie, kognitiver Verhaltenstherapie oder spinaler Manipulation (Evidenz geringer Qualität) gewählt werden (starke Empfehlung).
O Bei Patienten mit chronischen lumbalen Rückenschmerzen, die auf eine nicht pharmakologische Behandlung kein adäquates Ansprechen zeigen, sollte eine medikamentöse Behandlung mit NSAR als Erstlinientherapie beziehungsweise Tramadol oder Duloxetin als Zweitlinientherapie gewählt werden. Opioide sollten nur als Option betrachtet werden bei Patienten, bei denen die oben genannten Medikamente versagt haben, und dies nur, wenn der potenzielle Nutzen die Risiken für den individuellen Patienten übertrifft und die bekannten Risiken und der realistisch zu erwartende Nutzen mit dem Patienten besprochen wurden (schwache Empfehlung, Evidenz mittlerer Qualität).
«Starke Empfehlung» bedeutet: Der Nutzen überwiegt die Risiken klar respektive die Last oder die Risiken und die Last überwiegen den Nutzen klar. «Schwache Empfehlung» bedeutet: Der Nutzen steht mit den Risiken und der Last in einem feinen Gleichgewicht.
Durch Evidenz mittlerer Qualität zeigte sich für Muskelrelaxanzien im Vergleich zu Plazebo eine Verbesserung des Schmerzprofils nach 2 bis 4 und 5 bis 7 Tagen. Keine Unterschiede zwischen verschiedenen Muskelrelaxanzien und inkonsistente Ergebnisse sind für die Kombination von Muskelrelaxanzien und NSAR im Vergleich zu NSAR allein druch Evidenz geringer Qualität beschrieben. Für eine einzelne intramuskuläre Injektion von Methylprednisolon oder eine fünftägige Behandlung mit Prednisolon im Vergleich zu Plazebo wurde durch Evidenz geringer Qualität kein Unterschied bei Schmerz und Funktion gezeigt. Für die Beurteilung von Antidepressiva, Benzodiazepinen, Antiepileptika oder Opioiden zur Behandlung von akuten oder subakuten lumbalen Rückenschmerzen reichte die Evidenz aus Plazebovergleichen nicht aus.
Behandlungsnutzen pharmakologischer Therapien
bei chronischen lumbalen Rückenschmerzen
Bei chronischen Lumbalgien wurde durch Evidenz mittlerer Qualität gezeigt, dass NSAR im Vergleich zu Plazebo zu einer mässigen Schmerzlinderung führten. Für eine fehlende oder höchstens geringe Funktionsverbesserung durch NSAR spricht Evidenz geringer Qualität. Unterschiede zwischen verschiedenen NSAR liessen sich ebenso wenig zuverlässig nachweisen. Durch Evidenz mittlerer Qualität wurde gezeigt, dass starke Opioide (Tapentadol, Morphin, Hydromorphon, Oxymorphon) im Vergleich zu Plazebo mit einer kleinen, kurzfristigen Verbesserung der Schmerzscores und der Funktion assoziiert waren, ungefähr entsprechend einer Verbesserung um einen Punkt auf einer Skala von 1 bis 10. Buprenorphinpflaster linderten in Studien geringer Qualität den chronischen Schmerz besser als Plazebo. Hier betrug die Verbesserung aber weniger als einen Punkt auf der Schmerzskala. Durch Evidenz mittlerer Qualität ergaben sich keine Unterschiede zwischen verschiedenen lang wirkenden Opioiden bei Schmerz und Funktion. Durch Evidenz niedriger Qualität wurden keine klaren Unterschiede in der Schmerzlinderung zwischen kurz und lang wirkenden Opioiden gezeigt. Evidenz mittlerer Qualität spricht für eine mässige kurzfristige Schmerzlinderung und eine geringe Funktionsverbesserung von Tramadol im Vergleich zu Plazebo. Die Evidenz für den Vergleich von Muskelrelaxanzien und Plazebo war nicht ausreichend. Durch Evidenz geringer Qualität konnte in der Behandlung von chronischen lumbalen Rückenschmerzen keine Differenzen zwischen verschiedenen Muskelrelaxanzien nachgewiesen werden. Bei chronischen lumbalen Rückenschmerzen ergaben sich in der neuesten Literaturauswertung keine Unterschiede zwischen trizyklischen Antidepressiva oder selektiven SerotoninWiederaufnahmehemmern (SSRI) im Vergleich zu Plazebo beim Schmerz (Evidenz mittlerer Qualität) und bei der Funktion (Evidenz geringer Qualität). Hingegen war Duloxetin im Vergleich zu Plazebo mit einer kleinen Verbesserung bei Schmerz und Funktion assoziiert (Evidenz mittlerer Qualität), weshalb die Guideline diese Substanz ebenso wie Tramadol als Zweitlinientherapie bei chronischen Rückenschmerzen in die Empfehlungen aufgenommen hat (Kasten). Für eine Beurteilung von Paracetamol, stystemischen Kortikosteroiden oder Antiepileptika in dieser Indikation war die Evidenz im Urteil der Guideline-Autoren nicht ausreichend. Bei radikulär bedingten Schmerzen bot Diazepam im Vergleich zu Plazebo gemäss Evidenz geringer Qualität keine Vorteile. Dies galt auch für den Vergleich von systemischen Kortikosteroiden und Plazebo. Die Autoren fanden keine randomisierten, kontrollierten Studien für die Therapie radikulärer Schmerzen mit Paracetamol, Muskelrelaxanzien, Antidepressiva oder Opioiden. Die Evidenz war auch für Antiepileptika in dieser Indikation ungenügend.
Gefahren bei pharmakologischen Therapien
Bei schweren Nebenwirkungen wurden keine Unterschiede zwischen Paracetamol in fester Dosierung, Anwendung bei Bedarf und Plazebo durch Evidenz mittlerer Qualität gezeigt. Gemäss Evidenz mittlerer Qualität kamen unter NSAR im Vergleich zu Plazebo mehr Nebenwirkungen vor, wobei COX-2-
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spezifische im Vergleich zu traditionellen NSAR besser abschnitten. Gemäss Evidenz mittlerer Qualität war die kurzfristige Anwendung von Opioiden mit häufigerer Nausea, Benommenheit, Obstipation, Erbrechen, Somnolenz und Mundtrockenheit assoziiert. Muskelrelaxanzien erhöhten das Risiko für allgemeine und zentralnervöse Nebenwirkungen im Vergleich zu Plazebo. Das Risiko für ernst zu nehmende Nebenwirkungen unterschied sich zwischen Duloxetin und Plazebo nicht, obwohl unter Duloxetin mehr durch Nebenwirkungen bedingte Therapieabbrüche zu verzeichnen waren. Die ACP-Guideline enthält auch ausführlichere Angaben zur Evidenzlage und zu Vergleichen zwischen Interventionen aus der breiten Palette nicht pharmakologischer Therapien, die bei lumbalen Rückenschmerzen zur Anwendung kommen können. Diese sind in knapper Form auch in die Empfehlungen aufgenommen worden (Kasten). Im Allgemeinen lassen sich mit diesen Interventionen – ebenso wie mit den medikamentösen Optionen – nur kleine oder höchstens mittelgradige Verbesserungen bei Schmerz und Funktion erzielen.
Theorie und Praxis
Abschliessend spricht die Guideline von «high-value care».
Gemeint ist damit ein Vorgehen, das unnötige Diagnostik und
Therapien vermeidet, mehr nützt als schadet und möglichst
wenig kostet. An erster Stelle stehen dabei bei Patienten mit
akuten oder subakuten lumbalen Rückenschmerzen, die Be-
ruhigung und die Information über den oft günstigen Spon-
tanverlauf. Insbesondere auch bei chronischen Verläufen ist
bei der Verschreibung von Opioiden grosse Vorsicht geboten.
Ein begleitendes Editorial kommentiert die für die Praxis
wichtigen Änderungen (3). Gewiss ist das initiale Primat für
die nicht pharmakologischen Therapien sinnvoll. Im prakti-
schen Alltag mit den Patienten dürfte das Konzept aber auf
etliche Schwierigkeiten stossen, und unterstützende, direkte
Evidenz dafür liegt kaum vor. Die bevorzugte Empfehlung
von nicht medikamentösen Massnahmen spiegelt zum Teil
auch die beschränkte Auswahl an pharmakologischen Op-
tionen, die sich auf NSAR und Muskelrelaxanzien beschrän-
ken, da Paracetamol in dieser Indikation nicht mehr länger
empfohlen wird.
Auch das wesentlich geringere Gewicht, das Opioide künftig
erhalten sollen, leuchtet ein. Diese Herangehensweise beruht
aber eher auf einem Mangel an Evidenz für den Langzeitnut-
zen und auf der zunehmenden Wahrnehmung, dass Opioide
gewichtige Risiken beinhalten, als auf wirklich neuer Evidenz.
Die neue Guideline trifft auch keine Aussagen zu den invasi-
ven Eingriffen als Alternativen bei Patienten mit chronischen
lumbalen Rückenschmerzen.
O
Halid Bas
Quellen: 1. Chou R et al.: Systemic pharmacologic therapies for low back pain: a systematic
review for an American College of Physicians clinical practice guideline. Ann Intern Med, published online 14 February 2017, doi:10.7326/M16-2458. 2. Qaseem A et al.: Noninvasive treatments for acute, subacute, and chronic low back pain: a clinical practice guideline from the American College of Physicians. Ann Intern Med, published online 14 February 2017, doi:10.7326/M16-2367. 3. Atlas SJ: Management of low back pain: getting from evidence-based recommendations to high-value care. Ann Intern Med, published online on 14 February 2017, doi:10.7326/M17-0293.
Interessenlage: Die Autoren deklarieren vielfältige finanzielle Verbindungen zu Firmen mit Interessen auf dem Gebiet der Behandlung von Rückenschmerzen.