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FORTBILDUNG
Update der amerikanischen Guidelines zum Management der Gicht
«Treat to avoid symptoms» oder «treat to target»?
Das American College of Physicians (ACP) hat zwei Guidelines zur Diagnostik und zum therapeutischen Management bei Gicht publiziert. Während sich die Empfehlungen zur Therapie akuter Gichtanfälle stark gleichen, bestehen unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich des Vorgehens bei erhöhten Harnsäurespiegeln.
Annals of Internal Medicine
Die Guideline des ACP zur Diagnose bei einem erstmalig auftretenden Gichtanfall (1) basiert auf einer systematischen Übersicht aller in Datenbanken greifbaren, publizierten Studien bis Februar 2016 und umfasst eine einzige Empfehlung: «Das ACP empfiehlt den Einsatz der Analyse von Gelenkflüssigkeit, wenn die klinische Einschätzung bei Patienten mit akuter Gicht einen diagnostischen Test notwendig erscheinen lässt» (schwache Empfehlung, basierend auf Evidenz geringer Qualität).
Gelenkpunktion bei unsicherer Klinik Bisher haben 11 Studien die Sensitivität und Spezifität von Algorithmen mit der Suche nach Natriumuratkristallen im Gelenkpunktat verglichen und kamen zu Ergebnissen mit grosser Variablität. Immerhin dokumentiert Evidenz mittlerer Qualität für einige auf klinischen Kriterien basierende Algorithmen eine gute Sensitivität und Spezifität von über 80 Prozent.
MERKSÄTZE
O Diagnostisch müssen bei einem akuten Gichtanfall immer andere Ursachen entzündlicher Gelenkveränderungen ausgeschlossen werden.
O Dies kann anhand klinischer Algorithmen erfolgen, Goldstandard ist aber der Nachweis von Harnsäurekristallen im Gelenkpunktat.
O Bei akuter Gicht werden Kortikosteroide, nicht steroidale Entzündungshemmer oder Colchicin empfohlen.
O Bei erhöhten Harnsäurespiegeln ist eine medikamentöse Senkung der Serumharnsäure individuell zu erwägen.
Die Autoren der Guideline räumen ein, dass eine Untersuchung von Gelenkflüssigkeit bei Verdacht auf eine akute Gicht in der alltäglichen Praxis in der Grundversorgung schwierig durchzuführen ist. Sie empfehlen die Durchführung der Untersuchung, wenn die konkreten Voraussetzungen (Erfahrung mit Gelenkpunktionen, Polarisationsmikroskop) gegeben sind, die klinische Situation nicht eindeutig ist und die Wahrscheinlichkeit einer Infektion besteht. Ziel der Diagnostik bei vermuteter akuter Gicht muss immer der Ausschluss anderer entzündlicher Gelenkveränderungen (septische Arthritis, rheumatoide Arthritis, entzündlicher Schub bei Arthrose) sein.
Medikamente beim akuten Gichtanfall
Zum Management der akuten und der rezidivierenden Gicht hat das ACP zeitgleich ein Update einer Guideline aus dem Jahr 2012 herausgegeben, das zusätzlich auf einer systematischen Übersicht der seither publizierten Studien beruht. Diese aktualisierte Guideline umfasst vier Empfehlungen (Kasten). Unverändert beruht das Management der Gicht auf pharmakologischen – antientzündliche sowie harnsäuresenkende Medikamente – und nicht pharmakologischen Prinzipien wie Ernährungs- und Lifestyleänderungen inklusive Gewichtsverlust und körperlichen Trainings. Evidenz hoher Qualität belegt die Schmerzlinderung von Colchicin bei akuter Gicht. Evidenz mittlerer Qualität aus einer einzelnen Studie zeigt, dass tiefere Dosen ebenso wirksam sind wie höhere, aber mit weniger gastrointestinalen Nebenwirkungen einhergehen. Evidenz hoher Qualität aus einer randomisierten kontrollierten Studie (randomized controlled trial, RCT) sowie aus Beobachtungsdaten zeigt für nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) eine Schmerzreduktion bei akuter Gicht. In 16 RCT bei Patienten mit Gicht traten zwischen verschiedenen NSAR keine klinisch wichtigen Unterschiede zutage. NSAR wurden auch zur Verhütung akuter Gichtanfälle im Rahmen einer harnsäuresenkenden Therapie erfolgreich eingesetzt. Die hauptsächlichen Nebenwirkungen sind gastrointestinaler Art, die chronische Verabreichung hoher Dosen kann zu einer Niereninsuffizienz führen. 4 RCT mit Vergleich von Cyclooxygenase-(COX-)2-Hemmern und unspezifischen NSAR fanden bei Schmerz, Gelenkschwellung, globaler Verbesserung und Lebensqualität keine Unterschiede, sahen aber unter COX-2-Hemmern weniger unerwünschte Wirkungen und weniger Therapieabbrüche wegen Nebenwirkungen. Für Kortikosteroide gibt es keine plazebokontrollierten Studien. Indirekte Evidenz hoher Qualität lässt jedoch auf eine
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FORTBILDUNG
Kasten:
Die vier amerikanischen Empfehlungen zum Management der akuten und der chronisch-rezidivierenden Gicht
O Bei akuter Gicht werden Kortikosteroide, nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) oder Colchicin empfohlen (starke Empfehlung basierend auf Evidenz hoher Qualität).
O Falls Colchicin eingesetzt wird, sollte dies in niedriger Dosierung geschehen (starke Empfehlung, basierend auf Evidenz mittlerer Qualität).
O Nach einer erstmaligen Gichtattacke oder bei seltenen Gichtanfällen wird für die meisten Patienten von einer Langzeittherapie zur Harnsäuresenkung im Blut abgeraten (starke Empfehlung, basierend auf Evidenz mittlerer Qualität).
O Mit den Patienten sollten Vor- und Nachteile, Kosten und individuelle Präferenzen diskutiert werden, bevor eine harnsäuresenkende Behandlung oder eine Prophylaxe bei wiederholten Gichtanfällen eingeleitet wird (starke Empfehlung, basierend auf Evidenz mittlerer Qualität).
Schmerzreduktion bei akuter Gicht schliessen. In 6 RCT erwiesen sich Kortikosteroide den NSAR hinsichtlich verschiedener klinischer Parameter als äquivalent. Die bekannten Nebenwirkungen der Kortikoide sind abhängig von Dosis und Behandlungsdauer.
Ernährung und Lifestyle Die Evidenz von 4 systematischen Übersichten und 2 neuen RCT war nicht ausreichend, um die Wirksamkeit von ernährungsbasierten Therapien auf die Gichtsymptome zu beurteilen. Evidenz niedriger Qualität aus 13 RCT mit hoher Heterogenität zeigte, dass eine Vitamin-C-Supplementation die Harnsäurespiegel zu senken vermag. Evidenz niedriger Qualität ergab, dass gichtspezifische Ratschläge zur Ernährung, wie Reduktion von rotem Fleisch, Muscheln und hefereichen Nahrungsmitteln sowie Bevorzugung von Milchprodukten mit tiefem Fettgehalt, Gemüse und Kirschen, zur Senkung der Harnsäuerspiegel nicht effektiver waren als eine allgemeine Ernährungsberatung mit Aufforderung zu Gewichtsverlust und reduziertem Alkoholkonsum. 5 systematische Übersichten brachten keine ausreichende Evidenz, um die Effektivität der traditionellen chinesischen Medizin (inkl. Kräuter und Akupunktur) zu beurteilen.
Medikamente zur Verhinderung rezidivierender Gichtanfälle Evidenz hoher Qualität aus vier RCT zeigte, dass eine harnsäuresenkende Therapie mit Allopurinol (Zyloric® oder Generika) oder Febuxostat (Adenuric®) die Harnsäurespiegel im Serum erfolgreich senkt. Aus 2 RCT ging jedoch hervor, dass eine harnsäuresenkende Behandlung das Risiko für Gichtanfälle während der ersten sechs Monate nicht senkt. Langzeitstudien zum Vergleich des Gichtanfallsrisikos mit und ohne harnsäuresenkende Therapie fehlten. Beobach-
tungsdaten aus dem Follow-up von 2 RCT sowie mehrere retrospektive Kohortenstudien zeigten jedoch konsistent, dass tiefere Harnsäurespiegel mit selteneren Gichtanfällen einhergingen. Diese Evidenz wird von den Autoren der Guideline zusammen mit der Tatsache, dass Harnsäure bei einem Spiegel von etwa 416 µmol/l (7 mg/dl) auskristallisiert, als von mittlerer Qualität eingestuft. Zudem ist das Ausmass der Reduktion der Gichtanfälle nach ihrer Einschätzung unsicher. Mit Allopurinol bestehen Behandlungserfahrungen seit über 40 Jahren. Wichtigste Nebenwirkungen sind Hautausschläge. Die meisten Nebenwirkungen sind selten, leichtgradig und reversibel, tödliche Hypersensitivitätsreaktion wurden aber beobachtet. Aus begrenzten Studien mit Febuxostat sind Bauschmerzen, Durchfall und Muskelschmerzen als Nebenwirkungen bekannt. Hinsichtlich der negativen Wirkungen ist die Unsicherheit mit Febuxostat grösser, da noch nicht so lange Erfahrungen bestehen. Die Guideline stützt sich auf vier systematische Übersichten hoher Qualität zum Wirkungsvergleich zwischen Allopurinol und Febuxostat. Unter höheren Dosen von Febuxostat (120–240 mg/Tag) war die Inzidenz von Gichtanfällen höher als mit Allopurinol (100–300 mg/Tag). Bei den niedrigeren Dosen (40 oder 80 mg/Tag Febuxostat, 100–300 mg/Tag Allopurinol) bestand jedoch kein Unterschied. Hinsichtlich Tophi war die Evidenz nicht schlüssig. Evidenz hoher Qualität aus einer RCT ergab keine Differenz zwischen 40 mg Febuxostat und 300 mg Allopurinol pro Tag. 80 mg Febuxostat waren hingegen in puncto Harnsäuresenkung effektiver als 40 mg Febuxostat oder 300 mg Allopurinol pro Tag. Die Evidenz zum Vergleich unerwünschter Wirkungen unter Febuxostat und Allopurinol war nicht schlüssig, teilweise wegen der begrenzten Informationen über FebuxostatNebenwirkungen. Aus verschiedenen RCT und Beobachtungsdaten geht hervor, dass Colchicin in niedriger Dosierung oder NSAR das Risiko von Gichtanfällen bei Patienten reduzieren, die mit einer harnsäuresenkenden Therapie beginnen. Evidenz mittlerer Qualität deutet darauf hin, dass eine Prophylaxe längerer Dauer (> 8 Wochen) mit Colchicin oder NSAR zur Senkung dieses Risikos effektiver ist.
Überwachung der Harnsäurespiegel bei Gichtpatienten
Die Evidenz genügte nicht, um die Frage zu beantworten, ob die Vorteile eines Ausbaus der harnsäuresenkenden Therapie bis zu einem Zielwert («treat to target») die Nachteile wiederholter Messungen und Medikationsanpassungen überwiegen. Die Autoren weisen darauf hin, dass keine experimentellen Studien vorliegen und dass es auch keine Studien gibt, welche eine auf einem Zielwert basierende Prophylaxe mit einer an der Symptomatik, zum Beispiel dem Auftreten von Gichtanfällen, ausgerichteten Therapie vergleichen. Eine Post-hoc-Analyse zweier grosser Studien zeigte aber, dass Patienten, die einen Harnsäurespiegel < 357 µmol/l (< 6,0 mg/dl) erreichten, nach zwölf Monaten weniger Gichtanfälle erlitten als diejenigen mit höheren Harnsäurespiegeln. 8 weitere retrospektive Kohortenstudien fanden ähnliche Assoziationen. Gemäss Urteil der Autoren der amerikanischen Guideline helfen diese Studien – selbst wenn eine harnsäuresenkende Therapie Gichtanfälle reduziert – nicht bei der
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Abwägung des Ausmasses von Nutzen und Schaden und Kosten der Behandlung und der erforderlichen Therapieüberwachung. So bleibe der Wert einer Treat-to-targetStrategie im Vergleich zu einer Ausrichtung der Behandlungsintensität an der Minimierung der Symptome unsicher. Überdies war die Evidenz hinsichtlich der Frage, ob eine harnsäuresenkende Therapie nach fünf Jahren sicher abgesetzt werden kann, ungenügend. Als Summe ihrer Durchsicht der verfügbaren Daten kommen die Autoren der Guideline zur Empfehlung Nummer 3: «Nach einer erstmaligen Gichtattacke oder bei seltenen Gichtanfällen wird für die meisten Patienten von einer Langzeittherapie zur Harnsäuresenkung im Blut abgeraten» (Kasten).
Wirklich nur abwarten?
Die aktuellen ACP-Empfehlungen sind nicht unwiderspro-
chen geblieben. Ein begleitendes Editorial setzt Fragezeichen
hinter die Einschätzung der Guideline-Autoren, dass die Evi-
denz für ein Monitoring der Harnsäurespiegel nur von nied-
riger Qualität sei (3). Ausserdem sei der Wert der propagier-
ten symptomorientierten Prophylaxe von Gichtanfällen
(treat to avoid symptoms) genauso wenig adäquat getestet
worden wie derjenige einer «Treat-to-target»-Strategie. Eine
«Treat-to-avoid»-Strategie könnte bei einer Hyperurikämie
dazu verleiten, nur eine unterdrückende, antientzündliche
Therapie oder lediglich eine Anfallsbehandlung durchzufüh-
ren. Damit kann aber die Harnsäureablagerung weitergehen
und zu Tophi, Gelenkschäden und funktioneller Beeinträch-
tigung führen, die dann eine viel aggressivere und teurere
Behandlung erforderten, als wenn der Harnsäurespiegel von
vornherein effektiv gesenkt worden wäre.
So sieht es auch die 2016 aktualisierte europäische Guideline
zum Management der Gicht (4): «Zusätzlich zur Patienten-
edukation und zu einer nicht pharmakologischen Vorgehens-
weise sollte eine harnsäuresenkende Therapie von der ersten
Präsentation der Krankheit an in Betracht gezogen werden,
und bei schwerer Gicht sollten die Serumharnsäurespiegel
< 6 µmol/l (< 5 mg/dl) gehalten werden.»
O
Halid Bas
Quellen: 1. Quaseem A et al.: Diagnosis of acute gout: a clinical practice guideline from the Ame-
rican College of Physicians. Ann Intern Med, published online on 1 November 2016, doi: 10.7326/M16-0569. 2. Quaseem A et al.: Management of acute and recurrent gout: a clinical practice guideline from the American College of Physicians. Ann Intern Med, published online on 1 November 2016, doi: 10.7326/M16-0570. 3. Neogi T, Mikuls TR: To treat or not to treat (to target) in gout. Ann Intern Med, published online on 1 November 2016, doi: 10.7326/M16-2401. 4. Richette P et al.: 2016 updated EULAR evidence-based recommendations for the management of gout. Ann Rheum Dis 2017; 76: 29–42.
Interessenlage: Die Autoren der Guidelines deklarieren vielfältige Interessenbindungen. Diese sind einsehbar unter: www.acponline.org/about-acp/who-we-are/leadership/committees-boards-councils/clinical-guidelines-committee/disclosure-of-interests-forclinical-guidelines-committee.
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