Transkript
FORTBILDUNG
Muskelschmerzen – ein Klassiker mit vielen Gesichtern
Muskelschmerzen sind eine häufige Komponente bei bestimmten Schmerzbildern – zum Beispiel nach Operationen oder im Rahmen von Kopf- oder Rückenschmerzen. Anhand von drei spannenden Fällen wird hier gezeigt, welche Symptome myofasziale Schmerzen charakterisieren und wie eine konsequente Therapie verhindert, dass die Beschwerden chronisch werden.
Uwe Junker
wärtigen (Abbildung 1): Über zwei seitliche Minithorakotomien wurde ein Metallbügel eingebracht. Um diesen platzieren und dann aufspannen zu können, mussten zwei Rippen sequestriert werden. Thorakotomien und auch Rippenfrakturen führen erfahrungsgemäss häufig zu chronischen Schmerzzuständen (Tabelle 1) im Sinne von «mixed pain» (nozizeptiv = stechend-drückend, neuropathisch = kribbelnd-elektrisierend). Durch ein in seiner Statik völlig verändertes Bewegungssystem nach erfolgreicher Operation erklären sich die muskeltonusassoziierten Schmerzen. Im Erstgespräch wird deutlich, dass diese Schmerzsymptomatik die ganze Familie belastet.
Fall 1
Eine 17-jährige Gymnasiastin stellt sich ein halbes Jahr nach Operation ihrer Trichterbrust in der Schmerzambulanz vor. Sie klagt über stechend-drückende Schmerzen im Bereich des Rippenbogens, kribbelnd-elektrisierende im Bereich zweier seitlicher Thorakotomienarben und über einen dortigen zervikothorakalen Druckschmerz bei deutlich erhöhtem Muskeltonus. Ihre Schmerzstärke gibt sie auf der numerischen Rating-Skala (NRS) im Schnitt mit 6,5 an – mit einem Maximum von 10 am frühen Morgen. Die perioperative Schmerztherapie erfolgte mit einem thorakalen Epiduralkatheter für 3 Tage, seitdem besteht die analgetische Therapie lediglich aus 60 mg Etoricoxib p.o. morgens. Die begleitend verordnete Physiotherapie musste die junge Patientin schmerzbedingt abbrechen, sie beklagt ausserdem deutliche Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Um die beteiligten Schmerzmechanismen zu verstehen, hilft es, sich die intraoperativ gesetzten Traumata zu vergegen-
MERKSÄTZE
O Myofasziale Schmerzen haben viele Gesichter und sind in der Akutphase ernst zu nehmen, sorgfältig zu diagnostizieren und zu therapieren.
O Sie können gut fassbare, spezifische Ursachen haben, sind aber viel häufiger Bestandteile unspezifischer Schmerzen des Bewegungssystems.
O Neben einer konsequenten und frühzeitig beginnenden medikamentösen Therapie muss auch die häufig mit ursächliche psychosoziale Problematik durch motivationsfördernde Kommunikation und/oder psychotherapeutische Behandlung mit angegangen werden.
Definition chronischer Schmerzen: O Schmerzen, die mehr als 6 Monate andauern.
Definition chronischer Schmerzen nach Operation: O Schmerzentwicklung nach einer Operation O kontinuierliche Schmerzdauer für mindestens
2 Monate O Ausschluss anderer Gründe für die Schmerzen O Ausschluss der Möglichkeit, dass die Schmerzen
schon präoperativ bestanden.
Schmerzmittel sorgsam einsetzen Erste Schritte sind die ausführliche Aufklärung über die Schmerzmechanismen sowie das Erkennen der Tatsache, dass es sich hier um einen bereits chronifizierten, postoperativen Schmerz handelt, der konsequent therapiert werden muss – bis nach der Metallentfernung, die etwa in einem Jahr vorgesehen ist. Ängsten vor psychischer Abhängigkeit zentral wirksamer, antichronifizierender und antineuropathischer Analgetika wird im Therapiegespräch sorgsam begegnet. Retardiertes Flupirtin als Substanz, die den effektiv erhöhten Muskeltonus normalisiert, wurde bestimmungsgemäss nur für 14 Tage verordnet, Etoricoxib gemäss der Chronobiologie der beklagten Schmerzen mit einem Maximum am Morgen bereits zur Nacht verabreicht, um auch morgens ein Wirkungsmaximum zu erreichen. Als Therapieziele werden – neben spürbarer Schmerzreduktion – eine bessere Alltagstauglichkeit inklusive Vermeidung von Fehlzeiten in der Schule, die Wiederaufnahme der Physiotherapie und das von der Patientin gewünschte Balletttraining besprochen. Bemerkenswert war, wie intensiv die 17-Jährige von der begleitenden Akupunktur durch eine muskelentspannende wie auch durch eine zentral entspannende Wirkung profitierte.
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Chronisch postoperative Schmerzen – klinische Relevanz
Typ der Operation
Amputation Thorakotomie Mastektomie Inguinalhernie
Inzidenz von chonischem Schmerz (%)
30–85 5–65 11–57 5–63
Geschätzte Inzidenz (%) von chronischem schwerem Schmerz (> 5 von 10) 5–10 10 5–10 2–4
Koronararterien-Bypass
30–50
5–10
Kaiserschnitt
6–55
5–10
Cholezystektomie
3–50
nicht geschätzt
Vasektomie
0–37
nicht geschätzt
Zahnchirurgie
5–13
nicht geschätzt
Quelle: (weiterveröffentlicht mit Genehmigung von) Mcintyre PE et al.: Acute pain management: scientific evidence, 3rd edition. Melbourne: Australian and New Zealand College of Anaesthetists and Faculty of Pain Medicine; 2010. Schug SA, Pogatzki-Zahn EM: Chronic pain after surgery or injury. IASP Newsletter 2011; XIX (1): 1–5.
Abbildung 1: Operation einer Trichterbrust
Behandlungskonzept: O retardiertes Flupirtin abends 400 mg für 2 Wochen O Tapentadol 50-0-50 mg O Etoricoxib 90 mg abends O Lidocain-5%-Pflaster lokal im Narbenbereich der lateralen
Thorakotomien O Akupunktur O TENS O Physiotherapie aktiv passiv Behandlungsverlauf: O Schmerzniveau NRS (numerische Ratingskala)
л 4,5 O Schlaf deutlich gebessert O Muskeltonus O Balletttraining wieder begonnen O Fortsetzung der Schmerztherapie bis nach der Metallentfernung
Mehr Patienten mit postoperativem Schmerz beim Hausarzt Dieser Fall steht exemplarisch für Patienten, die künftig vermehrt mit komplexeren akuten, postoperativen Schmerzen zum Allgemeinarzt gehen. Denn grosse Eingriffe werden heute bei gleichzeitigem Streben nach immer kürzerer Verweildauer vorgenommen.
Fall 2
Eine 23-Jährige stellt sich in der Ambulanz mit Intervallschmerzen im Schulter-Nacken-Bereich vor, die seit vier Wochen bestehen. Sie sind von stechend-reissendem Charakter und gehen mit einem Gefühl andauernder Verspannung einher. Die durchschnittliche Schmerzstärke gibt die Patientin auf der NRS mit 7 an. Zusätzlich leidet sie unter bifrontalen Dauerkopfschmerzen, die sie manchmal auch hoch parietal verspürt und als drückend-dumpf empfindet. Ausserdem schläft sie schlecht. Bei dieser Patientin müssen psychosoziale Aspekte berücksichtigt werden, die offenbar wesentlich zum Fortbestehen ihrer Schmerzen beitragen: Nach dem Fachabitur ist sie im 3. Lehrjahr als Tischlerin, sie hat seinerzeit keine alternative Lehrstelle gefunden. Ihr Kontakt zum Chef und den zu Kollegen ist schwierig: Sie fühlt sich permanent unter Druck gesetzt. Sie macht keinen regelmässigen Sport, und Entspannungsverfahren hat sie bisher nicht erlernt. Wenn sie allein ist, grübelt sie viel über ihre gesamte Lebenssituation, auch denkt sie immer wieder darüber nach, doch noch ein technisches Folgestudium aufzunehmen.
Patienten psychologisch begleiten Gleichrangig zur medikamentösen Therapie werden bei dieser Patientin nicht pharmakologische Therapieansätze angewandt: individualisiertes längerfristiges körperliches Training, regelmässige Entspannungsverfahren wie progressive Muskelentspannung nach Jacobson oder autogenes Training.
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Untersuchungsbefunde: O Schweregefühl rechter Arm O fleckförmige Hypästhesie und Hypalgesie
HWS/Schulter rechts ohne Dermatombezug O deutliche Druckschmerzhaftigkeit Schulter-, Nackenmus-
kulatur beidseitig O Stimmung manchmal etwas gedrückt, wenn allein, Grübel-
neigung.
Medikamente: O ret. Flupirtin 400 mg zur
Nacht für 2 Wochen O Amitriptylin 10 mg zur Nacht O Flupirtin 100 mg bei Bedarf.
Eine möglichst frühzeitig einsetzende psychologische Begleitung ist hier unerlässlich. Schon in der Wartezeit darauf sollten die allgemeinärztlichen und/oder schmerztherapeutischen verbalen Interaktionen mit der Patientin in diese Richtung weisen (Tabelle 2).
Tabelle 2:
Psychosoziale Aspekte der Schmerzchronifizierung und Interventionsmöglichkeiten
Pathogene Faktoren Arbeitsunzufriedenheit
Durchhalten um jeden Preis 150-prozentiger Leistungswille «Fear-avoidance»-Modell: Vermeidung aus Angst
Antichronifizierung Zufriedenheit in anderen Lebensbereichen als Ausgleich suchen Anpassung der Arbeitsleistung an die eigene Tagesform variable Standards für verschiedene Leistungsarten Vermeidung als Strategie
«Jeder hat sein Päckchen zu tragen» – diese traditionelle Lebensweisheit bewahrheitet sich einmal mehr in diesem Fall. Wie so manches Rückenschmerzsyndrom wäre auch dieses nicht effektiv und nachhaltig zu behandeln, würde man die psychosozialen Aspekte der Schmerzgenese ausser Acht lassen.
Fall 3
Ein 65-jähriger Mann wird vom Hausarzt mit stärksten Rückenschmerzen eingewiesen (NRS 7 in Ruhe, 10 bei jeder Bewegung). Seit 3 Tagen leidet er unter diesen im Kreuz stechenden und bis in beide Gesässhälften brennend-elektrisierenden Schmerzen. 2 Wochen zuvor hatte er nur leichte Kreuzschmerzen. Fango und Massage halfen seinerzeit gut, verschlimmern zurzeit die Beschwerden aber deutlich. 2400 mg Ibuprofen am Tag bleiben nahezu wirkungslos. Der Patient kann kaum schlafen. Der Mann kriecht mehr, als dass er geht – in stark gebeugter Haltung. Im Bereich des thorakolumbalen Übergangs zeigt sich starker Druckschmerz, eine intensive Untersuchung des gesamten Bewegungssystems ist bei der stationären Aufnahme schmerzbedingt nicht möglich. Im Labor sind die Entzündungsparameter BSG und CRP deutlich erhöht. Bei der Akutheit der Beschwerden muss deshalb von einer die Schmerzen wesentlich unterhaltenden, entzündlichen Komponente ausgegangen werden. Dieser Verdacht bestätigt sich in der rasch durchgeführten Magnetresonanztomografie: Spondylodiszitis im Bereich Th12/L1 mit sequestriertem Bandscheibenvorfall. Bei diesem Krankheitsbild handelt es sich um einen spezifischen Rückenschmerz mit einem vertebral-radikulären Schmerzsyndrom, bei dem sich verschiedene Schmerzkomponenten mischen (mixed pain): nozizeptiv-entzündliche, neuropathische und myofasziale.
Schmerztherapie und Operation
Eine symptomatische Schmerztherapie wird eingeleitet und der Pa-
tient zur dringend indizierten operativen Versorgung in die Ortho-
pädie der Universitätsklinik verlegt.
O
Dr. med. Uwe Junker Sana-Klinikum Remscheid Zentrum für Anästhesie und Intensiv-, Schmerz- und Palliativmedizin D-42859 Remscheid
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 16/2016. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
PERSPEKTIVEN
Dr. med. Christian Meyer FMH Neurologie, Baden
Neurologie 2017
Im letzten Jahr haben mich vor allem die zunehmenden Möglichkeiten bei der Behandlung der multiplen Sklerose beeindruckt. Betroffen macht mich jedoch der Stillstand in der Migräneforschung.
Besonders gespannt war ich 2016 auf die Ergebnisse der Studien mit monoklonalen Antikörpern bei der Behandlung des Morbus Alzheimer. Leider wurden die Erwartungen bisher nicht erfüllt.
Für 2017 erwarte ich insbesondere neue Erkenntnisse in der Neuroonkologie, nämlich zur Behandlung der Gliome. Dabei handelt es sich um Medikamente, welche individuell entsprechend dem genetischen Profil des Tumors für jeden Patienten speziell hergestellt werden.
Auch neue Medikamente sind 2017 in der Neurologie zu erwarten: Eine vereinfachte Anwendung am Patienten verspricht die Neuzulassung einer MS-Therapie mit ausgezeichneten wissenschaftlichen Daten. Wir erwarten die Zulassung von immunmodulierenden Medikamenten, die sich vor allem gegen die B-Zellen richten.
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