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Ein Schritt zu mehr Kontrolle über die Antikoagulation
Idarucizumab erhält Zulassung als Antidot des DOAK Dabigatran
BERICHT
Der direkte Thrombininhibitor Dabigatran ist seit 2012 zur Vorbeugung von venösen Thrombembolien nach chirurgischem Hüft- oder Kniegelenkersatz sowie zur Schlaganfallprophylaxe bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern im klinischen Einsatz. Seit Juli dieses Jahres ist nun mit Idarucizumab ein spezifisches Antidot am Markt zugelassen, um im Falle schwerer Blutungskomplikationen unter antikoagulatorischer Behandlung mit Dabigatran dessen gerinnungshemmende Wirkung innerhalb weniger Minuten aufheben zu können.
Ralf Behrens
Mit den direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) stehen seit einigen Jahren effektive Wirkstoffe zur Prophylaxe und Akuttherapie von Thrombembolien zur Verfügung, die im Vergleich mit den zuvor zu diesem Zweck eingesetzten, ebenfalls oral zu verabreichenden Vitamin-K-Antagonisten (VKA) aufgrund ihrer einfacheren Anwendbarkeit und in diversen Studien nachgewiesenen mindestens vergleichbaren Wirksamkeit den klinischen Einsatz jener herkömmlichen Gerinnungshemmer weitgehend in den Hintergrund gedrängt haben. So ist etwa mit den DOAK keine labortechnische Überwachung der Blutgerinnung erforderlich. Bei der Behandlung mit VKA dagegen muss regelmässig die INR (International Normalized Ratio) kontrolliert und optimalerweise auf Werte zwischen 2 und 3 eingestellt werden, weshalb das therapeutische Fenster bei ihnen relativ schmal ist. Problematisch bei jeglicher medikamentösen Antikoagulation ist jedoch das Risiko von schweren Blutungen, insbesondere von Hirnblutungen, welche als Nebenwirkung der Therapie auftreten können, oder auch ein im Falle von geplanten Operationen oder in Notfallsituationen erforderliches
rasches Aufheben der Gerinnungshemmung. Während bei einer Überdosierung von VKA oder zwecks einer aus anderen Gründen notwendigen Umkehr ihrer antikoagulatorischen Effekte niedrig dosiertes Vitamin K als wirksames, wenn auch in seiner Wirkung nur schwer steuerbares Gegenmittel gegeben werden kann, war ein entsprechendes Antidot für die DOAK bis anhin nicht verfügbar. Hier kam, abgesehen von allgemeinen Massnahmen mit dem Ziel der Aufhebung des gerinnungshemmenden Effekts sowie der Blutungsstillung, lediglich die Gabe von Prothrombinkomplex-Konzentraten (PPSB) in Frage, welche natürlich stets das Risiko einer überschiessenden gerinnungsfördernden und mithin wiederum thrombogenen Wirkung in sich birgt.
Vorbehalte gegenüber DOAK
Das Fehlen von spezifischen Antidoten gilt bis anhin als einer der möglichen Gründe, warum seitens mancher klinisch tätiger Ärzte noch immer Vorbehalte gegen den Einsatz der DOAK bestehen. Um diesem Manko ihrer ansonsten durchaus erfolgreichen Produkte abzuhelfen, haben die Entwicklungsabteilungen der Hersteller der
DOAK und kooperierender Pharmaunternehmen zuletzt erhebliche Anstrengungen unternommen. Seit geraumer Zeit in klinischer Prüfung befindet sich Andexanet alfa – ein rekombinantes Protein, das dem körpereigenen Faktor Xa ähnelt und demnächst als universelles Gegenmittel zu den FaktorXa-Inhibitoren Rivaroxaban, Apixaban and Edoxaban einsetzbar sein soll. Im Juli dieses Jahres hat nun mit Idarucizumab (Praxbind®), einem gegen den Faktor-IIa-(Thrombin-)Hemmer Dabigatran (Pradaxa®) gerichteten humanisierten Fab (fragment antigen-binding)Antikörper, das erste spezifische Antidot eines DOAK die Marktzulassung auch in der Schweiz erhalten. Aus diesem Anlass und stellvertretend für die Hauptanwendungsbereiche der DOAK und ihrer Antidote in Kardiologie, Neurologie und Notfallmedizin sprachen Professor Dr. Georg Noll, Herzklinik Hirslanden, Zürich, Professor Dr. Krassen Nedeltchev, Chefarzt Klinik für Neurologie und Leiter Stroke Center, Kantonsspital Aarau, sowie Professor Dr. Roland Bingisser, Chefarzt Notfallzentrum, Universitätsspital Basel, an einem Medienroundtable des Herstellers Boehringer Ingelheim (Schweiz) in Zürich über die potenziellen Möglichkeiten, die das spezifische Gegenmittel zu Dabigatran aus ihrer jeweiligen medizinischen Warte bietet, und über erste Erfahrungen mit der Anwendung des neuen Medikaments im klinischen Alltag.
Verfügbarkeit des Antidots begüns-
tigt Entscheidung für Dabigatran
Zunächst fasste Georg Noll die Vorzüge der DOAK bei der Antikoagulationstherapie von Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern (VHF) zusammen: DOAK seien gemäss sämtlichen entsprechend durchgeführten klinischen
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Studien der konventionellen Antikoagulation mit VKA hinsichtlich der Wirksamkeit mindestens ebenbürtig, in punkto Sicherheit sogar überlegen. Das häufig gegen den Einsatz von DOAK angeführte Argument, bei einer Antikoagulation mit VKA notfalls als Gegenmittel Vitamin K geben zu können, entspringe lediglich einer Illusion, stellte der Kardiologe klar: «Im Falle einer schweren Blutung muss man wirklich Faktoren geben.» Das intravenös zu applizierende Idarucizumab habe eine extrem hohe Bindungsaffinität zu Dabigatran (ca. 300-mal höher als die von Dabigatran zum Thrombin), verhindere dessen Bindung zum Thrombin und führe somit zu einer sofortigen, vollständigen und anhaltenden Aufhebung der Wirkung von Dabigatran, so Noll weiter. Im Gegensatz zu Faktorenkonzentraten übe Idarucizumab keinen substanzbezogenen prothrombotischen Effekt aus, und in bisherigen Studien habe die neue Substanz keinerlei schwere unerwünschte Nebenwirkungen gezeigt. Für Noll spielt die Verfügbarkeit eines Antidots bei der Auswahl eines geeigneten Antikoagulans im klinischen Alltag bereits eine entscheidende Rolle – insbesondere bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko beziehungsweise bei solchen, die bereits eine Blutung erlitten haben, jedoch trotzdem unbedingt antikoaguliert werden müssen, weil etwa keinen Vorhofohrverschluss möglich ist oder Operationen geplant sind: «Hier wählen wir dann schon eine Strategie, wo wir bezüglich Blutungen auf der sicheren Seite sind», erklärte Noll.
Herausforderung
intrazerebrale Blutungen
Krassen Nedeltchev wies zunächst auf die Bedeutung von Schlaganfällen als zweithäufigste Todesursache weltweit sowie auf das nicht valvuläre VHF als Ursache für ein Drittel sämtlicher Insulte hin. In der Prophylaxe von ischämischen Schlaganfällen bei VHF habe sich von den DOAK einzig Dabigatran in der Dosierung von zweimal täglich 150 mg auch langfristig im Vergleich mit VKA als signifikant überlegen erwiesen (RE-LY/RELY-ABLE-Studie). Welche Vorteile kann nun die Verfügbarkeit eines Antidots für Dabigatran bieten? Dazu verwies Nedeltchev vor allem auf die Häufigkeit von Stürzen
als Ursache für Hospitalisierungen älterer, trotz Erkrankungen noch aktiver Patienten: «Hier ist es von Vorteil, wenn man bei einem antikoagulierten Patienten sehr schnell eingreifen kann.» Speziell aus neurologischer Sicht komme noch etwas anderes hinzu, und dies betreffe intrazerebrale Blutungen: «30 Prozent dieser Blutungen zeigen eine spontane Vergrösserung ihres Volumens innerhalb der ersten Stunden. Wenn wir hier die Antikoagulation aufheben können, ohne prothrombotisch zu wirken, dann ist schon sehr viel gewonnen.»
Chirurgische Eingriffe möglichst aufschieben «In der Notfallklinik ist ein Blutungsmanagement von antikoagulierten Patienten glücklicherweise nur äusserst selten erforderlich», stellte Roland Bingisser klar. Die Häufigkeit gastrointestinaler Blutungen betrage gemäss einer Metaanalyse unter VKA 2,02 Prozent und unter DOAK 2,56 Prozent, bezüglich intrakranieller Blutungen lägen die Werte unter VKA bei 1,45 und unter DOAK bei 0,7 Prozent. Treten schwere lebensbedrohliche Blutungen auf, rät Bingisser bei Patienten unter VKA zur intravenösen Gabe von frisch gefrorenem Plasma, von PPSB sowie von Konzentraten Vitamin-K-abhängiger Gerinnungsfaktoren. Bei Patienten unter DOAK gelte es, sich an den Leitlinien zu orientieren. Oberstes Gebot für das präoperative Management von Patienten unter Dabigatran sei stets, chirurgische Interventionen wenn möglich zu verschieben. Für dringliche Eingriffe mit Blutungsrisiko gelte ein Serumspiegel von bis zu 30 ng/ ml Dabigtran oder Rivaroxaban (in der Schweiz bis zu 50 ng/ml) als Grenz-
«Die erfolgreiche Auf-
hebung des gerinnungs-
hemmenden Effekts von
Dabigatran ist nicht
gleichbedeutend mit dem
Sistieren einer Blutung.»
wert, bei sehr hohem Blutungsrisiko auch darunter. Bei höheren Werten und keiner möglichen weiteren Aufschie-
bung des Eingriffs komme eine Hämo-
dialyse oder auch die Antagonisierung
der Antikoagulation zum Tragen. Hier
könnte das Antidot Idarucizumab neue
Möglichkeiten eröffnen, allerdings ist
das Medikament in dieser Indikation,
anders als in der Europäischen Union
oder in den USA, noch nicht zugelas-
sen, worauf auch Professor Dr. Sieg-
fried Schön, Medical Director Boehrin-
ger Ingelheim (Schweiz), nochmals aus-
drücklich hinwies – genauso wie auf die
Tatsache, dass eine erfolgreiche Auf-
hebung des gerinnungshemmenden
Effekts von Dabigatran durch Idaruci-
zumab noch nicht, wie vielfach an-
genommen, gleichbedeutend mit dem
Sistieren einer Blutung sei.
Aber auch ohne das Antidot sei im Falle
von Dabigatran aufgrund von dessen
relativ kurzer Halbwertszeit (11–14 h)
etwa 16 bis 24 Stunden nach der letzten
Einnahme mit einem kompletten Ab-
klingen des medikamentös bedingten
Blutungsrisikos zu rechnen, erklärte
Bingisser. Bei Auftreten einer hämo-
dynamisch relevanten oder zerebralen
Blutung unter Dabigatran oder bei
sofort notwendiger Operation seien
die Antagonisierung mit Idarucizumab
und nachfolgende Messungen der Da-
bigatran-Spiegel indiziert. In anderen
Blutungsfällen kämen ausser einem
Pausieren des Antikoagulans zunächst
ebenfalls Messungen der Dabigatran-
Spiegel und nachfolgend mechanische
Blutstillung, Kompression und Volu-
menersatz in Frage.
Da die DOAK immer wichtiger wer-
den, so Bingisser abschliessend, sei das
Kennenlernen ihrer Pathophysiologie
unabdingbar. «DOAK sind zwar alle
ähnlich wirksam, Unterschiede beste-
hen allerdings bezüglich Indikationen
und Kontraindikationen.» Noch kom-
plexer werde die Situation für den Not-
fallmediziner angesichts der jeweils
verschiedenen erforderlichen Dosierun-
gen. Dennoch war für ihn klar: «DOAK
sollten aufgrund ihres geringeren (zere-
bralen) Blutungsrisikos öfter verschrie-
ben werden.»
O
Ralf Behrens
Quelle: «Antidot und kontrollierte Antikoagulation», Boehringer Ingelheim (Schweiz) GmbH, Roundtable für die medizinische Fachpresse, 28. September 2016 in Zürich.
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