Transkript
STUDIE REFERIERT
Kein Paracetamol gegen Arthroseschmerz
In einer Netzwerkmetaanalyse zeigte sich, dass mit Paracetamol bei Arthrosepatienten keine bessere Schmerzlinderung als mit Plazebo erzielt werden kann. In der Gruppe der nicht steroidalen Antirheumatika erwies sich Diclofenac in einer Dosierung von 150 mg/Tag als wirksamstes Medikament zur Linderung der Schmerzen und bezüglich der körperlichen Funktion.
The Lancet
Eine Arthrose ist die häufigste Schmerzursache bei älteren Patienten. Die Schmerzen führen zu einer eingeschränkten körperlichen Funktion und darüber hinaus auch zu einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko (1). Das Management arthrosebedingter Schmerzen basiert auf einer abgestuften Vorgehensweise, wobei nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) eine zentrale Rolle spielen. Innerhalb dieser Medikamentenklasse stehen zahlreiche Präparate mit unterschiedlichen Wirkstoffen und Dosierungen zur Verfügung, sodass für jeden Patienten das passende gefunden werden kann. Aus Datenanalysen geht jedoch hervor, dass die initiale Behandlung meist in einem Wechsel des Medikaments resultiert oder abgebrochen wird. Hauptursache ist wahrscheinlich eine unzureichende Schmerzkontrolle. In Richtlinien und systematischen Reviews wurde bis anhin meist nur die Wirksamkeit von NSAR im Vergleich zu Plazebo untersucht. Zwischen einzelnen Wirkstoffen wurde dabei jedoch nicht differenziert. Bruno da Costa
MERKSÄTZE
O Paracetamol bewirkt bei Arthrose keine Schmerzlinderung.
O Diclofenac 150 mg/Tag hat sich als wirksamstes NSAR bezüglich der Schmerzen und der Funktion erwiesen.
O NSAR sind mit kardiovaskulären und gastrointestinalen Nebenwirkungen verbunden.
O NSAR sollten nur kurzfristig angewendet werden.
vom Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) und seine Arbeitsgruppe verglichen nun anhand einer Netzwerkmetaanalyse die Wirksamkeit von Paracetamol, verschiedenen NSAR und Plazebo bei Patienten mit Knie- oder Hüftarthrose. In die Analyse wurden randomisierte, kontrollierte Studien mit mindestens 100 Teilnehmern aus dem Zeitraum von 1980 bis Februar 2015 eingeschlossen. Als primären Endpunkt definierten die Forscher den Schmerz. Sekundärer Endpunkt war die körperliche Funktion.
Ergebnisse
Insgesamt werteten die Forscher 74 Studien mit 58 556 Patienten aus. Das durchschnittliche Alter der Teilnehmer reichte von 58 bis 71 Jahren, der Frauenanteil variierte von 49 Prozent bis 90 Prozent, und das mediane Followup lag bei 12 Wochen (1 bis 52 Wochen). Im Rahmen der Netzwerkmetaanalyse wurden 23 Behandlungsoptionen (22 Präparate und Plazebo) berücksichtigt. Alle Wirkstoffe waren unabhängig von der Dosis mit einer Verbesserung der Punktwerte auf Schmerzskalen im Vergleich zu Plazebo verbunden. Für Paracetamol (< 2000 mg/Tag; 3000 mg/Tag) konnte jedoch kein relevanter Unterschied im Vergleich zu Plazebo nachgewiesen werden. Bei Diclofenac (150 mg/Tag), Etoricoxib (30 mg/Tag; 60 mg/Tag; 90 mg/Tag) und Rofecoxib (25 mg/Tag; 50 mg/Tag) betrug die Wahrscheinlichkeit, einen klinisch bedeutsamen Mindesteffekt (Effektstärke [ES]: −0,37) im Vergleich zu Plazebo zu erreichen, dagegen mindestens 95 Prozent. Unter den Präparaten mit der maximal zugelassenen Tagesdosis erwiesen sich
Diclofenac 150 mg/Tag (ES: −0,57; 95%-Konfidenzintervall [KI]: −0,69 bis 0,46) und Etoricoxib 60 mg/Tag (ES: −0,58; 95%-KI: −0,73 bis −0,43) als wirksamste Interventionen zur Schmerzlinderung. Mit beiden Medikamenten wurde die Mindestdifferenz gegenüber Plazebo in 100 Prozent aller Fälle erreicht (siehe Abbildung). Unter Paracetamol (< 2000 mg/Tag; 3000 mg/Tag) zeigte sich auch im Hinblick auf die Funktion kein relevanter Unterschied zu Plazebo. Mit Diclofenac 150 mg/Tag und Rofecoxib 25 mg/ Tag konnte dagegen bezüglich der körperlichen Funktion ein klinisch bedeutsamer Mindesteffekt im Vergleich zu Plazebo nachgewiesen werden. Zur Empfehlung anderer Interventionen lag im Hinblick auf die Funktion keine ausreichende Evidenz vor. Bei allen NSAR nahm die Wirksamkeit mit steigender Dosis zu. Ein linearer Zusammenhang wurde jedoch nur bei Celecoxib, Diclofenac und Naproxen beobachtet. Die Autoren fanden keine Anzeichen dafür, dass sich der Behandlungseffekt mit zunehmender Dauer veränderte.
Diskussion
Insgesamt geht aus der Netzwerkmetaanalyse hervor, dass ein Patient, der nur unter Arthrose leidet, mit Diclofenac 150 mg/Tag, Etoricoxib 60 mg/Tag oder Rofecoxib 25 mg/Tag mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent eine klinisch bedeutsame Schmerzlinderung erreicht. Diclofenac 150 mg/Tag erwies sich sowohl bezüglich der Schmerzen als auch bezüglich der Funktion als wirksamstes Medikament. Etoricoxib 90 mg/ Tag und Rofecoxib 50 mg/Tag (beide höher dosiert als die maximal zugelassene Tagesdosis) sind zur Schmerzlinderung möglicherweise noch wirksamer, allerdings lagen dazu keine präzisen Daten vor (1). Da alle NSAR mit kardiovaskulären und gastrointestinalen Nebenwirkungen verbunden sind, sollte die Auswahl vorwiegend anhand der analgetischen Wirksamkeit getroffen werden. Des Weiteren empfehlen die Autoren, diese Substanzen nur kurzfristig und nur in Dosierungen bis zur zugelassenen Höchstgrenze anzuwenden. Von einer langfristigen Behandlung mit fixen Tagesdosen raten sie ab.
572
ARS MEDICI 12 I 2016
STUDIE REFERIERT
Intervention
Rofecoxib 50 mg Etoricoxib 90 mg Diclofenac 150 mg* Etoricoxib 60 mg* Rofecoxib 25 mg* Etoricoxib 30 mg Rofecoxib 12,5 mg Ibuprofen 2400 mg* Lumiracoxib 400 mg Naproxen 1000 mg* Celecoxib 200 mg Diclofenac 100 mg Lumiracoxib 100 mg Celecoxib 400 mg* Lumiracoxib 200 mg* Ibuprofen 1200 mg Diclofenac 70 mg Paracetamol 3000 mg Paracetamol 3900–4000 mg* Celecoxib 100 mg Paracetamol 2000 mg Naproxen 750 mg Plazebo
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Rang
Medianer Rang (95%-KI)
Wahrscheinlichkeit des Erreichens der MID
2,00 (1,00–11,00) 2,00 (1,00–14,00) 3,00 (1,00–8,00) 3,00 (1,00–8,00) 5,00 (2,00–9,00) 6,00 (2,00–12,00) 9,00 (5,00–14,00) 9,00 (4,00–16,00) 9,00 (3,00–16,00) 11,00 (7,00–15,00) 13,00 (9,00–16,00) 14,00 (3,00–20,00) 14,00 (8,00–18,00) 14,00 (8,00–18,00) 14,00 (9,00–18,00) 15,00 (1,00–23,00) 17,00 (3,00–23,00) 19,00 (3,00–23,00) 19,00 (16,00–21,00) 19,00 (15,00–22,00) 21,00 (10,00–23,00) 21,00 (10,00–23,00) 22,00 (19,00–23,00)
98 95 100 100 100 98 93 83 79 78 41 40 28 27 25 40 23 21
0 0 4 4 Referenz
SUCRA (%)
92 89 91 91 82 78 65 65 65 58 50 48 45 44 44 46 34 29 22 21 17 16
8
KI = Konfidenzintervall, *maximale tägliche Dosis
Abbildung: Medianer Rang, Wahrscheinlichkeit, die minimale klinisch relevante Differenz (minimal important clinical difference, MID) zu erreichen, und SUCRA-(surface under the cumulative ranking curve-)Werte der Interventionen (nach da Costa et al., 2016)
STUDIE REFERIERT
Studienmedikamente
O Celecoxib (Celebrex® und Generika) O Diclofenac (Voltaren® und Generika) O Etoricoxib (Arcoxia®) O Ibuprofen (Brufen® und Generika) O Lumiracoxib (in der Schweiz nicht im Handel) O Naproxen (z.B. Apranax®, Proxen® und
Generika) O Rofecoxib (in der Schweiz nicht mehr
erhältlich) O Paracetamol (Panadol® und Generika)
Kommentar In einem Kommentar weisen Nicholas Moore von der Universität Bordeaux (Frankreich) und seine Kollegen zunächst auf die ausgezeichnete Qualität der Netzwerkmetaanalyse hin. In der Studie wurden sowohl selektive Cox(Cyclooxygenase-)2-Hemmer (Coxibe) als auch Diclofenac, Naproxen, Ibu-
profen und Paracetamol untersucht. Die Experten bemängeln jedoch, dass andere, ebenfalls häufig angewendete NSAR vermutlich aufgrund fehlender oder zu kleiner Studien nicht in die Metaanalyse eingeschlossen wurden. Sie halten diese Lücken für bedauerlich, da manche der nicht berücksichtigten Medikamente ebenso wirksam, aber beträchtlich billiger sein könnten (2). Als wichtigstes Ergebnis erachten die Kommentatoren jedoch, dass Paracetamol bei einer Arthrose keinen Nutzen aufweist. Allerdings kommt dieses Ergebnis nicht ganz unerwartet. Obwohl Paracetamol bereits sehr lange verfügbar ist, wurde die Wirksamkeit bei chronischen Erkrankungen niemals quantifiziert und ist vermutlich nicht so ausgeprägt, wie oft angenommen. Auch die Sicherheit wird mittlerweile kritischer beurteilt. Aufgrund dieser neueren Erkenntnisse stellen die Experten die Empfehlung von Paracetamol als «First-line»-Analgetikum bei Arthrose infrage. Ihrer Ansicht nach sollten Forscher auch andere in Vergessen-
heit geratene analgetische Optionen
wie Metamizol (Novalgin® und Gene-
rika) erneut bezüglich der Wirksamkeit
bei Arthrose evaluieren. Den entschei-
denden Bedarf sehen sie jedoch in der
Entwicklung neuer Analgetika, denn
alle verfügbaren Schmerzmittel sind
ihrer Kenntnis nach lediglich Variatio-
nen von NSAR oder Opioiden.
O
Petra Stölting
Quellen: 1. da Costa BR et al.: Effectiveness of non-steroidal anti-
inflammatory drugs for the treatment of pain in knee and hip osteoarthritis: a network meta-analysis. The Lancet 2016; published online March 17, 2016. 2. Moore N et al.: Comment: Does paracetamol still have a future in osteoarthritis? The Lancet 2016; published online March 17, 2016.
Interessenkonflikte: 1) 2 der 7 Autoren der Metaanalyse sind bei der Clinical Trials Unit (CTU) Bern angestellt. Die CTU Bern ist an klinischen Studien beteiligt, die von verschiedenen Pharmaunternehmen finanziert werden. Ein Autor hat Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten, und ein weiterer ist bei Novartis Pharma AG angestellt. 2) 1 der 4 Autoren des Kommentars hat Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
574
ARS MEDICI 12 I 2016