Transkript
EDITORIAL
2016: Tschernoshima revisited
Wo waren Sie am Abend des 28. April 1986? Wenn Sie älter sind als etwa 45 bis 50 Jahre, dann haben Sie vermutlich, ohne lange nachdenken zu müssen, eine Antwort auf diese Frage parat. In jenen Stunden vor fast genau drei Jahrzehnten sickerten die ersten Meldungen über ein schweres Unglück in einem ukrainischen Kernkraftwerk durch, das sich bereits in der Nacht auf den 26. April ereignet hatte, von dem die Öffentlichkeit allerdings mehr als zwei Tage lang von offizieller Seite nichts erfuhr. Es war die Art Nachrichten, die sich ins Gedächtnis einbrennen wie etwa die von Mondlandung, Mauerfall oder Nine Eleven: Ein zum Zweck der Sicherheitsprüfung im Block IV des Atommeilers von Tschernobyl durchgeführtes Experiment hatte sich ins grösste anzunehmende Gegenteil verkehrt: Durch Kernschmelze, Explosionen und Brand im Reaktor gelangten grosse Mengen radioaktiven Materials ins Freie, machten im Umkreis ein Gebiet, knapp viermal so gross wie die Schweiz, auf unbestimmte Zeit unbewohnbar und gingen, fortgetragen und ausgewaschen durch Wind und Wetter, auch noch in Hunderten Kilometer Entfernung und mithin auch hierzulande, nieder. Es war der erste Unfall in einer kerntechnischen Anlage, der die siebte und höchste Stufe («katastrophal») auf der logarithmischen International Nuclear and Radiological Event Scale (INES) erreichte – und der einzige dieser Grössenordnung, bis im März 2011 ein schweres Erdbeben mit Tsunami an der japanischen Pazifikküste das Kernkraftwerk Fukushima zerstörte. Und so erleben wir in diesen Wochen gleich zwei runde Jahrestage ganz ähnlicher Ereignisse. Das zu solchen Anlässen stets allenthalben angemahnte Gedenken an das Geschehene und dessen Opfer ist sicher ein Ritus, aber ein wichtiger. Denn obwohl wir uns, siehe oben, sehr wohl an Schreckliches zu erinnern vermögen, tun wir es freiwillig doch nur selten – die Verdrängungsmechanismen arbeiten, und das ist in den Fällen, wo es dem Selbstschutz dient oder aber die Retrospektive weder einem
selbst noch anderen nützt, ja auch gut so. Doch Katastrophen wie in Tschernobyl oder Fukushima, deren genaue Ursachen, Abläufe und sogar kommende Generationen noch betreffende Folgen noch immer nicht hinreichend verstanden sind, dürfen nicht verdrängt, geschweige denn vergessen, sondern müssen bis in die letzte Konsequenz aufgearbeitet werden, damit sie sich nicht wiederholen. Gedenktage allein werden dazu aber nicht ausreichen – die Masse ist träge und die Halbwertszeit der Schreckensbilder in den Köpfen kürzer als die von Jod 131. Die politischen Auseinandersetzungen um den Nutzen und die Risiken der Kernenergie, obwohl von Tschernobyl und Fukushima jeweils nachhaltig geprägt, haben weder mit diesen Unfällen begonnen noch durch sie nennenswerten, nachhaltigen Zulauf erhalten oder gar einen tragfähigen Konsens erzielt. Im Gegenteil: Die Debatte wird auch jetzt wieder von den immer gleichen Lagern mit aller Schärfe sowie sämtlichen Argumenten – und seien diese noch so hanebüchen – geführt, welche geeignet erscheinen, die eigenen Interessen zu protegieren, während die seit Langem anwachsende Herde der Desinteressierten oder -illusionierten allenfalls kurz scheut und dann gemächlich weitergrast. Trotz vermehrter, mittlerweile auch von der Atomlobby akzeptierter Forschungsergebnisse über die Gefahren ionisierender Strahlung mangelt es für eine sachliche Ein- und Abschätzung des Ausmasses der gesundheitlichen Folgen beider Reaktorkatastrophen aufgrund vielerlei limitierender methodischer und, vor allem im Falle von Tschernobyl, auch politischer Faktoren (Sprachbarriere, Zusammenbruch der UdSSR) an geeigneten, wissenschaftlich fundierten, unabhängigen Daten. Dies führt zwangsläufig dazu, dass sich viele potenzielle Zusammenhänge im Interpretationsspielraum verlieren. Wenn aber etwa über die Zahl der direkt strahlungsbedingten Todesfälle von Tschernobyl förmlich gefeilscht wird, ist eindeutig eine Grenze überschritten. Die bereits auf dem Tisch liegenden Fakten lasten doch längst so schwer auf der Zukunft, dass den Opfern der Vergangenheit wenigstens ihre Würde bleiben sollte. Und dass – Vorsicht, Utopie! – eigentlich jeder halbwegs informierte Bürger sein Scherflein zu einer politischen Kultur beitragen müsste, in der wie selbstverständlich weder der Diskurs darüber, welche Risiken die Gesellschaft zu tragen bereit ist, noch die Kontrolle über Anlagen, von denen solche Risiken ausgehen, allein den Interessenvertretern überantwortet werden.
Ralf Behrens
Wakeford R: Chernobyl and Fukushima – where are we now? J Radiol Prot 2016; 36: E1–E5.
IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.: 30 Jahre Leben mit Tschernobyl, 5 Jahre Leben mit Fukushima: Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima, 1. Aufl., Februar 2016, Berlin.
ARS MEDICI 8 I 2016
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