Transkript
FORTBILDUNG
Psychotrope Substanzen in der Schwangerschaft – ein Review
Die meisten psychotropen Medikamente scheinen in der Schwangerschaft relativ sicher zu sein
Psychiatrische Erkrankungen sind schwere, potenziell
lebensbedrohliche Krankheiten, die erfolgreich mit psy-
chotropen Substanzen behandelt werden können. Noch vor
einigen Jahren wurden diese Medikamente während der
Schwangerschaft meist abgesetzt, insbesondere im ersten
Trimester. Doch inzwischen gibt es neue Daten.
British Medical Journal
Bei Frauen mit vorbekannten psychiatrischen Erkrankungen (einschliesslich Substanzmissbrauch) stellen Schwangerschaft und Postpartalzeit vulnerable Phasen dar, in denen sich die psychiatrische Erkrankung verschlimmern oder rezidivieren kann. Etwa 15 Prozent der Schwangeren weisen eine psychiatrische Erkrankung auf, und 10 bis 13 Prozent der Feten werden einer psychotropen Substanz ausgesetzt. Frauen mit psychiatrischen Störungen können während der Schwangerschaft ein Rezidiv erleiden, selbst wenn sie eine adäquate medikamentöse Therapie erhalten. Werden die Medikamente abgesetzt, steigt das Rezidivrisiko an. Bei Schwangeren mit Major-Depression, die ihre Medikamente im ersten Trimester absetzten, wurde eine Rezidivrate von 68 Prozent berichtet. Bipolare Störungen rezidivierten bei 81 bis 85,5 Prozent der Schwangeren, die ihre Stimmungsstabilisatoren absetzten, während es nur bei 29 bis 37 Prozent der Frauen, die ihre Medikamente weiterhin einnahmen, zu einem Rezidiv kam. Etwa die Hälfte der Schizophreniepatienten erleidet ein Rezidiv, wenn die Medikamenteneinnahme gestoppt wird. Diese hohen Rezidivraten weisen darauf hin, dass viele Patientinnen eine Therapie während der Schwangerschaft
MERKSÄTZE
O Idealerweise sollte schon vor einer Schwangerschaft diskutiert werden, wie psychiatrische Erkrankungen während der Schwangerschaft behandelt werden sollen.
O Psychiatrische Erkrankungen gehen mit Risiken für Mutter und Kind einher. Behandlungspriorität sollte sein, dass die Mutter unter psychiatrischen Gesichtspunkten während der Schwangerschaft gut eingestellt ist.
O Jeder Einzelfall muss individuell entschieden werden.
benötigen, um Rückfälle zu verhindern. In einem aktuellen Review untersuchte ein amerikanisches Autorenteam, was derzeit über das Management psychotroper Substanzen während der Schwangerschaft bekannt ist und was nicht.
Stoffwechsel und Medikamenten-Clearance
in der Schwangerschaft
Während der Schwangerschaft werden Veränderungen des Medikamentenstoffwechsels und der Clearance beobachtet. Diese Veränderungen beginnen früh und fluktuieren auch noch im dritten Trimester. Es kommt zu einer Erhöhung des Plasmavolumens um 50 Prozent, zu einer Zunahme des Körperfetts und zu einem erhöhten Medikamentenverteilungsvolumen. Ausserdem ändern sich auch Nierendurchblutung, glomeruläre Filtrationsrate und Medikamentenelimination. Aufgrund der veränderten Aktivität der Leberenzyme verändert sich die Medikamenten-Clearance, was für psychotrope Substanzen wie Fluoxetin oder Methadon hoch relevant ist. Die Datenlage zur Medikamentendosierung in der Schwangerschaft ist spärlich. Die vorliegenden Daten stammen überwiegend aus Beobachtungsstudien und sollten aufgrund der hohen interindividuellen Variabilität zurückhaltend interpretiert werden. Falls verfügbar, kann ein Monitoring der Serumspiegel bei der Wahl der geeigneten Dosis helfen. Ansonsten müssen sich Ärzte auf das verlassen, was allgemein über die pharmakokinetischen Veränderungen während der Schwangerschaft bekannt ist, sowie auf ein paar Grundregeln. Dazu zählt, dass das Medikament möglichst niedrig dosiert, der psychische Zustand der Schwangeren engmaschig überwacht und die Dosis bei Bedarf angepasst wird. Antidepressiva sind die bei Schwangeren am häufigsten verordneten psychotropen Substanzen. In den letzten Jahren wurden verschiedene Studien zum Einsatz von Antidepressiva während der Schwangerschaft durchgeführt. Sie ergaben kein erhöhtes Risiko unerwünschter Ereignisse oder brachten widersprüchliche Daten. Viele dieser Arbeiten konzentrierten sich auf selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), doch werden im vorliegenden Beitrag auch Daten zu anderen Antidepressiva diskutiert.
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
Es wurde über ein gering erhöhtes absolutes Risiko für seltene Geburtsdefekte bei Exposition gegenüber SSRI berichtet, doch wurde in vier Metaanalysen, die das Risiko für schwere Missbildungen bei SSRI-Exposition im ersten Schwangerschaftsdrittel untersuchten, kein signifikant erhöhtes Risiko festgestellt.
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FORTBILDUNG
Kardiovaskuläre Fehlbildungen Der Einsatz von Paroxetin im ersten Schwangerschaftsdrittel wurde in einigen Studien mit einem höheren Risiko für kardiovaskuläre Malformationen in Verbindung gebracht. Andere Studien bestätigten das nicht. Im Hinblick auf die Gabe während der Schwangerschaft ist Paroxetin nach wie vor das am meisten umstrittene Antidepressivum. Studien mit Bupropion kamen ebenfalls zu widersprüchlichen Ergebnissen. Das GlaxoSmithKline-Schwangerschaftsregister fand ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Fehlbildungen in retrospektiven und prospektiven Berichten. Eine weitere retrospektive Fallkontrollstudie beobachtete eine höhere Rate an Defekten des linken kardialen Ausflusstrakts. Andere Studien sind jedoch beruhigend. Falls tatsächlich ein reales Risiko besteht, ist es gering (< 1% der exponierten Säuglinge). Eine Studie konnte zeigen, dass die Kombination aus einem Benzodiazepin plus SSRI, nicht jedoch eine SSRI-Monotherapie, die Inzidenz kongenitaler Herzfehler erhöhte. In vielen Publikationen wurde nicht kontrolliert, ob eine Exposition gegenüber weiteren Medikamenten bestand. Allgemeiner Konsensus ist, dass das Risiko gravierender Organfehlbildungen – falls es überhaupt existiert – bei einer antidepressiven Monotherapie gering ist. Einige Studien haben ergeben, dass die Assoziation zwischen Antidepressiva und Herzfehlern wahrscheinlich sekundär ist und mit zugrunde liegenden Risikofaktoren bei depressiven Patientinnen zu tun hat. Spontanabort Obwohl die Studien hierzu ebenfalls limitiert sind, weil sie nicht auf die zugrunde liegende psychiatrische Erkrankung und die assoziierten Risikofaktoren kontrollierten, lassen die Ergebnisse insgesamt vermuten, dass die Gabe von Antidepressiva in der Frühschwangerschaft mit einem moderat erhöhten Risiko für Spontanaborte assoziiert ist. Die berichteten Odds Ratios (OR) liegen im Allgemeinen zwischen 1,4 und 1,6. Frühgeburt und Geburtsgewicht Insgesamt deutet die Fachliteratur darauf hin, dass die Frühgeburtenrate bei Frauen, die Antidepressiva nehmen, höher ist. Jedoch wurde in den meisten Studien nicht auf die Schwere der psychiatrischen Erkrankung oder andere störende Variablen kontrolliert, die bei Patienten mit psychiatrischen Störungen häufiger auftreten. Ein aktueller systematischer Review mit Metaanalyse von 41 Studien kam zu dem Ergebnis, dass die gepoolte adjustierte OR 1,53 betrug, wenn irgendwann im Schwangerschaftsverlauf Antidepressiva eingenommen wurden, beziehungsweise 1,96, wenn im letzten Schwangerschaftsdrittel Antidepressiva gegeben wurden. Eine Studie, die auf das Gesundheitsverhalten, depressive Störungen und psychiatrische Erkrankungen kontrollierte, fand bei SSRI-Anwenderinnen ein höheres Risiko für Frühgeburten, was für eine gewisse biologische Rolle spricht. Die Literatur über Antidepressivagabe und niedriges Geburtsgewicht ist ebenfalls dadurch kompliziert, dass die Grunderkrankung als Störfaktor einzustufen ist. Die Ergebnisse sind uneinheitlich. Persistierende pulmonale Hypertonie des Neugeborenen (PPHN) Bei der PPHN nimmt der Widerstand der Pulmonalgefässe bei der Geburt nicht ab, was zu Atemproblemen, zu Hypoxämie und oft zur Intubation führt. PPHN verursacht schwere Morbidität und geht mit einer Mortalitätsrate von 10 bis 20 Prozent einher. Die PPHN wurde mit verschiedenen Faktoren wie mütterlichem Rauchen, Diabetes, Sepsis, Mekoniumaspiration und Kaiserschnitt assoziiert. Mehrere Untersuchungen analysierten die Assoziation zwischen SSRI und PPHN. Eine Fallkontrollstudie verglich 377 Frauen, deren Säuglinge an PPHN litten, mit 836 Frauen, deren Kinder keine PPHN hatten: 14 der PPHN-Babys hatten nach der 20. Schwangerschaftswoche eine SSRI-Exposition erfahren im Vergleich zu 6 Babys, die keine PPHN entwickelten (OR: 6,1, wenn auf mütterlichen Diabetes, ethnische Zugehörigkeit und BMI adjustiert wurde). 6 weitere Studien zu SSRI und PPHN kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen. PPHN trete bei 1 bis 2 von 1000 Säuglingen aus der Allgemeinbevölkerung auf, schreiben die Autorinnen. Wenn die Behandlung mit SSRI das PPHN-Risiko um den Faktor 6 erhöht, entwickeln nur 6 bis 12 von 1000 (0,6–1,2%) der gegenüber SSRI exponierten Säuglinge eine PPHN. Folglich bringen 99 Prozent der Frauen, die während der Schwangerschaft einen SSRI einnehmen, gesunde Kinder zur Welt, die keine PPHN entwickeln. PNAS (poor neonatal adaptation syndrome) Der erste Bericht über Babys, die eine Antidepressivaexposition erlebt hatten und «Entzugssymptome» entwickelten, erschien im Jahr 1973. Unklar ist, ob das «neonatale Entzugssyndrom» tatsächlich durch Entzug oder aufgrund der Toxizität des Medikaments entsteht. Daher ist der Begriff «Syndrom der schlechten neonatalen Anpassung» (poor neonatal adaptation syndrome, PNAS) wahrscheinlich eine bessere Beschreibung. Die FDA gab 2004 eine Warnung heraus, dass die Gabe von SSRI- und SNRI-Antidepressiva im letzten Schwangerschaftsdrittel mit einem PNAS assoziiert sein kann. Daraufhin gingen viele Ärzte dazu über, die Dosierung von Antidepressiva vor der Geburt zu reduzieren, obwohl unklar ist, ob dies das PNAS-Risiko senkt und ob dieses Vorgehen für die Mutter sicher ist. Die meisten PNAS-Fälle verlaufen mild und selbstlimitierend und sind nicht mit bleibenden Effekten assoziiert. Nach aktueller Datenlage weist etwa ein Drittel der exponierten Babys zumindest milde Symptome auf, die für ein PNAS sprechen. Das Risiko steigt an, wenn die Mutter mehrere Substanzen – insbesondere Benzodiazepine – eingenommen hat. Derzeit gibt es nach Ansicht der Autorinnen keine ausreichende Evidenz, um aus Sicherheitsgründen eine Dosisreduktion der Antidepressiva im dritten Trimester zu empfehlen, vor allem dann nicht, wenn die Mutter eine mässig bis schwer ausgeprägte psychiatrische Erkrankung aufweist. Stimmungsstabilisatoren Lamotrigin Gemäss dem vom Hersteller gesponserten Lamotriginschwangerschaftsregister und anderen publizierten Daten erhöht eine Lamotriginmonotherapie das Risiko für kongenitale ARS MEDICI 7 I 2016 335 FORTBILDUNG KOMMENTAR Dr. med. Antje Heck, Fachärztin für klinische Pharmakologie und Toxikologie FMH und Anästhesie FMH, leitet die Spezialsprechstunde Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG). Psychische Erkrankungen in Schwangerschaft und Stillzeit – ein Balanceakt Spezialsprechstunde Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit Beratung und Information bei Kinderwunsch, in der Schwangerschaft und Stillzeit Psychiatrische Dienste Aargau AG Klinik Königsfelden Qualitätszentrum für Medikamentensicherheit mediQ, Zürcherstrasse 241, 5210 Windisch Tel. 052 462 21 86, E-Mail: schwangerschaft@pdag.ch Vorträge zu diesem Thema beginne ich gern mit einem Foto von Freddy Nock, der auf dem Hochseil das Jungfraujoch hinaufbalanciert. Denn etwa so fühlt es sich an, Frauen, die Medikamente einnehmen müssen und einen Kinderwunsch hegen oder schon schwanger sind, zu behandeln. Es ist ein Balanceakt, bei dem die mütterliche Gesundheit, die Risiken der behandelten oder unbehandelten Erkrankung, gegen kindliche Risiken abgewogen werden müssen. Zu beachten sind dabei zahlreiche und individuell stark variierende Faktoren. Darunter das Schwangerschaftsstadium, die Schwere und Dynamik der Erkrankung, der bisherige Behandlungsverlauf sowie die Ängste der Patientin und ihrer Angehörigen. Dabei gilt es, die Frauen zu befähigen, Risiken zu verstehen und eigene, für sie selbst stimmige Entscheidungen treffen zu können, umfassend aufzuklären über die Gefahren der unbehandelten Erkrankung, die Psychodynamik in der Schwangerschaft, die Risiken einer Medikation im Schwangerschaftsverlauf (Abortrisiko, Teratogenität, Wachstums- und Entwicklungsverzögerung, Geburtskomplikationen und neo- natale Anpassungsstörungen) sowie Optionen für die Stillzeit zu besprechen. Auch sollte die Patientin einen Einblick in die aktuelle Datenlage bekommen und sich der für die Allgemeinbevölkerung geltenden Basisrisiken bewusst werden. Für ein Ampelsystem (problemlos verabreichbare bis keinesfalls einzunehmende Substanzen) reicht die Datenlage meist nicht aus, Simplifizierungen («Darf meine Patientin Substanz XY in der Schwangerschaft einnehmen?») gehen allzu leicht an der klinischen Realität, der individuellen Krankheitsgeschichte vorbei. Zudem sind sehr wohl innerhalb der Substanzgruppen Medikamente zu identifizieren, zu denen die Datenlage breiter abgestützt ist oder die aus pharmakologischer Sicht weniger riskant erscheinen. Unter den SSRI sind beispielsweise Sertralin und Citalopram aus pharmakodynamischen Gründen dem Paroxetin oder aus pharmakokinetischen Gründen dem Fluoxetin vorzuziehen. Unter den Mood Stabilizern finden sich echte humane Teratogene wie Valproat oder Carmabazepin, denen Lamotrigin oder auch Quetiapin unbedingt vorgezo- gen werden sollten. Ein längerfristiger Wechsel ist hier vor Eintritt einer Schwangerschaft wünschenswert, und der behandelnde Arzt sollte Erfahrung mit den möglichen Alternativen haben. Beispielsweise muss Lamotrigin unter therapeutischem Drug-Monitoring in der Schwangerschaft bis zu dreifach aufdosiert werden (wegen induzierter Glucuronidierung und erhöhter renaler Elimination) und die Dosierung peripartal engmaschig gesteuert werden, da sonst eine Intoxikation droht. Unter den Benzodiazepinen scheint Alprazolam ein teratogenes Potenzial für gastrointestinale Atresien zu haben, für andere Benzodiazepine gilt dies nach derzeitigem Wissen nicht. Ein intermittierender Gebrauch ist wie bei Nichtschwangeren einer chronischen Einnahme vorzuziehen. Eine neuroleptische Behandlung erfordert sehr viel klinische Erfahrung, spezialisiertes Fachwissen (z.B. bezüglich Prolaktinerhöhung, Gewichtszunahme, Wirkung eher gegen eine Positiv- oder Negativsymptomatik) und nicht zuletzt Fingerspitzengefühl des Facharztes einer zumeist doch schwer erkrankten und in ihren Ressourcen eingeschränkten Patientin gegenüber. Medikamentöse Therapien in der Schwangerschaft (SS): Limitationen O Das Thema ist en vogue: Zahlreiche Publikationen erfordern stete Vigilanz. O keine kontrollierten Studien, heterogene Untersuchungsmethoden Patientin individuelle Bedürfnisse Einstellung zu Therapie Compliance Erkrankung Schwangerschaftsstadium Individuelle Besonderheiten Konsensus Schweregrad Kinderwunsch Komorbidität + Patientin Dynamik 1. Trimenon Komedikation + Partner/Familie Färbung 2./3. Trimenon peri-/postpartal Stillzeit sozioökonomischer Status ethnisch familiär + allen behan+ delnde Ärzte Basis einer erfolgreichen Pharmakotherapie in der SS bleiben die individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung sowie der informierte Konsens. Es ergibt sich die Notwendigkeit, auf indi- viduelle Bedürfnisse therapeutisch indi- viduell eingehen zu müssen. Nur eine bestens informierte und interdisziplinär engmaschig begleitete Patientin kann diese anspruchsvolle Zeit, in der es häu- fig zu erneuten Krankheitsphasen kommt, ausreichend sicher und beru- higt, im besten Fall sogar gesund und freudig erleben. O Dr. med. Antje Heck 336 ARS MEDICI 7 I 2016 FORTBILDUNG Defekte nicht. Wurde Lamotrigin in der Schwangerschaft mit Valproinsäure kombiniert, lag die Risikoschätzung bei über 12,5 Prozent. Der Lamotriginspiegel kann im Schwangerschaftsverlauf absinken und sollte deshalb überwacht und bei Bedarf angepasst werden. Valproinsäure Die Gabe von Valproinsäure im ersten Schwangerschaftstrimester ist mit einer hohen Missbildungsrate (≤ 10%) assoziiert. Dazu zählen Neuralrohrdefekte, Effekte auf Kognition und Hirnvolumen, kraniofaziale Anomalien, Herzfehler, Gaumenspalte und Hypospadie. Zwei Studien berichteten kürzlich auch über einen Zusammenhang zwischen Valproinsäureexposition und Autismus. Ärzte sollten Schwangeren, die während der Schwangerschaft weiterhin ein Antikonvulsivum einnehmen möchten, zu hoch dosierter Folsäure (4 mg/Tag) raten, was das Risiko für Neuralrohrdefekte theoretisch reduziert. Ausserdem sollte im zweiten Schwangerschaftsdrittel ein Ultraschallscreening auf gravierende kongenitale Anomalien stattfinden. Die Blutspiegel von Valproinsäure sollten ebenfalls überwacht werden. Carbamazepin Carbamazepin geht ebenfalls mit einem erhöhten Missbildungsrisiko einher (2,2–3,3%). Insbesondere handelt es sich dabei um Spina bifida und andere Neuralrohrdefekte sowie um Gesichts- und Skelettanomalien, Hypospadien und Zwerchfellhernien. Zudem kann Carbamazepin als kompetitiver Inhibitor von Prothrombinvorstufen das Blutungsrisiko beim Neugeborenen erhöhen. Auch bei einer Carbamazepineinnahme sollte hoch dosierte Folsäure gegeben werden und ein Screening auf Missbildungen sowie ein therapeutisches Blutmonitoring erfolgen. Lithium Die Gabe von Lithium im ersten Schwangerschaftsdrittel wurde mit einem erhöhten Risiko für eine Ebstein-Anomalie (ein schwerer angeborener Herzfehler) assoziiert. Diese Anomalie tritt bei 1 von 1000 Lebendgeburten auf. Zudem wurde Lithium mit perinataler Toxizität einschliesslich Hypotonie und Zyanose in Verbindung gebracht. Bei Frauen mit schwerer bipolarer Störung kann das Risiko eines Rezidivs während der Schwangerschaft das relativ geringe Risiko für eine Ebstein-Anomalie in den Schatten stellen. Bei diesen Frauen kann eine Lithiumerhaltungstherapie während der Schwangerschaft das angemessenste Vorgehen sein. Im Gegensatz dazu können bei Frauen mit Phasen der Euthymie und wenigen vorausgegangenen affektiven Episoden ein langsames Ausschleichen des Lithiums und eine erneute Gabe von Lithium nach dem ersten Trimester dazu beitragen, das Rezidivrisiko in der postpartalen Phase zu reduzieren. Während der Schwangerschaft sollten die Lithiumspiegel engmaschig überwacht und die Dosis beim Einsetzen der Wehen beibehalten oder reduziert werden. Die Hydratation während der Geburt sollte angemessen sein und die Dosis auf die Werte vor der Schwangerschaft reduziert werden (falls die Dosis während der Schwangerschaft erhöht wurde), wobei die Serumspiegel weiterhin engmaschig überwacht werden sollten. Antipsychotika Die Datenlage zum Einsatz von Antipsychotika in der Schwangerschaft hat sich in den letzten zehn Jahren verbessert. Demnach sind Antipsychotika während der Schwangerschaft relativ sicher. Auf Antipsychotika zu verzichten, die wegen einer schweren psychiatrischen Erkrankung eigentlich indiziert wären, würde mit viel höheren Risiken einhergehen (inkl. des Risikos für Suizide oder Infantizide). Bei der Gabe von Antipsychotika in der Schwangerschaft muss die Pharmakokinetik beachtet werden. Mit fortschreitender Schwangerschaft werden die CYP1A2-Enzyme herunterreguliert, daher kann es sein, dass Olanzapin und Clozapin niedriger dosiert werden müssen. Antipsychotika können die normalen metabolischen Veränderungen, die während der Schwangerschaft beobachtet werden, noch verstärken. Viele Antipsychotika (insbesondere der zweiten Generation) sind mit einer exzessiven mütterlichen Gewichtszunahme, erhöhtem Geburtsgewicht des Kindes sowie Gestationsdiabetes assoziiert. Antipsychotika der ersten Generation (FGA) Antipsychotika der ersten Generation (FGA) werden seit über 45 Jahren breit eingesetzt. Zwar fehlen kontrollierte Studien, doch wurden FGA über viele Jahre ohne eindeutige teratogene oder andere toxische fetale Effekte verabreicht, daher nimmt man an, dass diese Medikamente während der Schwangerschaft ein besseres Sicherheitsprofil aufweisen als Antipsychotika der zweiten Generation (SGA). Das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) stellt fest, dass «kein signifikanter teratogener Effekt bei Chlorpromazin, Haloperidol und Perphenazin dokumentiert wurde», und weist darauf hin, dass der Einsatz von Piperazinphenothiazinen (wie Trifluoperazin und Perphenazin) ein besonders limitiertes teratogenes Potenzial aufweisen kann. Eine Leitlinie der American Academy of Pediatrics aus dem Jahr 2000 empfahl den Einsatz hoch potenter FGA, um Schwangeren die anticholinergen, hypotensiven und antihistaminergen Effekte niedrigpotenter Antipsychotika möglichst zu ersparen. Dieselbe Leitlinie sprach sich auch gegen den Einsatz von Depot-Antipsychotika aus, da diese nicht flexibel dosiert werden können und um eine prolongierte Exposition des Neugeborenen gegenüber Medikamenten mit potenziell toxischen Effekten möglichst zu verhindern. Antipsychotika der zweiten Generation (SGA) Nach derzeitiger Evidenzlage sind SGA in der Schwangerschaft nicht sicherer als FGA. Das am besten untersuchte SGA ist Olanzapin, das gemäss globalen Sicherheitsüberwachungsdaten in der Schwangerschaft im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zu keinen anderen Ergebnissen führt. Allerdings wurden Bedenken geäussert, dass das Geburtsgewicht von Säuglingen ansteigt, wenn die Mutter in der Schwangerschaft mit SGA behandelt wurde. Zudem weisen einige Studien darauf hin, dass der Einsatz von SGA in der Schwangerschaft mit einem erhöhten Hypoglykämierisiko einhergeht. 338 ARS MEDICI 7 I 2016 FORTBILDUNG Was bei der Behandlung von Schwangeren mit psychiatrischen Erkrankungen bedacht werden sollte: 6 Grundregeln Regel 1: Alle Änderungen der Medikation sollten möglichst bereits vor der Schwangerschaft vorgenommen werden. Das hält die Anzahl der Medikamentenexpositionen für das Ungeborene so gering wie möglich und fördert die psychische Stabilität der Mutter. Regel 2: Im Idealfall sollte die Patientin mindestens 3 Monate psychisch stabil sein, bevor sie versucht, schwanger zu werden. Das ist nicht immer praktikabel, gibt aber eine gewisse Sicherheit, dass die Patientin stimmungsmässig stabil ist, bevor die Schwangerschaft beginnt. Regel 3: Setzen Sie Medikamente ein, über die man einiges weiss. Zu Medikamenten, die erst kürzlich zugelassen wurden, sind weniger Daten verfügbar. Wenn ein Medikament bereits seit einigen Jahren zur Verfügung steht, besteht zumindest eine gewisse Evidenz, dass es zum Beispiel wahrscheinlich nicht mit gravierenden Organfehlbildungen assoziiert ist. Regel 4: Minimieren Sie die Anzahl der Expositionen für das Kind. Versuchen Sie, die Anzahl der Medikamente so gering wie möglich zu halten. Aber betrachten Sie die Exposition gegenüber einer psychiatrischen Erkrankung ebenfalls als Exposition. Ein Medikamentenwechsel während der Schwangerschaft erhöht die Anzahl der Expositionen. Häufig werden Frauen, die eine neuere psychotrope Substanz einnehmen, bei Bekanntwerden einer Schwangerschaft auf ein älteres Medikament umgestellt, weil für dessen Sicherheit eine bessere Evidenzlage besteht. Dieses Vorgehen erhöht jedoch die Expositionen für das Kind – erst gegenüber dem neueren Medikament, dann gegenüber der älteren Substanz. Hinzu kommt, dass die Mutter nach dem Medikamenten-Switch mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Rückfall erleidet, und die Exposition gegenüber der psychiatrischen Erkrankung würde für das Kind eine dritte Exposition bedeuten. Regel 5: Setzen Sie auf Teamarbeit. Das bedeutet, dass andere Ärzte und Angehörige in die Betreuung der Patientin eingebunden werden. Um eine gute Betreuung für Mutter und Kind zu gewährleisten, sollte die Familie über Nutzen und Risiken der Behandlung (und einer Nichtbehandlung) sowie über Zeichen und Symptome eines Rückfalls informiert werden. Eine direkte Kommunikation mit dem Geburtshelfer und dem Kinderarzt beugt Missverständnissen vor und minimiert Meinungsverschiedenheiten. Das wirkt sich positiv auf die Behandlungsergebnisse der Patientin aus. Regel 6: Nehmen Sie eine supportive Haltung ein, auch wenn die Patientin sich gegen Ihre Empfehlungen entscheidet. Es gibt viele Gründe, warum sich eine Frau gegen den Rat des Arztes, der für ihre psychiatrische Behandlung zuständig ist, entscheidet. Insbesondere was den Einsatz von Medikamenten während der Schwangerschaft anbelangt. Es ist wichtig, dass der Arzt die Patientin trotz dieser Meinungsverschiedenheiten unterstützt. Es sei noch einmal betont, dass ein Betreuungsansatz im Team oft hilft, Meinungsverschiedenheiten zu vermeiden. Es kann auch hilfreich sein, die Patientin möglichst ausführlich über die Risiken einer unbehandelten psychiatrischen Erkrankung zu informieren. Anxiolytika Benzodiazepine Studien zum Einsatz von Benzodiazepinen in der Schwangerschaft kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen. So gibt es mehrere Fallberichte von Säuglingen mit perinatalen Problemen wie Temperaturdysregulation, Apnoe, Hypotonie oder Trinkschwäche, deren Mütter Benzodiazepine in der Schwangerschaft eingenommen hatten. In älteren Studien wurde zudem über ein erhöhtes Risiko für Gaumenspalten berichtet. In neueren Untersuchungen konnte kein erhöhtes Risiko für Lippen- oder Gaumenspalten gezeigt werden, wenn während der Schwangerschaft Benzodiazepine verabreicht wurden. Bei der Abwägung von Nutzen und Risiken der Benzodiazepingabe sollten Ärzte auch die Risiken unbehandelter psychiatrischer Störungen bedenken, schreiben die Autorinnen. Manche Frauen mit ausgeprägter Angstsymptomatik oder mit gravierenden Schlafstörungen kommen wahrscheinlich zu dem Schluss, dass der Nutzen einer Benzodiazepinbehandlung jedes theoretische Risiko aufwiegt. Gabapentin Gabapentin ist zwar nicht für die Behandlung von Angststörungen zugelassen, doch gilt es im Allgemeinen als sichere Alternative zur Behandlung von Angststörungen während der Schwangerschaft. Pregabalin Wie Gabapentin ist auch Pregabalin nicht zur Behandlung von Angststörungen zugelassen, doch hilft es, die Angstsymptomatik zu lindern. Pregabalin ist nicht so gut untersucht wie Gabapentin, es gibt derzeit aber keine Hinweise auf ein erhöhtes Missbildungsrisiko. Buspiron Tierexperimentelle Untersuchungen ergaben keine Hinweise auf teratogene Wirkungen, doch gibt es keine entsprechenden Daten zum Einsatz beim Menschen. Medikamente zur Therapie der Substanzabhängigkeit Zum Therapiestandard bei opioidabhängigen Schwangeren gehört die Gabe eines Opioidagonisten. Dieses Vorgehen reduziert den illegalen Opioidgebrauch sowie die schwangerschaftsbezogene Morbidität und Mortalität, und es verbessert die Ergebnisse der Neugeborenen. Ein Opioidentzug in der Schwangerschaft wird nur für Frauen empfohlen, die eine Therapie mit einem Opioidagonisten ablehnen, oder aber wenn keine anderen Optionen verfügbar sind. 340 ARS MEDICI 7 I 2016 FORTBILDUNG Methadon Bis vor Kurzem war es in den USA üblich, opioidabhängige Schwangere nur mit Methadon zu behandeln, weil randomisierte, kontrollierte Studien zeigten, dass dies den Heroingebrauch in opioidabhängigen Populationen stark senkte und die Therapieadhärenz im Vergleich zu Patienten ohne Opioidagonistentherapie erheblich besserte. Auch gab es keine Hinweise für ein erhöhtes Risiko kongenitaler Missbildungen oder für ungünstige Schwangerschaftsergebnisse – mit Ausnahme des neonatalen Abstinenzsyndroms (NAS). Unter Methadon kann es bei Neugeborenen zu einem NAS kommen, das gekennzeichnet ist durch Dysfunktion des autonomen und zentralen Nervensystems sowie des gastrointestinalen und respiratorischen Systems. Die Inzidenz des NAS liegt zwischen 55 und 94 Prozent und ist unabhängig von der mütterlichen Methadondosis. Die meisten Neugeborenen mit NAS müssen stationär und oft intensivmedizinisch behandelt werden. Buprenorphin Studien weisen darauf hin, dass Methadon im Hinblick auf die mütterliche Therapieadhärenz überlegen ist, doch scheint das NAS bei Säuglingen von Müttern, die Buprenorphin anwenden, kürzer zu sein. Bei folgenden opioidabhängigen Schwangeren sollte die Gabe von Buprenorphin erwogen werden: O bei Frauen, die Methadon ablehnen O bei Frauen, die zu einem früheren Zeitpunkt gut auf Buprenorphin angesprochen haben oder die aktuell auf Buprenorphin stabil eingestellt sind O bei Frauen, die bisher noch keine Therapie mit Opioidagonisten erhalten haben. Die Studienlage spricht dafür, dass sowohl Methadon als auch Buprenorphin in der Therapie schwangerer Frauen sicher anzuwenden sind, doch gibt es keinen Grund, auf Buprenorphin umzustellen, wenn eine Frau unter laufender Methadontherapie schwanger geworden ist. Frauen, die mit Buprenorphin plus Naloxon behandelt worden sind, sollten auf Buprenorphin umgestellt werden, wenn eine Schwangerschaft eintritt. Naltrexon Es gibt nur spärliche Daten zur Anwendung von Naltrexon bei Schwangeren. Es gibt keine ausreichende Evidenz, welche die Initiierung einer Naltrexontherapie in der Schwangerschaft zur Behandlung einer Opioid- oder Alkoholabhängigkeit stützt. Doch wenn eine Frau bereits auf Naltrexon eingestellt ist und davon profitiert, kann das Risiko eines Therapieabbruchs grösser sein als potenzielle Risiken für den Fetus oder für die Schwangerschaft. Weitere psychotrope Substanzen Antihistaminika Antihistaminika sind breit verfügbar und werden häufig während der Schwangerschaft verwendet, um Übelkeit und Schlafstörungen zu behandeln (z. B. Diphenhydramin, Doxylamin, Hydroxyzin und Pheniramin). Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit fand eine Assoziation zwischen pränataler Antihistaminikaexposition und angeborenen Fehlbildungen, doch wurden Bedenken zur Methodologie der ausgewerteten Studien geäussert. Schlaffördernde Substanzen Eszoplicon, Ramelteon und Zolpidem wurden nicht mit gravierenden Organfehlbildungen in Verbindung gebracht, doch wurde der Einsatz von Zolpidem über mehr als 90 Tage mit einem signifikant erhöhten Risiko für niedriges Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit und Kaiserschnittentbindungen assoziiert. Stimulanzien Es gibt nur spärliche Daten zu Methylphenidat oder Atomoxetin. Möglicherweise besteht ein erhöhtes Risiko für Spontanaborte und Fehlgeburten. Die Aussagekraft der meisten Studien ist begrenzt, da häufig ein Substanzmissbrauch oder eine Komedikation mit teratogenen Substanzen vorlag. O Andrea Wülker Chisolm MS, Paine JL: Management of psychotropic drugs during pregnancy. BMJ 2015; 351: h5918. Interessenkonflikte: Eine der beiden Autorinnen der referierten Originalarbeit gibt an, Beratungshonorare von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten zu haben. 342 ARS MEDICI 7 I 2016