Transkript
Ist es «Rücken» oder was?
Spezifische Ursachen für Rückenschmerzen
FORTBILDUNG
Die Ursachen von Rücken- beziehungweise Kreuzschmer-
zen können vielfältig sein. Es werden nicht spezifische von
spezifischen Ursachen unterschieden. Dabei ist es wichtig,
gefährliche Verläufe zu erkennen und einer schnellen
Diagnostik und Therapie zuzuführen. Im Folgenden werden
einige spezifische Formen von Rückenschmerzen und
deren Untersuchungsbefunde dargestellt.
Oliver Höffken
Eine mögliche Unterteilung der vielfältigen Ursachen von Rückenschmerzen kann in mechanische, nicht mechanische und viszerale Erkrankungen erfolgen (vgl. Tabelle 1) (1). Insbesondere bei der Entstehung chronischer Rückenschmerzen hat sich das pathophysiologische Verständnis in den letzten Jahren vertieft, wobei Veränderungen auf Ebene der Entzündungsmediatoren, des peripheren Nervensystems (C- und A-Delta-Fasern) und der Plastizität des zentralen Nervensystems diskutiert werden. Die «Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz» bezieht sich auf eine Untergruppe der Rückenschmerzen, die sich unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der Gesässfalten, mit oder ohne Ausstrahlung definiert (2). Hierbei beschränken sich die Empfehlungen der Leitlinie auf die Versorgung des nicht spezifischen Kreuzschmerzes. Zur Früherkennung bedrohlicher Ursachen, die bei allen Betroffenen beachtet werden müssen, benennt die NVL sogenannte «red flags», um potenziell gefährliche Erkrankungssituationen zu erkennen und eine angemessene Abklärung und Behandlung einzuleiten (vgl. Tabelle 2).
Letztlich ist die klinische Präsentation von Rückenschmerzen vieldeutig und die Bildgebung allein unspezifisch und übersensitiv. Die körperliche und insbesondere neurologische Untersuchung ist hilfreich, aber nicht immer sensitiv. In der Zusammenschau müssen Anamnese, Klinik und gegebenenfalls Bildgebung (evtl. auch invasive Diagnostik) auch zusammenpassen. Radikulopathie Die radikuläre Symptomatik ist gekennzeichnet durch Schmerzen, die sich im Bein stärker als im Rücken darstellen. Zudem finden sich Sensibilitätsstörungen in einem typischen Dermatom, Paresen in einem typischen Myotom und ein Ausfall beziehungsweise eine Abschwächung des entsprechenden Muskeleigenreflexes. Somit kommt der gezielten Anamnese der Schmerzlokalisation, der Ausstrahlung des Schmerzes, der Provokation der Beschwerden durch Aktivi-
Abbildung 1: Darstellung verschiedener lumbaler Bandscheibenvorfälle und betroffener Wurzeln
MERKSÄTZE
O Die klinische Präsentation von Rückenschmerzen ist vieldeutig, die Bildgebung allein unspezifisch und übersensitiv.
O Die körperliche und insbesondere neurologische Untersuchung ist hilfreich, aber nicht immer sensitiv.
O Um zur korrekten Diagnose zu gelangen, sind die Befunde aus Anamnese, Klinik und gegebenenfalls Bildgebung gleichermassen wichtig.
tät sowie der körperlichen Untersuchung eine hohe Bedeutung zu. Wenngleich auch nicht alle Muskeln eines Myotoms betroffen sein müssen und die segmentale Innervation eines Muskels Schwankungen aufweist, ist eine Zuordnung der betroffenen Nervenwurzel gut möglich (vgl. Tabelle 3). Häufig handelt es sich bei den lumbalen Bandscheibenproblemen um einen mediolateralen Prolaps, der zu einer Affektion der tiefer liegenden Wurzel führt. Die selteneren lateralen Bandscheibenvorfälle bedrängen zumeist die obere Wurzel des betroffenen Segmentes. Massive mediale Bandscheibenvorfälle unterhalb von LWK 1 können die Cauda equina komprimieren und so ein Kauda-Syndrom (s. unten) hervorrufen (Abbildung 1).
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Tabelle 1:
Ursachen von Rückenschmerz und ihre Häufigkeit
Mechanisch (> 90%) O muskuläre Ursachen (> 70%) O degenerative Prozesse der Bandscheiben und Facettengelenke
(10%) O Bandscheibenvorfall (4%) O osteoporotische Fraktur (4%) O Spinalkanalstenose (3%) O Spondylolisthese (2%)
Nicht mechanisch (ca. 1%) O Neoplasie (< 1%) O Infektion (< 0,1%) O rheumatologische Erkrankungen (< 1%)
Viszerale Erkrankungen (ca. 2%) O Aortenaneurysma O Erkrankungen der Organe des kleinen Beckens, der Nieren oder
des Gastrointestinaltrakts
Tabelle 2:
«Red flags» bei Rückenschmerz
Fraktur schwerwiegendes adäquates Trauma, schweres Heben bei Älteren oder unter systemischer Steroidtherapie
Tumor höheres Alter, Tumorleiden in der Vorgeschichte, B-Symptomatik, starker nächtlicher Schmerz
Infektion kürzlich aufgetretenes Fieber oder Schüttelfrost, Appetitlosigkeit, rasche Ermüdbarkeit, durchgemachte bakterielle Infektion, Drogenabusus i.v., Immunsuppression, konsumierende Grunderkrankung, kürzlich zurückliegende Infiltrationsbehandlung an der Wirbelsäule, starker nächtlicher Schmerz
Radikulapathien, Neuropathien strassenförmig in ein oder beide Beine ausstrahlende Schmerzen, gegebenfalls verbunden mit sensiblen Defiziten, Schmerzausbreitungsgebiet und/oder Schwächegefühl, Kauda-Syndrom, ausgeprägtes oder zunehmendes neurologisches Defizit (Lähmung, Sensibilitätsstörung) einer unteren Extremität, Nachlassen des Schmerzes und zunehmende Lähmung bis zum kompletten Funktionsverlust des Kennmuskels (Nervenwurzeltod)
Neben einer Einschätzung einer möglichen Operationsindikation, zum Beispiel bei funktionell stark beeinträchtigenden oder zunehmenden Lähmungen, dient der Untersuchungsbefund auch zu einer Verlaufsbeurteilung. Einen wichtigen Provokationstest zur Nervendehnung stellt das LasègueZeichen dar. Hierbei führt die passive Hüftbeugung des gestreckten Beines des auf dem Rücken liegenden Patienten zur
Auslösung eines einschiessenden Schmerzes im Rücken und Bein. Hierbei kann der Schmerz ursächlich auf eine Reizung der ischiokruralen Muskulatur oder eine Radikulopathie L5 oder S1 zurückzuführen sein. Eine Reizung der ischiokruralen Muskulatur ist eher seitensymmetrisch, und es findet sich eine weichere Grenze des schmerzhaften Radius. Der auslösbare Schmerz der Radikulopathie hingegen ist eher scharf begrenzt und folgt dem entsprechenden Dermatom. Wesentlich spezifischer als der echte Lasègue ist die Auslösung des radikulären Schmerzes durch Anheben des kontralateralen Beines (gekreuzter Lasègue).
Kauda-Syndrom
Bei einer massiven Quetschung der Cauda equina, zum Beispiel durch ein Trauma, eine Raumforderung oder einen Prolaps (unterhalb von LWK 1), kann es zu dem klinischen Bild eines Kauda-Syndroms kommen. Dieses ist in seinem Vollbild gekennzeichnet durch meist asymmetrische Lähmungen der Beine (M. gastrocnemius, kleine Fussmuskeln und distale Beinmuskulatur > proximale Muskulatur), eine «Reithosenanästhesie», eine Störung der spontanen Blasenund Mastdarmentleerung, Rücken- und beidseitige (radikuläre) Beinschmerzen, einen reduzierten Sphinktertonus, Reflexverluste der unteren Extremitäten und einen aufgehobenen Bulbocavernosusreflex. Eine Abgrenzung zum Kauda-Syndrom bei Schädigungen im thorako-lumbalen Übergang ist aufgrund der häufig gleichzeitig betroffenen Cauda equina klinisch schwierig, da isolierte Läsionen des Conus medullaris sehr selten sind. Beide Störungsbilder erfordern jedoch eine schnelle Diagnosesicherung, da sie zumeist eine sofortige Operationsindikation darstellen.
Meralgia paraesthetica
Die Meralgia paraesthetica wird durch eine Kompression des N. cutaneus femoris lateralis am Durchtritt durch das Leistenband hervorgerufen. Als disponierende Faktoren werden unter anderem Schwangerschaft, enge Hosen («Jeanshosenkrankheit»), Hängebauch und Korsetttragen beschrieben. Verletzungen des Nervs finden sich zudem nicht selten operativ nach Spongiosaentnahme am Becken oder Hüftoperation. Die Betroffenen klagen typischerweise über brennende oder nadelstichartige Schmerzen im entsprechenden Innervationsgebiet (Abbildung 2). Die Beschwerden lassen sich gelegentlich durch Streckung im Hüftgelenk (umgekehrter Lasègue) provozieren. In der neurologischen Untersuchung finden sich in Abgrenzung zu einer radikulären Symptomatik ausschliesslich sensible Defizite; Paresen und ein Ausfall von Reflexen sprechen gegen eine alleinige Affektion des N. cutaneus femoris lateralis. Sicherheit der Diagnose kann Abbildung 2: Meralgia durch eine elektrophysiologische paraesthetica mit typiDiagnostik und Infiltration von schem Schmerzareal
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Tabelle 3:
Radikuläre Segmente mit Kennmuskeln, typischem Sensibilitätsverlust und Kennreflexen
Segment L3 L4 L5
S1
Funktion
Hüftbeugung Kniestreckung Hüftadduktion
Kniestreckung Hüftbeugung
Grosszehenhebung Fusshebung Hüftabduktion (positives TrendelenburgZeichen)
Fusssenkung Hüftgelenkstreckung
Sensibilitätsverlust ventraler Oberschenkel und Knieinnenseite
lateraler Oberschenkel, Knie und medialer Unterschenkel Aussenseite Unterschenkel, innen liegender Fussrücken, Grosszehe
Kennreflex Patellarsehnenreflex, Adduktorenreflex
Patellarsehnenreflex
Tibialis-posterior-Reflex
dorsaler Ober- und Unterschenkel, Fussaussenrand, Kleinzehe, Fusssohle
Achillessehnenreflex
Abbildung 3: Provokationstest des M. piriformis nach Bonnet: Die Palpation und die Dehnung des Muskels reproduzieren den Schmerz.
Lokalanästhetika im Bereich der Nervendurchtrittsstelle am Leistenband erfolgen.
Lumbale Spinalkanalstenose Die lumbale Spinalkanalstenose als Folge einer degenerativen Veränderung der Lendenwirbelsäule (betonte Segmente LWK 3/4 und LWK 4/5) ist gekennzeichnet durch gehstreckenabhängige ein- oder beidseitig ausstrahlende Schmerzen in die Vorder- oder Rückseite der Beine, die teils mit Sensibilitätsstörungen einhergehen können (Claudicatio spinalis). Hierbei führen mit einer Hyperlordosierung verbundene Haltungen und Bewegungen (Bergablaufen) zu einer Zunahme der Beschwerden, hingegen lindern Ruhe und LWS-Kyphosierungen (Sitzen, Vornüberbeugen) die Schmerzen. Wichtige Differenzialdiagnosen sind die pAVK (Claudicatio intermittens) und die Sacroiliitis.
Piriformissyndrom Der M. piriformis hat seinen Ursprung an der Vorderseite des Os sacrum und setzt an der Spitze des Trochanter major am
Femur an. Bei gestrecktem Oberschenkel dient er als Aussenrotator und bei gebeugtem Oberschenkel als Abduktor im Hüftgelenk. Das Piriformis-Syndrom ist gekennzeichnet durch Schmerzen in der Glutealregion (4), die auch in das Hüftgelenk, das Sakrum und manchmal auch in das Bein hinunter ausstrahlen und so mit einer radikulären Symptomatik verwechselt werden können. Es finden sich jedoch keine neurologischen Defizite. Der M. piriformis, der sich in einer Linie zwischen Trochanter major und dem Os sacrum findet, ist druckdolent. Bei der Untersuchung im Liegen fällt häufig eine leichte Innenrotation des betroffenen Beines auf. Provozieren lässt sich der Schmerz durch Dehnung des Muskels. Hierbei wird das Bein der betroffenen Seite wie beim Lasègue gestreckt angehoben, bis der Schmerz ausgelöst wird. Anschliessend wird das Bein um zirka 10 bis 20 Grad gesenkt, bis der Schmerz wieder nachlässt. Durch anschliessende Innenrotation und Adduktion des Beines wird der Schmerz erneut ausgelöst, ohne dass es zu einer Reizung in den Neuroforamina kommt (Abbildung 3).
Facettengelenksyndrom
Beim Facettengelenksyndrom kommt es infolge einer meist
chronischen Reizung der Facettengelenke zu einem lokalen
ipsilateralen Schmerz, der auch pseudoradikulär in die Beine
ausstrahlen kann, jedoch die Knie nicht überschreitet (Abbil-
dung 4). Extension und Rotation der Wirbelsäule sowie langes
Stehen und schnelle Bewegungen
führen zu einer Verschlimmerung
der Beschwerden, wohingegen
Gehen, eine Flexion der Wirbel-
säule mit Gewichtsverlagerung
auf Hände/Ellenbogen und Lie-
gen mit angezogenen Knien die
Beschwerden lindert. Als Provo-
kationstest dienen Kompression
und Traktion sowie segmentale
Facettengelenkprovokationstests:
Klopftest, Stosspalpation, Spring- Abbildung 4: Reizung
ing-Test und Rotationstest.
eines Facettengelenks
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FORTBILDUNG
Spondylodiszitis
Die Spondylodiszitis ist eine Infektion der Bandscheibe und der angrenzenden Wirbelkörper. Zum Diagnosezeitpunkt, der sich ab dem Auftreten der ersten Beschwerden zumeist zwei bis sechs Monate verzögert, finden sich radiologisch bereits Zeichen der entzündlichen Veränderung von Bandscheibe und Wirbelkörper (3). Die Schmerzen treten betont nachts und bei Belastung auf, werden manchmal von Fieber, Nachtschweiss oder Gewichtsabnahme begleitet. Häufig findet man einen starken Klopf- und Druckschmerz der betroffenen Wirbel.
Axiale Spondyloarthritis
Die axiale Spondyloarthritis ist eine chronische rheumatischentzündliche Systemerkrankung und geht mit einer Entzündung an der Wirbelsäule einher. Bekannteste Form ist die ankylosierende Spondylitis (M. Bechterew). Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch starke Rückenschmerzen und Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule. Charakterisiert ist sie durch die Entstehung knöchern entzündlicher Veränderungen an den Sakroiliakalgelenken. Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen (≥ 12 Wochen) sollten die Charakteristika des entzündlichen Rückenschmerzes erfragt werden (Morgensteifigkeit > 30 Minuten, schmerzbedingtes Aufwachen in der zweiten Nachthälfte, Besserung durch Bewegung, keine Verbesserung durch Ruhe, schleichender
Beginn, Alter bei Beginn ≤ 45 Jahre). Hierbei ist zu beachten, dass nur zirka 75 Prozent der Patienten mit axialer Spondyloarthritis diese typischen Charakteristika aufweisen. Hinsichtlich einer dezidierten Darstellung des Krankheitsbildes und des neuen Klassifikationssystems sei verwiesen auf (5). O
PD Dr. med. Oliver Höffken Neurologische Klinik und Poliklinik Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum Bergmannsheil D-44789 Bochum E-Mail: oliver.hoeffken@ruhr-uni-bochum.de
Interessenkonflikte: keine
1. Deyo RA, Weinstein JN: Low back pain. N Engl J Med 2001; 344: 363–370. 2. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeits-
gemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz – Langfassung. Version 4. 2010, zuletzt verändert: August 2013. 3. Sobottke R et al.: Aktuelle Diagnostik und Therapie der Spondylodiszitis. Dtsch Arztebl 2008; 105(10): 181–187. 4. Müller-Vahl H et al.: Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome. 10. Aufl., Thieme, Stuttgart 2014. 5. Sieper J: Axiale Spondyloarthritis: chronische Rückenschmerzen schnell korrekt einordnen. Der Allgemeinarzt 2014; 36(12): 58–62.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 12/2015. Die bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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