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FORTBILDUNG
Entzündliche Darmerkrankungen: Diagnose nicht verpassen!
Symptome können denen bei Reizdarmsyndrom ähneln
Patienten mit Beschwerden des unteren Darmtrakts sind in der allgemeinmedizinischen Praxis keine Seltenheit. Während es sich dabei in vielen Fällen «nur» um ein relativ harmloses Reizdarmsyndrom handelt, kann bisweilen allerdings auch eine entzündliche Darmerkrankung dahinterstecken. Hier sollte eine korrekte Diagnose möglichst zeitnah erfolgen, um rechtzeitig und erfolgreich therapeutisch eingreifen und Operationen vermeiden zu können.
British Medical Journal
Mit dem Begriff «entzündliche Darmerkrankungen» (inflammatory bowel diseases, IBD) werden die ulzerative Kolitis und der Morbus Crohn zusammengefasst, beides idiopathische chronische Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts. Während die ulzerative Kolitis durch eine diffuse Entzündung der Mukosa ausschliesslich im Bereich des Kolons gekennzeichnet ist, handelt es sich beim M. Crohn um fleckförmige transmurale Ulzerationen, die den gesamten Magen-Darm-Trakt betreffen können. Etwa 5 Prozent der Patienten leiden unter Charakteristika beider Erkrankungen, weshalb man bei ihnen von einer nicht klassifizierten IBD spricht.
MERKSÄTZE
O Entzündliche Darmerkrankungen können sich mit Symptomen präsentieren, die denen eines Reizdarmsyndroms ähneln.
O Eine verzögerte Diagnose von IBD ist mit einem verminderten Ansprechen auf eine medikamentöse Therapie und häufiger erforderlichen chirurgischen Eingriffen assoziiert.
O Länger als 6 Wochen bestehender Durchfall, insbesondere bei gleichzeitigem Gewichtsverlust, sollte genauere Abklärungen nach sich ziehen.
O Die NICE-Guidelines empfehlen bei allen Patienten mit verdächtigen Symptomen die Bestimmung von fäkalem Calprotectin. Bereits diese einfache Massnahme kann dabei helfen, das Vorliegen einer IBD auszuschliessen.
Was erschwert die Diagnose?
Eine IBD kann mitunter aber auch lediglich Symptome zeigen, die denen beim Reizdarmsyndrom ähneln. Aus diesem Grund wird die korrekte Diagnose einer IBD bisweilen erst verzögert gestellt oder sogar längerfristig verpasst. In einer grossen Fall-Kontroll-Studie im Vereinigten Königreich hat sich gezeigt, dass Patienten, die in Wirklichkeit unter einer IBD litten, mit einer dreifach höheren Wahrscheinlichkeit zuvor eher die Diagnose eines Reizdarmsyndroms erhalten hatten. Und eine prospektive Kohortenstudie kam zu dem Ergebnis, dass Patienten mit möglicherweise vorbestehendem Reizdarmsyndrom mit hoher Wahrscheinlichkeit eine längere Phase andauernder Symptome durchleben, bevor schliesslich die Diagnose einer IBD gestellt wird. Sowohl der M. Crohn als auch eine Colitis ulcerosa beginnen nicht selten schleichend, und für beide existieren keinerlei pathognomonische Zeichen oder Symptome. Viele Betroffene klagen über längere Zeiträume über unklare, unspezifische Beschwerden, welche mit einer chronischen geringgradigen Entzündung vereinbar sind und den Anschein des Vorliegens eines Reizdarmsyndroms erwecken können. Darüber hinaus verstärkt der schubförmig-remittierende Charakter der IBD die diagnostischen Schwierigkeiten.
Warum ist das rechtzeitige Erkennen einer IBD
von Bedeutung?
Die aus jüngster Zeit verfügbaren Daten zur Inzidenz einer verzögerten IBD-Diagnose sind sehr limitiert. Eine Schweizer Kohortenstudie berichtete unlängst über eine durchschnittliche diagnostische Verzögerung von 9 Monaten bei Patienten mit M. Crohn und von 4 Monaten bei solchen mit ulzerativer Kolitis. Es wird davon ausgegangen, dass eine verzögerte Diagnose nicht nur die Lebensqualität der Patienten, sondern auch ihr Ansprechen auf eine medikamentöse Therapie beeinträchtigt. So konnte eine retrospektive Kohortenstudie zeigen, dass eine deutlich verspätete Diagnose bei M. Crohn mit einem erhöhten Risiko für eine Darmstenose und -operation assoziiert war. Bei Patienten, die bereits in frühen Erkrankungsstadien aggressiv behandelt wurden, liessen sich verbesserte Remissionsraten und eine Wirksamkeit auch kurzzeitiger therapeutischer Interventionen beobachten. Zudem kann eine frühzeitige biologische Therapie mit Mukosaheilung den Erkrankungsverlauf positiv beeinflussen. Bei Personen mit IBD kommt es häufiger zu malignen Veränderungen im Gastrointestinaltrakt, weshalb für Kolitispatienten
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10 Jahre nach Einsetzen der Symptome eine Kontrollkoloskopie empfohlen wird. Daher ist der Zeitpunkt der Diagnose durchaus von entscheidender Bedeutung.
Wie werden IBD diagnostiziert?
Sowohl für die ulzerative Kolitis als auch für den M. Crohn zeigt sich ein Erkrankungsgipfel in der späten Adoleszenz beziehungsweise im jungen Erwachsenenalter, an den sich im Falle der Kolitis eine zweite Spitze in der fünften Lebensdekade anschliesst. Kommt es über einen Zeitraum von mehr als 6 Wochen zu unblutigem Durchfall, ist eine infektiöse Ursache eher unwahrscheinlich und eine weitere Abklärung indiziert. Im Gegensatz zum Reizdarmsyndrom, wo Fieber und Appetitlosigkeit nicht und Beschwerden während der Nacht nur in Ausnahmefällen auftreten, sind diese Symptome bei IBD nicht ungewöhnlich. Mehr als 90 Prozent aller Kolitispatienten berichten über blutigen Durchfall, welcher Anlass zu sofortiger weiterer Abklärung gibt. Darüber hinaus kommt es häufig zu abdominellen Schmerzen und imperativem Stuhldrang. Beim M. Crohn ist die Symptomatik vielgestaltiger, mit chronischer Diarrhö als häufigstem Symptom. Doch auch Unterleibsschmerzen und Gewichtsverlust, die in 70 beziehungsweise 60 Prozent der Fälle auftreten, sind weitverbreitet. Andere Patienten wiederum leiden unter eher akuten Symptomen wie einem Darmverschluss aufgrund einer strikturierenden Erkrankungsform oder perianalen Komplikationen einschliesslich Abzessen oder Fisteln. Etwa 25 bis 40 Prozent der IBD-Patienten, solche mit Kolitis häufiger als Crohn-Patienten, zeigen extraintestinale Manifestationen, häufig im Bereich des muskuloskelettalen Systems (Arthrose, ankylosierende Spondylitis) oder der Haut (Erythema nodosum, Psoriasis, Pyoderma gangrenosum). Es existiert kein einzelner diagnostischer Test für IBD. In der Zweitversorgung wird eine Kombination aus klinischen, radiologischen, endoskopischen und histologischen Untersuchungen durchgeführt. In der Primärversorgung sollte ein grosses Blutbild zum Nachweis oder Ausschluss einer Anämie, einer Mikrozytose oder einer Throbozytose angefertigt werden. Entzündungsmarker wie C-reaktives Protein oder die Erythrozytensedimentationsrate können trotz mangelnder Sensitivität und Spezifität eine Krankheitsaktivität nachweisen. Zöliakie (Antikörpertest), Schilddrüsenfehlfunktion (Serum-TSH-Spiegel) und infektiöse Diarrhö (Stuhlmikroskopie) sollten ausgeschlossen werden. Da IBD mit Malabsorption einhergehen können, sollten die Serumspiegel von Vitamin B12, Folat und Ferritin sowie die Transferrinsättigung bestimmt werden. In Anwesenheit von Entzündungsprozessen wird im Darm fäkales Calprotectin im Überschuss ausgeschüttet. Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfiehlt einen entsprechenden Test, um bei Patienten mit kürzlich aufgetretenen Beschwerden im unteren Gastrointestinaltrakt, aber ohne Verdacht auf ein malignes Geschehen, eine IBD von anderen nicht inflammatorischen Darmstörungen wie einem Reizdarmsyndrom abzugrenzen. Der Nutzen dieses Tests beruht auf seiner hohen negativ-prädiktiven Aussagekraft: Ein normales Ergebnis bedeutet, dass höchstwahrscheinlich keine IBD vorliegt. Gemäss einem systematischen Review hat sich ein Cut-off-Wert von 50 µg/g
fäkalen Calprotectins als sensitiv und spezifisch für das Vorliegen einer IBD erwiesen. Für die Angabe von exakten Schwellenwerten für die Hausarztpraxis bedarf es allerdings weiterer Daten. Werte oberhalb von 50 µg/g gelten zwar nicht als diagnostisch, sollten jedoch eine fachärztliche Untersuchung innerhalb von 4 Wochen nach sich ziehen. Hier gilt dann eine Endoskopie des unteren Gastrointestinaltrakts inklusive einer histologischen Aufbereitung bioptisch entnommener Gewebeproben als diagnostische First-Line-Massnahme. Eine einfache abdominelle Röntgenuntersuchung ist bei Verdacht auf akute Kolonentzündung oder Darmobstruktion unerlässlich, jedoch ohne diagnostische Aussagekraft und für den Routineeinsatz nicht empfohlen.
Therapeutisches Management
Patienten mit blutigem Durchfall, mit Diarrhö von mehr als
6-wöchiger Dauer, mit abdominellen Schmerzen einschliess-
lich Gewichtsabnahme, mit erhöhten fäkalen Calprotectin-
werten oder nicht erklärbarem Vitamin-B12- oder Folatmangel bei unter 40-Jährigen sollten zum Spezialisten wei-
tergewiesen werden, der dann auch die weitergehende
Behandlung durchführt, welche sich auf individueller Basis
an Ausmass, Lokalisation und Verlauf der Erkrankung
orientiert. Ziel ist das Erreichen einer Remission über einen
multidisziplinären Ansatz.
Wichtig ist dabei auch die Beratung zu Diät (ausgewogene
Ernährung, ausreichende Trinkmenge) und Lebensstil (Be-
wegung, Stressvermeidung), bei Crohn-Patienten ist unbe-
dingt auf einen Rauchverzicht hinzuwirken.
Die medikamentöse Therapie ist ebenfalls individuell anzu-
passen und umfasst Glukokortikoide, Immunmodulatoren
und Biologika sowie bei Colitis ulcerosa Mesalazin (5-Amino-
salicylsäure). Ein etwaiger Nährstoffmangel ist auszugleichen.
Die Notwendigkeit chirurgischer Interventionen ist dank der
therapeutischen Fortschritte in der letzten Dekade insgesamt
zwar rückläufig, jedoch bedürfen derzeit noch immer etwa
10 Prozent der Kolitispatienten einer Kolektomie, und
nahezu die Hälfte aller Crohn-Patienten muss sich während
der ersten 10 Jahre nach Diagnose aufgrund eines striku-
rierenden oder fistulierenden Erkrankungsverlaufs einer
Operation unterziehen.
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Ralf Behrens
Quelle: Mozdiak E et al.: Inflammatory bowel disease. BMJ 2015; 351: h4416.
Interessenkonflikte: Die Autoren der referierten Arbeit haben Vortragshonorare von diversen Pharmafirmen, unter anderem von Thermo Fisher Scientific, Hersteller des Tests auf fäkales Calprotectin, erhalten.
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