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STUDIE REFERIERT
Grippeimpfung nutzt auch älteren gebrechlichen Personen
Grad der Übereinstimmung zwischen Vakzine und Erreger als entscheidender Faktor
Die saisonale Grippeimpfung als wichtigste präventive Massnahme zum Schutz vor Infektionen mit Influenzaerregern wird in der Schweiz für Risikopersonen, etwa für über 65-Jährige, Schwangere, Frühgeborene oder chronisch Kranke, in den USA sogar für alle Personen ab einem Alter von 6 Monaten empfohlen. Doch in Studien liess sich gerade bei multimorbiden Senioren bis anhin kein eindeutiger Nutzen der Impfung nachweisen. Eine retrospektive Untersuchung hat für diese Bevölkerungsgruppe nun zeigen können, dass es für einen positiven Impfeffekt, gemessen an einer Reduzierung von Spitaleinweisungen oder Todesfällen, entscheidend darauf ankommt, wie gut die jährlich neu komponierte Vakzine auf die kursierenden Erregerstämme abgestimmt ist.
Hospitalisierungsraten und, wenn überhaupt, ebenfalls nur einen kleinen Nutzen hinsichtlich der Sterblichkeit bescheinigen. Diese unterschiedlichen Ergebnisse sind zum Teil der Komplexität der saisonal zirkulierenden Grippeerreger geschuldet. Die Wirksamkeit der Vakzine hängt ab von den alljährlichen Schwankungen der Grippeinzidenz, der Virulenz des kursierenden Erregerstamms und dem Grad der Übereinstimmung zwischen Vakzine und jeweiligem Erreger. In einer milden Grippesaison, oder wenn diese Übereinstimmung gross ist, treten möglicherweise zu wenig Grippefälle auf, um signifikante Unterschiede hinsichtlich des Impfeffekts detektieren zu können. Da ein solcher Effekt aber am ehesten gerade dann zu erwarten ist, wenn die Vakzine gut auf den jeweiligen Erreger abgestimmt ist, ist es erforderlich, die Beobachtung auf mehrere Grippesaisons auszuweiten.
Journal of the American Geriatric Society
Infektionen mit dem Influenzavirus haben einen nicht unerheblichen Anteil an der Erkrankungsrate, an der Sterblichkeit und an den Gesundheitskosten, welche zum grössten Teil ältere Personen betreffen. Ältere Pflegeheimbewoh-
MERKSÄTZE
O Hauptsäule der Grippeprävention stellt nach wie vor die Impfung dar. An deren Wirksamkeit bei älteren Erwachsenen im Alter über 65 Jahre bestehen jedoch Zweifel.
O Die retrospektive Kohortenstudie an älteren Pflegeheimbewohnern belegt eine Abhängigkeit der Anzahl von pneumonie- und grippeassoziierten Hospitalisierungen sowie der Gesamtsterblichkeit vom Grad der Übereinstimmung zwischen dem Impfstoff und den zirkulierenden Erregerstämmen.
O Gut an den jeweiligen Grippeerreger angepasste Impfstoffe sind in der Lage, die Morbidität und Mortalität von Pflegeheimbewohnern signifikant zu reduzieren, und stellen eine wichtige Prophylaxemassnahme dar.
ner sind aufgrund ihres alternden Immunsystems, ihrer Multimorbidität und ihrer anstaltlichen Wohnsituation besonders prädestiniert, an Grippe zu erkranken. Die Hauptsäule der Prävention stellt nach wie vor die Grippeimpfung dar, welche in den USA für alle Individuen ab einem Alter von sechs Monaten empfohlen wird. Dennoch bestehen Zweifel an der Wirksamkeit der Vakzine bei älteren Erwachsenen im Alter über 65 Jahre. Entsprechende Daten aus randomisierten, plazebokontrollierten Studien fehlten bis anhin und werden aus ethischen Gründen auch zurzeit und in Zukunft nicht mehr erhoben. Zahlreiche Kohorten- und Fall-Kontroll-Studien haben eine impfassoziierte Reduzierung von grippebedingten Spitaleinweisungen und Todesfällen bei in Gemeinschaft lebenden älteren Personen und Pflegeheimbewohnern dokumentiert, wobei in diesen Untersuchungen der Impfnutzen möglicherweise aufgrund gebrechlichkeitsbedingter Selektionsfehler oder anderer nicht erfasster Störfaktoren überschätzt wurde. Studien, die solche Störvariablen mitberücksichtigten, konnten der Grippeimpfung bei Senioren dagegen nur geringe Effekte auf die
Wie effektiv ist die Grippeimpfung
bei älteren Pflegeheimbewohnern?
Für ihre aktuelle Studie zum Effekt einer Grippeimpfung auf die Morbidität und Mortalität von Senioren hat eine amerikanische Arbeitsgruppe eine retrospektive Kohortenstudie an mehr als einer Million dauerhaft in Pflegeheimen lebenden und mithin an vergleichsweise eher gebrechlicheren älteren Menschen mit durchgängig gewährleistetem Zugang zur Grippeimpfung durchgeführt. Als Basis ihrer Analysen dienten den Forschern die seitens der amerikanischen bundesstaatlichen Krankenversicherung Medicare und der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) regelmässig erhobenen einschlägigen Datensätze (MedicareAufnahmeakte, obligatorische vierteljährliche MDS-[Minimum-Data-Set-] Untersuchung von Pflegeheimbewohnern, Medicare-Versicherungsleistungen für stationäre Patienten, CDC-Angaben zur Anzahl pneumonie- und grippebedingter Todesfälle). Für jede der in die Studie involvierten Pflegeinrichtungen aus insgesamt 122 US-Städten wurden für den Zeitraum von Oktober 2000 bis März 2009 wöchentliche Berechnungen der Gesamtmortalitätsraten der Heimbewohner sowie der Raten pneumonie- und grippebedingter Hospitalisierungen erstellt. Als Vergleichsreferenz fungierten
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STUDIE REFERIERT
die von den CDC wöchentlich veröffentlichten Zahlen zu pneumonie- und grippebedingten Todesfällen (auf Städteebene). Eingang in die Analyse fanden des Weiteren auch die Vakzinierungsraten, die aus den vom Online Survey and Reporting System (OSCAR) jährlich bereitgestellten Daten berechnet wurden und welche je nach Stadt und Grippesaison unterschiedlich ausfielen. Ausserdem kalkulierten die Wissenschaftler auf Basis der von den CDC jährlich publizierten antigenischen Charakterisierung der Grippevakzine deren Rate der saisonalen Übereinstimmung mit den jeweiligen Grippeerregerstämmen (A/H1N1, A/H3N2, B), angegeben als derjenige prozentuale Anteil zirkulierender Stämme, welche genetische Ähnlichkeit mit den in der jeweiligen Saison in der Vakzine enthaltenen Stämmen aufwiesen. Sämtliche patientenbezogenen Daten wurden anschliessend, jeweils aufgegliedert nach Saisons mit hohem beziehungsweise niedrigem Grad der Übereinstimmung, miteinander verglichen, und zwar getrennt zum einen für das gesamte Jahr und zum anderen nur für die Nichtsommermonate.
Gut an den Erreger angepasste
Impfstoffe reduzieren Hospitali-
sierungs- und Todesraten
Bei der Auswertung der Daten zeigte sich, dass die durchschnittliche wöchentliche Sterblichkeitsrate über den gesamten Untersuchungszeitraum zwischen 3,74 und 4,13 pro 1000 Pflegeheimbewohner schwankte. Die Rate pneumonie- und grippebedingter Spitaleinweisungen bewegte sich zwischen 2,05 und 2,43. Die von den CDC ermittelte pneumonie- und grippeassoziierte Sterblichkeitsrate in der Bevölkerung lag zwischen Werten von 1,32 und 1,60 je 100 000 Individuen. Die Raten der Übereinstimmung zwischen Vakzine und Erreger waren für H1N1-
Stämme gleichbleibend hoch, während sie für die anderen beiden Erregertypen saisonalen Schwankungen unterworfen waren. Die Anzahl der pneumonie- und grippeassoziierten Hospitalisierungen sowie die Gesamtsterblichkeit von Langzeitbewohnern von Pflegeeinrichtungen waren abhängig vom Grad der Übereinstimmung zwischen dem jeweiligen Impfstoff und den zirkulierenden Erregerstämmen. Ein Zusammenhang zwischen Vakzine-Erreger-Übereinstimmung einerseits und der Reduktion der Raten von Gesamtsterblichkeit sowie von pneumonie- und grippebedingten Spitaleinweisungen andererseits war für A/H3N2, den Erregerstamm, der typischerweise für die schwersten Influenzaformen verantwortlich zeichnet, am deutlichsten ausgeprägt: Bei einer gegebenen Anzahl von annähernd 130 000 Todesfällen und 77 000 pneumonie- und grippeverursachten Hospitalisierungen von Pflegeheimbewohnern während der insgesamt 32 Nichtsommermonate ergaben die statistischen Modellberechnungen, dass eine Verbesserung der Übereinstimmung der Vakzine von 25 auf 75 Prozent zu einer um 2 Prozent verminderten Mortalität und zu einer um 4,2 Prozent geringeren Rate pneumonie- und grippebedingter Spitaleinweisungen führt. Umgerechnet auf ein Jahr entsprechen diese Zahlen etwa 2560 geretteten Leben und mehr als 3200 verhinderten Spitaleinweisungen in der Gesamtpopulation der amerikanischen Langzeitbewohner von Pflegeheimen. Da die Übereinstimmungsraten im Falle von H1N1 kaum variierten (nur in 1 von 9 untersuchten Saisons < 90%), liess sich ein entsprechender Effekt hier kaum nachweisen. Die B-Stämme betreffend war die Übereinstimmung zwischen Vakzine und zirkulierenden Erregern im Allgemeinen eher gering ausgeprägt. Wichtiges Prophylaxeinstrument auch bei älteren und gebrechlichen Personen Nach Ansicht der Autoren stützen die Ergebnisse ihrer Studie die Hypothese, dass die Grippeimpfung eine wichtige Strategie in der Primärprävention älterer Pflegeheimbewohner darstellt, auch wenn die Reagibilität auf die Vakzine bei Senioren grundsätzlich geringer ausfällt als bei jüngeren Erwachsenen. Gut an den jeweiligen Grippeerreger angepasste Impfstoffe sind in der Lage, die Morbidität und Mortalität von Pflegeheimbewohnern signifikant zu reduzieren, und sind daher nach wie vor ein wesentliches Instrument zur Prophylaxe bei diesen sehr krankheitsanfälligen Personen. Unter der mithin berechtigten Annahme, dass die Grippeimpfung selbst in dieser eher gebrechlichen Bevölkerungsgruppe von Nutzen ist, könnte ihre Wirksamkeit in der gesünderen älteren Population bis anhin sogar unterschätzt worden sein. O Ralf Behrens Pop-Vicas A et al.: Estimating the effect of influenza vaccination on nursing home residents' morbidity and mortality. J Am Geriatr Soc 2015; 63(9): 1798–1804. Interessenkonflikt: Es bestehen keine Interessenkonflikte seitens der Autoren. 1138 ARS MEDICI 23 I 2015