Transkript
FORTBILDUNG
Alkoholmissbrauch erkennen und behandeln
Psychologische Interventionen, Teilnahme an Selbsthilfegruppen und Medikamente erhöhen die Chance auf Abstinenz
Alkoholerkrankungen sind weit verbreitet und richten enormen gesundheitlichen Schaden an. Internationale Studien haben gezeigt, dass über 20 Prozent der Patienten, die sich in der Primärversorgung vorstellen, Alkohol in riskanter Weise konsumieren oder bereits eine Alkoholabhängigkeit entwickelt haben.
British Medical Journal
Alkohol kann sich auf Inzidenz und Verlauf zahlreicher Erkrankungen auswirken, und es wird geschätzt, dass im Jahr 2012 fast 6 Prozent der Todesfälle weltweit auf Alkoholkonsum zurückzuführen waren. Dennoch findet das Alkoholproblem nicht genügend Aufmerksamkeit. Eine klinische Übersichtsarbeit britischer Autoren fasste kürzlich zusammen, wie Alkoholerkrankungen erkannt und behandelt werden können.
Diagnose von Alkoholerkrankungen Die Terminologie zur Definition von Alkoholerkrankungen ist nicht einheitlich. Doch besteht Einigkeit darüber, dass es keinen «sicheren» Alkoholkonsum gibt und dass das Risiko für schädliche Auswirkungen steigt, wenn die Konsumfrequenz ansteigt oder wenn die konsumierte Menge bei Trinkepisoden zunimmt. Die meisten Menschen mit riskanten Trinkmustern sind nicht alkoholabhängig. Aber es lohnt sich, ein paar Minuten zu investieren, um diejenigen zu identifizieren, die ein riskantes bis schädliches Trinkverhalten an den Tag legen, und sie zu beraten, wie sie ihren Alkoholkonsum einschränken können. Dies hat sich in verschiedenen Settings als effektiv erwiesen.
MERKSÄTZE
O Benzodiazepine sind Mittel der Wahl für einen medikamentös unterstützten Entzug.
O Im ersten Jahr nach dem Alkoholstopp sind Rezidive häufig. Doch psychologische Behandlungen, die Teilnahme an Selbsthilfegruppen und Medikamente zur Rezidivprophylaxe erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine Abstinenz.
Ein Alkoholscreening sollte Teil der Routinepraxis sein, und Ärzte sollten das Thema Alkoholkonsum bei ihren Beratungen ansprechen, schreiben die Autoren. Die Tatsache, dass Alkoholerkrankungen oft unerkannt und unbehandelt bleiben, weist allerdings darauf hin, dass Allgemeinmediziner potenzielle Risikogruppen noch nicht aktiv genug screenen. Als ideales Screeninginstrument, um Alkoholkonsumenten mit einem zunehmenden oder höheren Risiko zu identifizieren, empfehlen die Autoren den AUDIT (alcohol use disorders identification test). Er besteht aus zehn Fragen, die Trinkfrequenz und -intensität, alkoholbedingte Probleme sowie Zeichen einer möglichen Abhängigkeit erfassen. Der ermittelte AUDIT-Score kann den Arzt auch dabei unterstützen, die für den jeweiligen Patienten am besten geeignete Intervention auszuwählen (z.B. kurze Beratung oder Überweisung an eine spezielle Einrichtung). Laboruntersuchungen wie etwa Leberfunktionstests werden zum Screening nicht routinemässig eingesetzt, sie können jedoch helfen, den Schweregrad oder die Progredienz eines bekannten alkoholbedingten Problems zu bewerten. Die Gesprächsführung sollte Konfrontation vermeiden und Motivation aufbauen. Ein motivierendes Arzt-Patienten-Gespräch hat sich in diesem Bereich als sehr vielversprechend erwiesen.
Umgang mit Alkoholabhängigkeit
in der Primärversorgung
Die Identifizierung gefährdeter Personen und eine kurze Beratung sind angesichts der grossen Zahl an Menschen mit riskantem oder schädlichem Alkoholkonsum wichtige Schritte. Dennoch zeigen fast zwei Drittel der Personen auch nach einer optimal durchgeführten Kurzintervention in der Hausarztpraxis weiterhin einen riskanten oder schädlichen Alkoholkonsum. Besteht bereits eine Alkoholabhängigkeit, ist eine Änderung der Situation noch schwerer zu erreichen. Patienten mit einer mässigen bis schweren Alkoholabhängigkeit profitieren oft von einer Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe (wie z.B. Anonyme Alkoholiker, AA) und/oder von einer Behandlung durch Spezialisten. Für viele dieser Patienten ist die Abstinenz das bevorzugte Therapieziel, insbesondere für diejenigen, die schon alkoholbedingte Organschäden aufweisen oder die bereits erfolglos versucht haben, ihren Alkoholkonsum einzuschränken. Drei Interventionen können den Allgemeinmediziner bei der Behandlung von Patienten mit Alkoholerkrankungen unterstützen: der medikamentös unterstützte Entzug, die Unterstützung durch Selbsthilfegruppen und der Einsatz von Medikamenten zur Rückfallprophylaxe.
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FORTBILDUNG
Medikamentös unterstützter Entzug
Das Alkoholentzugssyndrom entwickelt sich, wenn der Konsum plötzlich eingestellt oder stark reduziert wird. Innerhalb von 6 bis 8 Stunden machen sich Symptome wie Angst, Tremor, Schwitzen, Übelkeit, Tachykardie und Hypertonie bemerkbar. Sie erreichen über 10 bis 30 Stunden einen Peak und klingen innerhalb von 2 bis 3 Tagen ab. Das Delirium tremens ist ein schweres Krankheitsbild, das 48 bis 72 Stunden nach dem Alkoholstopp auftritt. Typisch sind ein grobschlägiger Tremor, Agitation, Fieber, Tachykardie, ausgeprägte Verwirrung, Wahnvorstellungen (meist angstbesetzte), auditorische und visuelle Halluzinationen sowie in manchen Fällen Hyperpyrexie, Ketoazidose und Kreislaufkollaps. Geringere Ausprägungsgrade des Alkoholentzugs werden oft beobachtet und können mit Aufklärung und Beruhigung des Patienten sowie adäquater Flüssigkeitszufuhr behandelt werden. Jedoch ist das Alkoholentzugssyndrom potenziell lebensbedrohlich. Systematische Übersichtsarbeiten empfehlen lang wirksame Benzodiazepine (Chlordiazepoxid oder Diazepam) als Mittel der Wahl zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms und zur Prävention schwerer Komplikationen wie Krampfanfällen oder Delirium tremens. Ziel ist es, die Initialdosis je nach Ausprägung der Entzugssymptome zu titrieren und anschliessend die Dosis im Verlauf von 7 bis 10 Tagen entsprechend einem Standardprotokoll mit festgelegten Dosierungen langsam zu reduzieren. Die Therapie kann auch entsprechend der Symptomatik (die mithilfe von Skalen eingestuft wird) und mit einer genaueren Anpassung der Dosis erfolgen, doch ist dieses Vorgehen eher für den stationären Bereich geeignet. Eine Verschreibung für alkoholabhängige Patienten im ambulanten Setting ohne adäquates Assessment und Unterstützung wird nicht empfohlen, da ein erfolgreicher Entzug unwahrscheinlich ist und die assoziierten klinischen Risiken erheblich sind. Mit diesem Szenario sehen sich Hausärzte häufig konfrontiert, und die Autoren raten zu einer raschen Überweisung an eine Spezialeinrichtung, damit der Patient während des medikamentös unterstützten Entzugs entsprechend betreut wird. Die Benzodiazepindosis sollte bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sowie bei über 65-Jährigen reduziert werden. Liegt eine beeinträchtigte Leberfunktion vor (erkennbar an niedrigen Albuminwerten oder einer verlängerten Prothrombinzeit), empfiehlt sich ein Benzodiazepin, das nur in geringem Umfang in der Leber verstoffwechselt wird, wie etwa Oxazepam. Meist kann ein medikamentös unterstützter Entzug zu Hause stattfinden. Ein stationärer Entzug sollte bei Patienten erwogen werden, die mehr als 30 Alkoholeinheiten pro Tag trinken, an Epilepsie leiden oder bei denen Krämpfe im Zusammenhang mit einem Entzug bekannt sind. Ebenso sollten Patienten mit Delirium tremens oder physischen beziehungsweise psychischen Begleiterkrankungen hospitalisiert werden.
Alkoholeinheiten
Alkoholische Getränke weisen unterschiedliche Stärken auf, daher wird der Alkoholkonsum nicht anhand der Anzahl Getränke gemessen, sondern nach der Anzahl an «Einheiten». Im Vereinigten Königreich (UK) enthält 1 Einheit 8 g Alkohol (was 10 ml reinem Äthanol entspricht), doch in verschiedenen anderen Ländern ist dieser Wert anders definiert.
Unterstützung durch Selbsthilfegruppen
Eine Behandlung des Alkoholentzugs allein reicht nicht. Sie sollte lediglich als Beginn eines längerfristigen Therapie- und Rehabilitationsprozesses gesehen werden. Die Forschung zeigt, dass Menschen mit Alkoholabhängigkeit, die mit dem Trinken aufgehört haben, anfällig für Rückfälle sind und dass sie oft ungelöste Probleme haben, die Rezidive wahrscheinlicher machen. Selbsthilfegruppen (wie z.B. die AA) bieten Menschen, die von ihrer Alkoholabhängigkeit loskommen möchten, Unterstützung. Auch Angehörige und Freunde von Alkoholkranken finden dort Hilfe. Langzeitkohortenstudien belegen, dass Menschen, die aktiv an Selbsthilfegruppen teilnehmen, eher einen Behandlungserfolg aufrechterhalten können. Wer Alkoholkranke betreut, sollte die Patienten routinemässig über Selbsthilfegruppen informieren. Ärzte sollten über die Selbsthilfegruppen in ihrer Region informiert sein, die Kontaktdaten kennen und wissen, wie man einer solchen Gruppe beitreten kann. Die Teilnahme an einem Gruppentreffen ist eine wertvolle Erfahrung. Für manche Patienten kann es sehr hilfreich sein, wenn sie vor dem Gruppentreffen mit einem AA-Mitglied bekannt gemacht werden.
Medikamente zur Rezidivprophylaxe
Interventionen, die auf psychologischen oder sozialen Veränderungsprozessen basieren, spielen in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit eine Schlüsselrolle. Obwohl die Forschung darauf hinweist, dass diese Behandlungsmethoden zu besseren Ergebnissen führen als ein abwartendes Verhalten, gibt es keine gute Datenlage zu der Frage, welcher psychologische Ansatz am besten ist. Im Vereinigten Königreich (UK) kommen oft psychologische Therapiekonzepte zum Einsatz, die Komponenten aus verschiedenen Behandlungsansätzen miteinander kombinieren. Oft erstrecken sich diese Behandlungsprogramme über einen Zeitraum von 12 Wochen. Die Erfolge der psychosozialen Intervention können verbessert werden, wenn die Patienten zusätzlich an Selbsthilfegruppen teilnehmen und Medikamente zur Rückfallprophylaxe bekommen. In der Primärversorgung können verschiedene Medikamente verschrieben werden. Meist wird die medikamentöse Therapie jedoch von einem Spezialisten eingeleitet und überwacht. Acamprosat und der Opioidantagonist Naltrexon: Beide Medikamente verlängern bei Alkoholabhängigen, die Abstinenz erreicht haben, die Zeit bis zum ersten alkoholischen Drink und bis zum Rückfall. Acamprosat kann auch neuroprotektiv wirken; man geht davon aus, dass das Medikament wirkt, indem es das Gleichgewicht zwischen der exzitatorischen und der inhibitorischen Neurotransmission verändert. Naltrexon scheint das Verlangen nach Alkohol (Craving) zu reduzieren, indem es den verstärkenden Effekt des Alkoholkonsums reduziert. Beide Medikamente sollten nur zusammen mit einer individuellen psychologischen Intervention eingesetzt werden, die möglichst früh nach dem Entzug begonnen werden sollte. Je nach beobachtetem Erfolg können die Medikamente für 6 Monate oder länger verordnet werden. Systematische Übersichtsarbeiten berichten von einer NNT (number needed to treat) zwischen 12 und 20, um eine Person von erneutem Alkoholkonsum abzuhalten. Disulfiram: Dieses Medikament wirkt, indem es mit dem Alkoholstoffwechsel interferiert und zu einer Akkumulation
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von Acetaldehyd im Körper führt. Dadurch kommt es innerhalb von 10 Minuten nach Alkoholkonsum zu Reaktionen wie Kopfschmerzen, Gesichtsrötung, Palpitationen, Dyspnoe, Tachykardie, Übelkeit und Erbrechen. Der Einsatz von Disulfiram eignet sich am besten für Menschen, deren Ziel Abstinenz ist und die jemanden haben, der sie täglich überwacht. Zwischen dem letzten Alkoholkonsum und dem Beginn der Behandlung müssen mindestens 24 Stunden liegen. Vorsicht ist geboten bei Schwangerschaft, Lebererkrankungen, schweren psychischen Störungen, Schlaganfall, koronarer Herzkrankheit und Bluthochdruck. Die Patienten müssen über die Symptome informiert werden, die durch die Interaktion zwischen Alkohol und Disulfiram verursacht werden. Sie sollten auch über das seltene, aber nicht vorhersehbare Auftreten einer Hepatotoxizität Bescheid wissen, die dosisunabhängig vorkommt. Nalmefen: Dabei handelt es sich um einen Opioidantagonisten zur Reduktion des Alkoholkonsums. Indiziert ist die Substanz bei erwachsenen Alkoholabhängigen, deren Alkoholkonsum sich auf einem hohen Risikoniveau befindet (> 7,5 Einheiten/Tag bei Männern und > 5 Einheiten/Tag bei Frauen), die aber keine körperlichen Entzugssymptome aufweisen und keinen sofortigen medikamentös unterstützten Entzug benötigen. Das Medikament sollte nur bei Patienten eingesetzt werden, die zwei Wochen nach der Erstuntersuchung weiterhin ein hohes Trinkrisiko aufweisen, und es sollte nur im Zusammenhang mit kontinuierlicher psychosozialer Unterstützung, die sich auf Therapieadhärenz und auf eine Reduktion des Alkoholkonsums konzentriert, verabreicht werden. Diese Form der psychosozialen Unterstützung kann in der Primärversorgung durchgeführt werden. Die empfohlene Dosis beträgt eine Tablette an Tagen, an denen ein Trinkrisiko besteht, idealerweise sollte das Medikament 1 bis 2 Stunden vor dem erwarteten Alkoholkonsum eingenommen werden.
Wann sollte eine Überweisung erfolgen?
In folgenden Fällen sollte eine Überweisung zum Spezialisten erwogen werden: O kein Ansprechen auf eine Kurzintervention oder verlän-
gerte Kurzintervention, aber bestehender Wunsch nach weiterer Hilfe O Zeichen einer mässigen oder schweren Alkoholabhängigkeit O schwere alkoholbedingte körperliche Beeinträchtigung oder Komorbidität (z.B. Lebererkrankung oder psychische Probleme). Hausärzte sollten die Patienten aktiv dazu ermutigen, regionale Selbsthilfegruppen wie die AA aufzusuchen sowie spezielle regionale Angebote für eine umfassende Untersuchung und Behandlung in Anspruch zu nehmen. Wie bei jeder chronischen Erkrankung spielt der Hausarzt bei der Unterstützung der Betroffenen und ihrer Familien eine sehr wichtige Rolle. O
Andrea Wülker
Day E et al.: Assessment and management of alcohol use disorders. BMJ 2015; 350: h715.
Interessenlage: Die Autoren haben Forschungsgelder von verschiedenen Institutionen erhalten.