Transkript
FORTBILDUNG
Tuberkulose – eine vernachlässigte Infektionskrankheit
Gibt es neue Therapien?
1,3 Millionen Menschen sterben jährlich an Tuberkulose (Tbc), obwohl es Therapien gibt (1). Die antituberkulöse Therapie umzusetzen, wird erschwert durch mangelnde Aufklärung, ungenügende Arzneimitteladhärenz bei langer Therapiedauer und zahlreiche Wechsel- und Nebenwirkungen der Wirkstoffe. Hinzu kommen Probleme mit resistenten Mykobakterien. In vielen Ländern sind Tbc-Patienten auch häufig mit HIV infiziert. Beide Infektionen beeinflussen sich gegenseitig ungünstig in ihrem klinischen Verlauf. Probleme bereiten ferner Wechselwirkungen zwischen den antiretroviralen und den antituberkulösen Wirkstoffen. Bei Doppelinfektion mit HIV und Tbc senkt eine frühe antiretrovirale Therapie die Morbidität und die Letalität (2).
Der Arzneimittelbrief
Mehr als 50 Jahre lang gab es keine neuen Entwicklungen in der Pharmakotherapie der Tbc. Inzwischen liegen Studien zu einigen neuen Wirkstoffen vor, etwa dem antituberkulös wirksamen Moxifloxacin (3), Delamanid (4) und Bedaquilin (5, 6) zur Behandlung multiresistenter pulmonaler Tbc sowie
MERKSÄTZE
O Wichtigste Ursache für die Entstehung bakterieller Resistenzen und für erhöhte Letalität ist, dass die komplizierte, lang dauernde antituberkulöse Therapie häufig nicht korrekt umgesetzt wird.
O Wegen der weltweit zunehmenden Zahl von Infektionen mit resistenten oder mehrfach resistenten Mykobakterien müssen neue Wirkstoffe entwickelt werden.
O Wegen der häufig vorliegenden Koinfektion mit HIV sollten zukünftige antituberkulöse Wirkstoffe möglichst wenige Wechselwirkungen mit der antiretroviralen Therapie haben.
O Seit rund fünf Jahren befinden sich mehrere Wirkstoffe in präklinischen Studien, und einige haben bereits alle Phasen der Arzneimittelprüfung durchlaufen.
PA-824 (Nitroimidazon-Oxazin [6]). Derzeit laufen präklinische Studien mit weiteren neuen Wirkstoffen beziehungsweise Kombinationen neuer mit alten Tuberkulostatika mit dem Ziel, die Therapiedauer zu verkürzen. Es werden auch dringend Arzneimittel benötigt, die gegen ruhende und persistierende Populationen von Mycobacterium tuberculosis wirksam sind. 1993 hat die WHO die Tbc zu einem globalen Gesundheitsnotfall erklärt (7). Die Inzidenz von Neuerkrankungen wurde 2012 auf 8,6 Millionen geschätzt, 2,9 Millionen Frauen und 530 000 Kinder. Unter den 1,3 Millionen Patienten, die an Tbc gestorben sind, waren 320 000 mit zusätzlicher HIV-Infektion. Insgesamt 170 000 Todesfälle waren auf multiresistente Mykobakterien zurückzuführen (1). Dieser Anteil ist hoch, wenn man davon ausgeht, dass weltweit die Zahl der Patienten mit multiresistenten Mykobakterien auf 450 000 geschätzt wird (8). Eine weitere alarmierende Zahl ist, dass von 94 000 Menschen mit multiresistenter Tbc, die für eine Behandlung infrage kamen, nur 77 000 wirklich behandelt wurden, da für die anderen die antituberkulöse Zweitlinientherapie nicht verfügbar war (8). In einer kürzlich im «Lancet» publizierten Studie aus Südafrika wurde berichtet, dass von 107 Tbc-Patienten mit extensivmultiresistenten (XDR) Mykobakterien (in dieser Studie Resistenzen gegen mindestens 8 Substanzen) nach 24-monatiger Therapie nur 17 einen guten Verlauf hatten, 49 – also knapp die Hälfte – waren gestorben, 7 hatten die Therapie abgebrochen, und 25 hatten auf die Therapie gar nicht angesprochen (9).
Zur Geschichte der Tbc-Therapie
Im August 2013 war der 70. Jahrestag der Entdeckung des ersten Wirkstoffs gegen Mycobacterium tuberculosis – Streptomycin (10, 11). Selman A. Waksman bekam für diese Entdeckung 1952 den Nobelpreis für Medizin. Die britische Gesundheitsbehörde (UK Medical Research Council Tuberculosis Unit) veranlasste die ersten kontrollierten randomisierten Studien zur Behandlung der Tbc (12). Dabei stellte sich schnell heraus, dass sich Resistenzen entwickeln, wenn nur eine wirksame Substanz zur Behandlung der Tbc eingesetzt wird (13). In den ersten sechs Monaten war Streptomycin deutlich wirksam (27% der Patienten ohne Streptomycin vs. 7% mit Streptomycin starben), aber nach fünf Jahren war die Letalität in beiden Gruppen nicht mehr unterschiedlich (58 vs. 76%), und bei fast allen Patienten waren die Erreger streptomycinresistent (12). Fast zeitgleich entdeckte der Schwede Jörgen Lehmann die antituberkulöse Wirksamkeit von Paraaminosalicylsäure (PAS), und in den
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Fünfziger- und Sechzigerjahren wurden Isoniazid (INH), Pyrazinamid, Cycloserin, Kanamycin und Ethambutol entwickelt. Ein weiterer Durchbruch gelang mit der Entdeckung der antituberkulösen Wirkung von Rifampicin, denn dadurch konnte die Kombinationstherapie von 18 Monaten auf 9 Monate verkürzt werden.
Probleme bei antituberkulöser Therapie und wichtige
Ziele neuer Behandlungsregime
Ein grosses Problem ist die lange Behandlungsdauer von mindestens 6 Monaten. Dabei müssen in der Regel vier Wirkstoffe (Rifampicin, Ethambutol, INH und Pyrazinamid) kombiniert 2 Monate lang eingenommen werden und zwei davon (Rifampicin und INH) danach für weitere 4 Monate. Dies bedarf einer eingehenden Aufklärung der Patienten, um eine optimale Arzneimitteladhärenz zu erreichen. Dass diese komplizierte, lang dauernde Therapie häufig nicht korrekt umgesetzt wird, ist die wichtigste Ursache für die Entstehung bakterieller Resistenzen und für erhöhte Letalität (13). Daher muss es ein wichtiges Ziel sein, ein Behandlungsregime mit kürzerer Dauer zu entwickeln, zum Beispiel 2 bis 3 Monate. Mykobakterien können bis zu 100 Tage nach Beginn einer prinzipiell wirksamen Therapie persistieren, was auf «ruhende», nicht stoffwechselaktive Bakterien zurückgeführt wird (14). Neue Wirkstoffe sollten daher die Erreger idealerweise in allen Stadien erreichen.
Wegen der weltweit zunehmenden Zahl von Infektionen mit resistenten oder mehrfach resistenten Mykobakterien müssen neue Wirkstoffe entwickelt werden. Als mehrfach resistent werden Mykobakterien bezeichnet, die gegen Rifampicin und INH resistent sind. Die Behandlung solcher Patienten erfordert es derzeit, viel toxischere und teurere Medikamente einzusetzen als bei üblicher Erstlinientherapie. Auch dauert die Behandlung wesentlich länger, in der Regel 18 bis 24 Monate (15). Bei der Entwicklung neuer antituberkulöser Wirkstoffe sollte bedacht werden, dass weltweit viele Menschen gleichzeitig mit HIV infiziert sind und eine antiretrovirale Therapie benötigen. Zukünftige antituberkulöse Wirkstoffe sollten daher möglichst wenige Wechselwirkungen mit der antiretroviralen Therapie haben. Ein weiteres Ziel muss es sein, die Behandlung der «latenten» Tbc zu verbessern, um die Ansteckung innerhalb von Familien und anderen Gemeinschaften zu verringern. Kürzlich wurde über die Schwierigkeiten und Defizite in diesem Bereich am Beispiel der südafrikanischen Minenarbeiter berichtet (16). Neue antituberkulöse Wirkstoffe: Nach jahrzehntelangem Stillstand in der Forschung befinden sich seit rund fünf Jahren mehrere Wirkstoffe in präklinischen Studien, und einige haben bereits alle Phasen der Arzneimittelprüfung durchlaufen (Tabelle). Diese Liste enthält bekannte Antibiotika, deren
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Tabelle:
Neue antituberkulöse Wirkstoffe
Antimykobakterielle Aktivität entdeckt Zyklopeptide, Diarylchinoline, DpE-Inhibitoren, InhA-Inhibitor, LeuRs-Inhibitor, Makrolide, mykobakterielle Gyrasehemmer, Pyrazinamidanaloga, Riminophenazine, Ruthenium-(II)-Komplexe, Spectinamide (21, 22), Translokase-1-Inhibitoren
Wirkstoffe im präklinischen Stadium der Testung CPZEN-45, DC159, Q203 (19), SQ609, TBI166 (18), BTZ-043 (20), PBTZ-169, TBA-354 (17)
Phase-I-Studien Keine
Phase-II-Studien Linezolid, Sutezolid, Bedaquilin*, Delamanid*, Nitroimidazon-Oxazin (PA-824), Para-Aminosalicylsäure*
Phase-III-Studien Gatifloxacin, Moxifloxacin, Rifapentin
* Diese Wirkstoffe wurden inzwischen zur Behandlung der multiresistenten Tbc zugelassen.
Wirksamkeit gegen Mykobakterien getestet wurde, bekannte Tuberkulostatika mit neuen Dosierungen und chemischen Abwandlungen sowie neu entwickelte Wirkstoffe. Am weitesten fortgeschritten ist die Weiterentwicklung bereits bekannter Wirkstoffklassen beziehungsweise neuer Dosierungen. Beispiele hierfür sind Rifampicinderivate und Vertreter aus der Gruppe der Fluorochinolone. Die Sequenzierung des Genoms von Mycobacterium tuberculosis hat zu einigen Ansätzen für die Entwicklung neuer Tuberkulostatika geführt. Von diesen sind Diarylchinoline (Bedaquilin), Benzothiazinone (BTZ-043 und PBTZ-169) und Imidazopyridinamide (Q203) hervorzuheben. Bis auf Bedaquilin (Phase II) befinden sich alle noch in der präklinischen Prüfung (Tabelle). TBA-354, ein Nitroimidazol der 2. Generation, ist ähnlich wirksam wie Delamanid, aber besser als PA-824, beides Vertreter der gleichen Gruppe. Der Vorteil ist eine bessere Bioverfügbarkeit als bei der 1. Generation (17). Riminophenazine wie zum Beispiel Clofazimin sind ursprünglich Farbstoffe, die das Potenzial haben, die Therapie bei multiresistenter Tbc zu verkürzen. Ein noch bestehendes Problem ist, dass sie im Fettgewebe angereichert werden und die Haut verfärben. Bei TBI-166, ebenfalls aus dieser Gruppe, ist die Hautverfärbung geringer, ohne dass die antimykobakterielle Wirkung abgeschwächt ist (18). Q203 ist ein Vertreter einer neuen Klasse antimykobakteriell wirksamer Substanzen, der Imidazopyridine. Sie hemmen das Wachstum von Mykobakterien durch eine Blockierung des Atmungs-Zytochrom-Komplexes bc1. Q203 hat einen ähnlichen Angriffspunkt wie Bedaquilin, blockiert diesen Stoffwechsel aber effektiver, besonders bei multiresistenten Mykobakterienstämmen (19). Zwei Vertreter der Benzothiazinone (PBTZ-169 und BTZ043) stehen kurz vor der Phase I. Durch einen neuen Wirk-
mechanismus wird der Aufbau der Zellwand von M. tuberculosis gestört, und es kommt zur Lyse (20). Spectinamide sind eine neue Klasse semisynthetischer Tuberkulostatika. Sie leiten sich vom Antibiotikum Spectinomycin ab, das nur schwach tuberkulostatisch wirkt. In verschiedenen Tiermodellen mit normalen wie auch multiresistenten Mycobacterium-tuberculosis-Stämmen war die neue Wirkstoffklasse überzeugend wirksam (21). Die schlechte Bioverfügbarkeit bei oraler Einnahme ist jedoch ein Hindernis (22).
Phase-IIa-Studien
Derzeit sind Fortschritte in der Therapie am schnellsten zu er-
reichen, indem eine bekannte antituberkulöse Wirksamkeit
verschiedener Antibiotika durch chemische Veränderungen
verbessert wird. Beispiele hierfür sind Vertreter aus der
Gruppe der Oxazolidinone, zum Beispiel Linezolid. Linezo-
lid wurde zunächst gegen grampositive Bakterien entwickelt
und seine Wirksamkeit gegen Mykobakterien erst später
erkannt. Verschiedene Derivate wurden synthetisiert mit
stärkerer antimykobakterieller Wirksamkeit und geringerer
Myelotoxizität, zum Beispiel Sutezolid, AZD-5847, Radezo-
lid und Tedizolid (23). Diese Derivate werden derzeit im Tier-
versuch «head-to-head» verglichen, um die besten Kandida-
ten für eine klinische Studie am Menschen zu finden (7).
Eine Kombination von Carbapenemen und Clavulansäure ist
wirksam gegen ruhende und replizierende M. tuberculosis.
Es bestehen jedoch noch Probleme bei der Verbesserung der
oralen Bioverfügbarkeit (24).
Verkürzung der Behandlungszeit: Derzeit wird geprüft, ob
Flurochinolone wie Moxifloxacin oder Gatifloxacin sowie
Rifapentin dazu beitragen können, die Behandlungszeit zu
verkürzen. In diesem Jahr werden die Ergebnisse einer Phase-
III-Studie (REMoxTB) erwartet, in der die Wirksamkeit von
4 Monaten Therapie unter Einschluss von Moxifloxacin mit
einer 6-monatigen Standardtherapie verglichen wird. Primä-
rer Endpunkt dieser Studie sind bakteriologisches Versagen
oder Wiederauftreten der Erkrankung (25).
Neuzulassungen: Bedaquilin (Sirturo®) und Delamanid (Del-
tyba®) sind die ersten neuen Wirkstoffe, die zur Behandlung
der Tbc seit über 50 Jahren zugelassen worden sind. Beda-
quilin wurde von der FDA im Dezember 2012 und von der
Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) im März 2014
für die Behandlung von Infektionen mit multiresistenten
M. tuberculosis zugelassen, allerdings mit der Forderung
nach einer Phase-III-Studie («Bedingte Zulassung» [26]).
Delamanid wurde als zweiter neuer Wirkstoff zur Behand-
lung der multiresistenten Tbc von der FDA und im Mai 2014
auch von der EMA zugelassen (27). Ausserdem erhielt der
seit Jahrzehnten bekannte Wirkstoff PAS als Para-Amino-
salicylsäure Lucane® die Zulassung zur Behandlung der
multiresistenten Tbc (28).
O
Literatur unter www.arsmedici.ch
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Arzneimittelbrief» Nr. 8, August 2014. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber D. von Herrath und Wolf-Dieter Ludwig.
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