Transkript
STUDIE REFERIERT
Depressionen: Therapie in der Hausarztpraxis
Wirksamkeit und Akzeptanz von Medikamenten und Psychotherapie
Depressive Störungen sind sehr häufig, und die meisten betroffenen Patienten werden in Hausarztpraxen betreut. Zwei aktuelle Metaanalysen untersuchten kürzlich, wie effektiv Antidepressiva beziehungsweise psychologische Verfahren bei depressiven Patienten im hausärztlichen Setting sind.
Annals of Family Medicine
Epidemiologische Studien belegen, dass depressive Störungen in der Allgemeinbevölkerung weitverbreitet sind. Nur ein geringer Prozentsatz der betroffenen Patienten wird zum Spezialisten überwiesen, die meisten lassen sich vom Hausarzt behandeln. Die Mehrzahl der Studien zur Therapieentscheidung wurde mit depressiven Patienten durchgeführt, die sich in fachärztlicher oder fachtherapeutischer Behandlung befanden, und es ist nicht klar, ob sich die Ergebnisse dieser Untersuchungen auf die Primärversorgung übertragen lassen. Denn es gibt Hinweise, dass Patienten, die wegen depressiver Störungen vom Hausarzt betreut werden, weniger schwer ausgeprägte Depressionen mit milderem Krankheitsverlauf haben und zudem ein Beschwerdebild mit mehr somatischen Beschwerden und Fatigue aufweisen als Depressive, die vom Spezialisten behandelt werden. Die medikamentöse Behandlung ist eine wichtige Säule im Therapiekonzept depressiver Störungen. Doch wird dis-
MERKSÄTZE
O Für tri- und tetrazyklische Antidepressiva und für SSRI besteht die beste Evidenzbasis hinsichtlich ihrer Effektivität in der Hausarztpraxis. Die Effektgrösse im Vergleich zu Plazebo ist jedoch relativ gering.
O Es gibt Evidenz, dass psychologische Verfahren bei depressiven Patienten in der Hausarztpraxis effektiv sind.
kutiert, ob der im Vergleich zu Plazebo relativ geringe Effekt dieser Medikamente, der in klinischen Studien nachgewiesen wurde, überhaupt klinisch relevant ist. Ein Forscherteam untersuchte nun in einer Netzwerkmetaanalyse, ob Antidepressiva in der Primärversorgung effektiver sind als Plazebo und ob es Unterschiede zwischen den verschiedenen Substanzklassen im Hinblick auf Wirksamkeit und Akzeptanz gibt. In ihrer Übersichtsarbeit berücksichtigten die Autoren randomisierte Studien mit depressiven Erwachsenen, die in Hausarztpraxen behandelt wurden (1).
Antidepressiv wirksame
Medikamente
Insgesamt erfüllten 66 Studien mit zusammen 15 161 Patienten die Einschlusskriterien. Die Netzwerkmetaanalyse ergab, dass trizyklische und tetrazyklische Antidepressiva (TZA), selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), ein Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI; Venlafaxin), ein niedrig dosierter Serotoninantagonist und -Wiederaufnahmehemmer (SARI; Trazodon) und Hypericumextrakte gegenüber Plazebo signifikant überlegen waren. Die geschätzten Odds Ratios (OR) lagen zwischen 1,69 und 2,03. Es gab keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen diesen Substanzklassen. Reversible Inhibitoren der Monoaminooxidase A (rMAO-A) und Hypericumextrakte waren mit signifikant weniger Studienabbrüchen aufgrund von Nebenwirkungen assoziiert als TZA, SSRI, Venlafaxin sowie noradrenerge und
spezifisch serotonerge Antidepressiva (NaSSA) (1). Die Autoren weisen darauf hin, dass die Qualität der meisten berücksichtigten Studien mittelmässig oder gering war. Da sich die Beobachtungsdauer nur in wenigen Studien über mehr als zwölf Wochen erstreckte, war eine verlässliche vergleichende Analyse von Langzeiteffekten nicht möglich. Fazit der Autoren: Im Vergleich zu anderen Medikamenten besteht für TCA und SSRI die beste Evidenzbasis hinsichtlich ihrer Effektivität in der Hausarztpraxis. Doch ist die Effektgrösse im Vergleich zu Plazebo relativ gering. Bei einer Ansprechrate von 40 Prozent unter Plazebo würde eine OR von 1,69 (die für SSRI nachgewiesen wurde) bedeuten, dass 53 Prozent der Patienten, die ein Antidepressivum bekommen, auf die Therapie ansprechen. Weitere Substanzen (Hypericum, rMAO-A, SNRI, NRI, NaSSA, SARI) zeigten einige positive Resultate, doch ist es aufgrund der derzeit verfügbaren limitierten Evidenz schwierig, klare Empfehlungen zum Stellenwert dieser Substanzen in der klinischen Praxis zu formulieren (1).
Psychologische Verfahren
In einer weiteren Metaanalyse untersuchte das fast identisch zusammengesetzte Autorenteam, wie effektiv psychologische Behandlungsmethoden in der Therapie depressiver Patienten in der Primärversorgung sind (verglichen mit der «üblichen Behandlung» oder mit Plazebo). Im Rahmen einer umfangreichen Literaturrecherche identifizierten die Forscher entsprechende randomisierte kontrollierte Studien. Zwei oder mehr Reviewer extrahierten die erforderlichen Informationen aus den eingeschlossenen Studien und bewerteten das jeweilige Biasrisiko. Anschliessend führten sie «Randomeffects»-Metaanalysen durch, wobei die nach der Behandlung dokumentierten Depressionsscores als Ergebnisse dienten (2). Insgesamt erfüllten 30 Studien mit zusammen 5159 Patienten die Einschlusskriterien. Im Vergleich zu den Kontrollen konnten die Untersucher folgende Effekte (standardisierte durchschnittliche Differenz) nach Abschluss der Behandlung feststellen:
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STUDIE REFERIERT
Ein paar Antworten, viele offene Fragen
Die beiden beschriebenen Metaanalysen wurden sorgfältig durchgeführt und erweitern unser Wissen über Wirksamkeit und Effektivität der medikamentösen und psychologischen Depressionsbehandlung in der Hausarztpraxis, wie es in einem begleitenden Editorial heisst (3). Doch weist der Autor auch auf die Schwächen der Studien hin, die in den Metaanalysen berücksichtigt wurden: Beispielsweise wurden in den meisten Studien zur Pharmakotherapie nur geringe Dosierungen eingesetzt, die manchmal sogar unter der empfohlenen Dosierung lagen. Die Studiendauer war im Allgemeinen kurz, und in der Hälfte der Studien lag mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Bias vor.
Überraschend ist auch der geringe Effekt der aktiven Substanzen. 40 Prozent der Patienten, die ein Plazebo erhielten, sprachen darauf an, von den Patienten, die aktive Substanzen (in niedriger Dosierung) bekamen, sprachen 53 Prozent an. Dabei handelt es sich um Kurzzeitdaten. Und dann gab es noch das erstaunliche Resultat, dass Johanniskraut in deutschsprachigen Ländern besser zu wirken scheint als in anderen Ländern! Zwei Dinge, so der Editorialist, kann man mit Sicherheit festhalten:
1. Es besteht weiterhin Bedarf an qualitativ hochwertigen klinischen Studien auf diesem Gebiet.
2. Wir haben noch keine ausreichend effektiven Medikamente gegen Depression.
Die Studien über psychologische Verfahren sind noch heterogener und noch schwieriger miteinander zu vergleichen als diejenigen zur Pharmakotherapie. Hinzu kommt, dass bei einem Teil der Patienten keine Major Depression, sondern lediglich eine Minor Depression oder Dysthymie vorlag. Dennoch erlaubt die Metaanalyse zu psychologischen Verfahren bei Depression nach Ansicht des Editorialisten einige vorläufige Schlussfolgerungen. Beispielsweise scheinen alle Psychotherapien, die «face-to-face» durchgeführt werden, zu funktionieren. Die kognitive Verhaltenstherapie scheint immer erfolgreich zu sein, auch wenn sie nur mit geringer Intensität («low intensity») durchgeführt wird. In allen Fällen ist die Effektgrösse jedoch gering: Es müssen 10 Patienten behandelt werden, damit 1 auf die Therapie anspricht, und 15 Patienten, damit es zu einer Remission kommt.
Diese Ergebnisse sind deutlich schlechter als diejenigen einer Metaanalyse, in der Daten aus Fachkliniken, -ambulanzen und -praxen ausgewertet wurden: In dieser Analyse zeigten sich mässige bis grosse Effekte bei verschiedenen Psychotherapieverfahren, insbesondere bei der kognitiven Verhaltenstherapie. Die Effekte der Psychotherapie waren denjenigen der Pharmakotherapie überlegen.
Psychotherapien sind komplexe Interventionen, die sich oft aus einer ganzen Reihe von therapeutischen Basismodulen zusammensetzen. Es gibt zunehmend Hinweise, dass Psychotherapie flexibler und effektiver angewandt werden kann, wenn diese Basismodule individuell für jeden Patienten so zusammengestellt werden, dass sie seinen Bedürfnissen gerecht werden. Deshalb könnte sich in Zukunft in der Psychotherapie einiges ändern und manches einfacher werden, vermutet der Editorialist.
Schliesslich bleibt noch die Frage, wie evidenzbasierte Erkenntnisse zur Behandlung depressiver Patienten im hektischen Praxisalltag umgesetzt werden sollen. Effektive Interventionen sind nur der Beginn einer erfolgreichen Implementierung, zusätzlich müssen Faktoren berücksichtigt werden, die den Patienten, den Arzt, das klinische Setting, das Gesundheitssystem und so weiter betreffen. «Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich auch effektive Interventionen oder unkomplizierte Leitlinien nicht immer leicht im turbulenten Betrieb einer Hausarztpraxis umsetzen lassen», schreibt der Kollege und weist darauf hin, dass hinsichtlich einer erfolgreichen Implementierung noch erheblicher Handlungsbedarf besteht (3).
O -0,30 für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) bei Behandlung mit direktem Therapeutenkontakt («face-to-face»)
O -0,14 für die problemlösungsorientierte Therapie im direkten Therapeutenkontakt
O -0,24 für die interpersonelle Psychotherapie im direkten Therapeutenkontakt
O -0,28 für andere psychologische Interventionen im direkten Therapeutenkontakt
O -0,43 für die KVT mit indirektem Therapeutenkontakt («remote therapist-led therapy»)
O -0,56 für die problemlösungsorientierte Therapie im indirekten Therapeutenkontakt
O -0,40 für die geführte SelbsthilfeKVT
O -0,27 für KVT ohne oder mit minimalem Therapeutenkontakt (2).
Fazit der Autoren: Es gibt Evidenz, dass psychologische Behandlungen bei depressiven Patienten in der Hausarztpraxis effektiv sind. Dieses Ergebnis ist für Patienten und Ärzte beruhigend, die eine nicht medikamentöse Strategie verfolgen möchten. Zwischen den verschiedenen psychologischen Verfahren konnten keine grossen Unterschiede festgestellt werden. Für KVT-Verfahren existiert eine gute Evidenzlage, dass weniger ressourcenintensive Verfahren zu ähnlichen Effekten führen wie intensivere Verfahren. Dies ist ein interessantes Ergebnis, da nicht in allen Regionen ausreichend qualifizierte Kliniker zur Verfügung stehen. Doch weisen die Autoren darauf hin, dass dieses Resultat mit Vorsicht interpretiert werden sollte. Denn in den eingeschlossenen Studien erhielten Patienten mit schweren depressiven Störungen eher eine Therapie mit direktem Therapeutenkontakt. Möglicherweise sind Verfahren mit direktem beziehungsweise indirektem oder minimalem Therapeutenkontakt nur dann ähnlich effektiv, wenn sie bei motivierten Patientengruppen gezielt eingesetzt werden und wenn die Indikation stimmt. Je nachdem, welche Möglichkeiten in einer Praxis, einem Zentrum oder einer Region zur Verfügung stehen, sollten Hausärzte bei ihren depressiven Patienten eine Überweisung zu einer psychologischen Therapie in Betracht ziehen (2).
Andrea Wülker
Literatur: 1. Linde K et al.: Efficacy and acceptability of pharmaco-
logical treatments for depressive disorders in primary care: systematic review and network meta-analysis. Ann Fam Med 2015; 13: 69–79. 2. Linde K et al.: Effectiveness of psychological treatments for depressive disorders in primary care: systematic review and meta-analysis. Ann Fam Med 2015; 13: 56–68. 3. deGruy FV: Treatment of depression in primary care. Ann Fam Med 2015; 13: 3–5.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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