Transkript
STUDIE REFERIERT
Hypertonie in der Schwangerschaft
Bei moderat erhöhtem Blutdruck ohne Proteinurie genügen moderate Zielwerte
In der bisher grössten randomisierten Studie mit Schwangeren mit leichter Hypertonie fand sich kein Unterschied bezüglich hypertonierelevanter Komplikationen zwischen zwei Gruppen mit moderater oder strenger Hypertoniekontrolle.
New England Journal of Medicine
Bei der leichten bis moderaten Schwangerschaftshypertonie gehen die Meinungen über die Behandlungsbedürftigkeit auseinander, nicht zuletzt, weil unklar ist, ob der zu erwartende Nutzen für die Schwangere die potenzielle Gefährdung des Fetus durch eine allzu intensive antihypertensive Behandlung rechtfertigt. Auch der jüngste Cochrane-Review im Jahr 2014 brachte keine Klarheit: Es gebe nicht genügend Evidenz, um diese Frage zu beantworten, so das Resümee der Cochrane-Autoren (1). Eine neue randomisierte Studie mit 987 Schwangeren bringt nun etwas mehr Klarheit (2).
Um welche Schwangeren geht es? In die neue, amerikanische Studie wurden nur Schwangere aufgenommen, die ausser einer leichten bis moderaten Hypertonie keine weiteren Risikofaktoren aufwiesen. Die Grenzwerte betrugen
MERKSÄTZE
O In der Schwangerschaft genügt bei nur moderat erhöhtem Blutdruck (diastolisch > 105 mmHg) ohne Proteinurie ein moderater Zielwert von maximal 100 mmHg diastolisch.
O Die Entwicklung einer schweren Hypertonie ist bei Schwangeren mit strengerer Kontrolle (max. 85 mmHg diastolisch) zwar seltener, hypertonierelevante Komplikationen für Mutter und Kind sind dadurch jedoch nicht seltener.
diastolisch 90 bis 105 mmHg beziehungsweise diastolisch 85 bis 105 mmHg für Frauen, die bereits Antihypertensiva einnahmen (dies betraf rund die Hälfte der Frauen bei Aufnahme in die Studie). Die Frauen waren bei Aufnahme in die Studie in der 14. bis 33. Schwangerschaftswoche; rund 75 Prozent von ihnen hatten bereits vor der Schwangerschaft Hypertonie. Schwangere mit Proteinurie wurden nicht in die Studie aufgenommen. Insgesamt wurden 987 Frauen in die Studie aufgenommen und in zwei Gruppen randomisiert. In der Gruppe mit der moderaten Hypertoniekontrolle betrug der Zielwert diastolisch maximal 100 mmHg, in der Gruppe mit der strengen Kontrolle diastolisch 85 mmHg.
Welche Komplikationen
wurden erfasst?
Der kombinierte primäre Endpunkt umfasste Risiken für das Kind: Mortalität (Tod bei Geburt, Fehl- oder Totgeburt, Schwangerschaftsabbruch, ektope Schwangerschaft) sowie das normale Mass übersteigende neonatale Interventionen 48 Stunden bis 28 Tage nach der Geburt beziehungsweise dem Austritt aus dem Spital. Der sekundäre Endpunkt bestand aus hypertonierelevanten schweren Komplikationen bei der Mutter bis zu sechs Wochen postpartum beziehungsweise dem Austritt aus dem Spital. Hierzu zählten unter anderem Mortalität, Hirnschlag, Präeklampsie und unkontrollierte Hypertonie.
Resultate
In beiden Gruppen nahmen die meisten Frauen während der Schwangerschaft Antihypertensiva: rund 73 Prozent bei moderater und 93 Prozent bei strenger Hypertoniekontrolle. Die Studienleiter hatten dafür Labetalol (Trandate®) empfohlen, woran man sich meist auch hielt (rund 69%). Der durchschnittliche Blutdruck war in der Gruppe mit der strengen Kontrolle niedriger, nämlich 133/85 mmHg gegenüber 139/90 mmHg. Auch kam die Entwicklung einer schweren Hypertonie (systolisch > 160 mmHg oder diastolisch > 110 mmHg) in der Gruppe mit der moderaten Kontrolle wesentlich häufiger vor (40,6% vs. 27,5% der Frauen). Dies führte jedoch nicht zu einem klinisch messbaren Unterschied bezüglich der oben genannten Endpunkte. In beiden Gruppen waren bei etwa gleich vielen Kindern aussergewöhnliche neonatale Interventionen notwendig (29,4% vs. 29%), und auch die Mortalitätsrate unterschied sich nicht (3% vs. 2,7%). Bei den schweren mütterlichen Komplikationen verhielt es sich ähnlich. Mit Ausnahme der bereits genannten Entwicklung einer schweren Hypertonie fanden sich keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen. So entwickelten rund 35 Prozent der Schwangeren unter moderater und 32 Prozent unter strenger Kontrolle eine Präeklampsie mit mindestens einem Symptom ausser einer Proteinurie. Das Geburtsgewicht war in der Gruppe mit moderater Kontrolle im Durchschnitt höher. Hier lagen rund 16 Prozent der Kinder unter der 10. Perzentile gegenüber rund 20 Prozent in der Gruppe mit der strengen Kontrolle. Der Unterschied war jedoch statistisch nicht signifikant. Die Autoren eines begleitenden Editorials in der gleichen Ausgabe des «New England Journal of Medicine» weisen darauf hin, dass auch diese Studie mangels statistischer Power keine definitive Antwort auf die Frage geben kann, ob eine intensive medikamentöse Hypertoniebehandlung dem Fetus schadet oder nicht. Man könne ein klinisch relevantes Risiko jedoch nicht ausschliessen, schreiben Caren G. Solomon und Michael F. Greene (3).
370
ARS MEDICI 7 I 2015
STUDIE REFERIERT
Was bedeutet das für die Praxis?
Wie so oft, lässt auch diese Studie zwei Betrachtungsweisen zu. Einerseits könnte man argumentieren, dass es eine allzu strenge Kontrolle bei leichter Schwangerschaftshypertonie nicht braucht, weil sich daraus keine klinisch messbaren Vorteile ergeben. Andererseits könnte eine Schwangere von der strengeren Hypertoniekontrolle profitieren, weil sie damit ihr Risiko senkt, im weiteren Verlauf eine schwere Hypertonie zu entwickeln. Obgleich sie vor einem potenziellen, nicht auszuschliessenden Risiko für den Fetus warnen, ist die Studie für die Kommentatoren Solomon und Greene am Ende
doch eher beruhigend, weil die strikte Kontrolle offenbar keine schweren Schäden beim Fetus verursachte (3). Als Medikament der Wahl hatten die Studienautoren Labetalol empfohlen. Weitere Optionen sind Methyldopa (Aldomet®) und Nifedipin (Adalat® und Generika) (3). Diese werden auch in der aktuellen S1-Leitlinie «Diagnostik und Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen» (4) genannt. In der Schwangerschaft nicht geeignet sind Diuretika, ACE-Hemmer, Sartane und alle anderen Antihypertensiva (4). O
Renate Bonifer
Literatur: 1. Abalos A: Antihypertensive drug therapy for mild to
moderate hypertension during pregnancy. Cochrane Database Syst Rev 2014; 2: CD002252. 2. Magee LA et al.: Less-tight versus tight control of hypertension in pregnancy. N Engl J Med 2015; 372: 407–417. 3. Solomon CG, Greene MF: Control of hypertension in pregnancy- if some is good, is more worse? N Engl J Med 2015; 475–476. 4. S1-Leitlinie: Diagnostik und Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen. AMWF-Register 015/ 018. Stand: 12/2013; http://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/015-018.html.
Interessenlage: Die Studie wurde vom staatlichen Canadian Institute of Health Research finanziert. Einer der 20 Studienautoren deklarierte Beraterhonorare eines Diagnostikaherstellers.