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STUDIE REFERIERT
Hyperaktive Blase im Alter – was hilft?
Viele ältere vulnerable Patienten leiden an einer überaktiven Blase. Das Management gestaltet sich oft schwierig, da die Beschwerden im Zusammenhang mit dem individuellen geriatrischen Syndrom evaluiert und behandelt werden müssen. In einem Review haben amerikanische Wissenschaftler Therapieoptionen für diese spezielle Population zusammengestellt.
Research and Reports in Urology
Entsprechend der Definition der Internationalen Inkontinenzgesellschaft ist eine überaktive Blase durch starken Harndrang mit oder ohne Inkontinenz gekennzeichnet, der meist mit einer erhöhten Anzahl der Miktionen und/oder Nykturie einhergeht. Bei der hyperaktiven Blase handelt es sich nicht um eine Diagnose mit spezieller Pathophysiologie, sondern um einen individuellen Symptomkomplex. Die Prävalenz der überaktiven Blase nimmt mit dem Alter zu. Aus der amerikanischen populationsbasierten NOBLE-(National Overactive Bladder
MERKSÄTZE
O Als nicht pharmakologische Massnahmen werden Verhaltensänderungen und Beckenbodentraining empfohlen.
O Antimuskarinika sind bei überaktiver Blase die Medikamente der ersten Wahl.
O Der Beta-3-Adrenorezeptor-Agonist Mirabegron hat sich bei Patienten über 65 und über 75 Jahren als wirksam und gut verträglich erwiesen.
O Die perkutane Tibialnervstimulation ist auch für ältere vulnerable Patienten eine geeignete Option.
O Detrusorinjektionen mit Botulinumtoxin A sind bei vulnerablen älteren Menschen nur eingeschränkt möglich.
Evaluation-)Studie geht hervor, dass starker Harndrang, Inkontinenz oder Nykturie bei Menschen über 65 Jahre etwa doppelt so häufig vorkommen wie bei Personen unter 45. Harnwegsbeschwerden beeinträchtigen die Lebensqualität von Senioren und sind mit einem erhöhten Risiko für Stürze und Frakturen verbunden. Auch bei gebrechlichen alten Menschen kann die Symptomatik einer überaktiven Blase mit geeigneten Massnahmen beträchtlich verbessert werden. Aufgrund der individuellen Besonderheiten wie Komorbiditäten, physischen/ kognitiven Einschränkungen oder der Einnahme mehrerer Medikamente können allgemeingültige Algorithmen zur Diagnose und Behandlung hier nicht immer befolgt werden. Zudem wird diese Population nur selten in Studien berücksichtigt, sodass nur eine begrenzte Evidenz zur Wirksamkeit verschiedener Therapieoptionen vorhanden ist. Gilian Wolff von der University of Connecticut (USA) und ihre Arbeitsgruppe haben die verfügbaren Daten zur Evaluierung und zur Behandlung der überaktiven Blase bei vulnerablen älteren Patienten ausgewertet und in einem Review zusammengefasst.
Verhaltensmassnahmen
und Beckenbodentraining
In den Guidelines der American Urological Association und der European Association of Urology werden Patientenschulungen und Verhaltensänderungen als erste nicht pharmakologische Massnahmen empfohlen. Zu den wirk-
samen Verhaltensänderungen gehören zeitlich festgelegte und verzögerte Blasenentleerungen, Techniken zur Unterdrückung des Harndrangs und Beckenbodentraining. Als unterstützende Massnahmen eignet sich Biofeedback oder die perkutane Tibialnervstimulation. Für alle nicht pharmakologischen Massnahmen ist die Mitarbeit des Patienten erforderlich. Bei vulnerablen älteren Patienten kann die Kooperationsfähigkeit durch Beeinträchtigungen der Mobilität, der Motivation oder der Kognition eingeschränkt sein.
Antimuskarinika
Bei unzureichendem Erfolg von Verhaltensmassnahmen und Beckenbodentraining kann eine medikamentöse Behandlung versucht werden. Firstline-Medikamente sind meist Antimuskarinika. Diese Substanzen vermindern die Detrusoraktivität. Ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit stehen mit der Bindung an die Muskarinrezeptorsubtypen M1 bis M5 und der Fähigkeit zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke in Zusammenhang. Die Effekte im unteren Harntrakt werden über den Rezeptor M2 und vor allem über M3 vermittelt. Beide Rezeptoren sind auch für unerwünschte Wirkungen wie Mundtrockenheit, Obstipation und verschwommene Sicht verantwortlich. Bei gebrechlichen älteren Personen muss eine potenzielle Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten durch Antimuskarinika berücksichtigt werden, die über den M1-Rezeptor im zentralen Nervensystem (ZNS) vermittelt wird. Auch nehmen ältere Menschen oft weitere Medikamente ein, sodass es zu Wechselwirkungen bei der Verstoffwechslung von Antimuskarinika kommen kann. Manche Substanzen anderer Medikamentenklassen weisen anticholinerge Eigenschaften auf. Bei gleichzeitiger Einnahme von Antimuskarinika ist daher eine Verstärkung der typischen Nebenwirkungen möglich. Neuere Substanzen wirken selektiver auf die Blase und sind mit weniger Nebenwirkungen verbunden. Als quartäres Amin kann Trospiumchlorid (Spasmo-Urgenin® Neo, Spasmex®) die Blut-Hirn-Schranke kaum überwinden, sodass nur geringfügige Auswirkungen auf das ZNS und die Kognition zu erwarten sind. Letzteres wurde allerdings noch nicht schlüssig durch die
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klinische Erfahrung bestätigt. Darifenacin (Emselex®) bindet selektiv an den blasenspezifischen Rezeptor M3. Eine begrenzte Datenlage weist auf positive Wirkungen bezüglich der Kognition älterer Menschen hin. Darifenacin wurde bis anhin jedoch nur bei gesunden Senioren untersucht, sodass die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf gebrechliche Personen übertragbar sind. Zum Vergleich von Oxybutinin (Ditropan®) mit anderen verfügbaren Substanzen bei älteren vulnerablen Patienten liegen nur wenige Daten vor. In einer randomisierten, doppelblinden, plazebokontrollierten Studie evaluierten Wissenschaftler über einen Zeitraum von zwölf Wochen die Wirksamkeit von Fesoterodin (Toviaz®) zur Behandlung einer Dranginkontinenz bei älteren, eigenständig lebenden Patienten. Die Teilnehmer litten an Komorbiditäten und nahmen mehrere Medikamente ein. In dieser Untersuchung wurde mit Fesoterodin eine signifikante Reduzierung der täglichen Dranginkontinenzepisoden im Vergleich zu Plazebo erreicht. Unter Fesoterodin wurde zudem eine signifikante Reduzierung der Anzahl der Miktionen und der Harndrangepisoden beobachtet. Das Sicherheitsprofil war ähnlich dem bei jüngeren Patienten. Häufigste Nebenwirkungen waren Mundtrockenheit und Obstipation.
Beta-3-Agonisten
Mirabegron (Betmiga®) wurde als erster Beta-3-Adrenorezeptor-Agonist zur Behandlung der hyperaktiven Blase zugelassen. Die Substanz bewirkt eine Entspannung des Detrusors während der Speicherphase und erhöht so die Blasenkapazität, ohne die Fähigkeit zur Miktion zu beeinflussen. In einer Untergruppenanalyse von drei 12-wöchigen Phase-III-Studien wurden die Wirksamkeit und die Sicherheit von Mirabegron bei Patienten über 65 beziehungsweise über 75 Jahre untersucht. Informationen zu Komorbiditäten oder zum Gebrechlichkeitsstatus der Senioren waren dokumentiert. Mirabegron (25 mg und 50 mg 1-mal täglich) reduzierte die Frequenz der Inkontinenzepisoden und die Anzahl der Miktionen im Vergleich zu Plazebo. Im Rahmen dieser Studie zeigte sich kein Wirkungsverlust mit zunehmendem Alter. Als häufigste Nebenwirkun-
gen wurden bei den über 65-jährigen Patienten Bluthochdruck (9,9%), Nasopharyngitis (4,1%) und Harnwegsinfekte (3,1%) beobachtet. Bei den über 75-Jährigen traten auch Kopfschmerzen, Mundtrockenheit und Schmerzen in den Extremitäten auf. Im Vergleich zum Antimuskarinikum Tolterodin (Detrusitol®) wurde Mundtrockenheit etwa sechsmal seltener beobachtet. In einer kleinen, offenen Parallelgruppenstudie wurden die Auswirkungen einer Funktionseinschränkung von Leber oder Niere auf die Pharmakokinetik von Mirabegron nach Applikation einer Einzeldosis untersucht. Mirabegron wurde bei leichter, mittlerer und schwerer Leber- oder Nierenbeeinträchtigung gut vertragen.
Elektrische Neuromodulation
Bei unzureichender Wirksamkeit von Medikamenten hat sich die perkutane Sakral- oder Tibialnervstimulation als wirksame Option bei hyperaktiver Blase erwiesen. Aus neueren Untersuchungen geht hervor, dass diese Intervention bei gebrechlichen älteren Menschen wirksamer ist als ursprünglich angenommen.
Botulinumtoxin A
Botulinumtoxin A (z.B. Botox®, Dysport®, Vistabel®, Xeomin®) wurde von der Food and Drug Administration (FDA) für die Anwendung bei Erwachsenen mit idiopathischer refraktärer überaktiver Blase zugelassen (in der Schweiz ist Botulinumtoxin A als Mittel der zweiten Wahl zur Behandlung der überaktiven Blase mit den Symptomen Harninkontinenz, Harndrang und häufige Miktion zugelassen). Wie bei anderen Behandlungsoptionen ist auch die Evidenz zu Botulinumtoxin A bei vulnerablen Senioren spärlich. Botulinumtoxin A wirkt am Muskulus detrusor über eine Bindung an Membranrezeptoren auf cholinergen Neuronen. Das Toxin verhindert die Freisetzung von Acetylcholin, hemmt die Kontraktion der glatten und gestreiften Muskulatur und vermindert die Blasenaktivität. In einer kleinen Studie wurde die Wirksamkeit von Botulinumtoxin A bei 21 Patienten ab 75 Jahren mit refraktärer idiopathischer oder neurogener überaktiver Blase untersucht. Zu Ko-
morbiditäten oder dem kognitiven und
dem funktionellen Status der Teilneh-
mer wurden keine Angaben gemacht.
Im Anschluss an die erste Injektion von
200 Einheiten verspürten 76,2 Prozent
der Teilnehmer eine Besserung von min-
destens 50 Prozent im Hinblick auf die
Anzahl der Miktionen und die täglich
verwendeten Inkontinenzeinlagen. Die
durchschnittliche Zeit bis zum Abklin-
gen der Wirkung betrug 7,12 Monate.
Zu den wichtigsten Komplikationen
unter Botulinumtoxin gehören Hämat-
urie, Harnwegsinfekte und Harnver-
halt. Das Risiko für Harnverhalt
schränkt die Anwendbarkeit bei vulne-
rablen älteren Patienten ein, da einige
nicht in der Lage sind, eine intermittie-
rende Katheterisierung durchzuführen
oder diese nicht vertragen.
O
Petra Stölting
Wolff GF et al.: Overactive bladder in the vulnerable elderly. Res Rep Urol 2014; 6: 131–138.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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