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FORTBILDUNG
Chemotherapeutika bei Hodentumoren – ein Review
Die meisten Hodenkrebspatienten können heute geheilt werden. Bei Seminomen im Stadium 1 ist nach der Orchiektomie oft eine aktive Überwachung ausreichend. Bei kleinen Seminomen im Stadium 2 gilt die Bestrahlung als Standardoption. Bei fortgeschrittener Erkrankung bleibt die zytotoxische Chemotherapie Eckpfeiler der Behandlung.
New England Journal of Medicine
Mittlerweile konnten Dosis und Bestrahlungsfeld beträchtlich reduziert werden, und häufig unterbleibt die Strahlentherapie ganz. Alternativ kann eine adjuvante Behandlung mit Carboplatin durchgeführt werden. Bei den meisten Patienten mit Seminomen im Stadium 1 ist nach der Orchiektomie eine aktive Überwachung ausreichend. Dabei kommt es zwar zu mehr Rezidiven als unter einer Strahlen- oder Chemotherapie (20 vs. 4%), das Langzeitüberleben liegt jedoch ungeachtet der Erstbehandlung bei nahezu 100 Prozent (Tabelle 1).
Vor 50 Jahren war die Diagnose eines metastasierten Hodentumors mit einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit verbunden, innerhalb eines Jahres zu versterben. Heute ist dagegen bei 95 Prozent aller Hodenkrebspatienten und bei mehr als 80 Prozent der Betroffenen mit metastasierter Erkrankung eine Heilung möglich. In den USA hat die Häufigkeit der Hodentumoren innerhalb der letzten 20 Jahre stetig zugenommen, und in manchen Regionen in Nordeuropa hat sich die Inzidenz verdoppelt. Dabei scheinen vor allem Umwelteinflüsse und genetische Faktoren eine Rolle zu spielen. Bei einer Hodenkrebserkrankung des Bruders ist das Risiko 8- bis 10-mal und bei Hodenkrebs des Vaters 4- bis 6-mal höher als bei Brüdern oder Söhnen in nicht betroffenen Familien.
Seminome im Stadium 1 Die meisten Patienten mit einem Seminom im Stadium 1 können mit einer Orchiektomie geheilt werden. Viele Jahre gehörte eine adjuvante Bestrahlung zur Standardbehandlung.
MERKSÄTZE
Seminome im Stadium 2
Bei kleinen Seminonen im Stadium 2 (Beschränkung retroperitoneale Lymphknoten; Durchmesser der Lymphknoten max. 3 cm) gilt die Bestrahlung der paraaortalen und der ipsilateralen iliakalen Lymphknoten mit 30 bis 36 Gray (Gy) als Standardoption. Bei grösseren Seminomen wird eine Chemotherapie mit drei Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin (BEP) oder mit vier Zyklen Etoposid/Cisplatin bevorzugt, da die Rezidivrate bei alleiniger Bestrahlung höher ist. Bei 98 Prozent der Patienten wird eine Heilung erzielt. Nach der Chemotherapie ist im Rahmen der radiologischen Evaluierung häufig Restgewebe erkennbar, das meist auf eine Desmoplasie hinweist. Da sich die chirurgische Exstirpation schwierig gestalten kann und die Inzidenz an restlichem Seminomgewebe gering ist, werden residuelle Massen mit einem Durchmesser von weniger als 3 cm meist nicht entfernt, sondern engmaschig überwacht. Bei Restmassen mit einem Durchmesser von mehr als 3 cm ist die Gefahr grösser, dass noch Tumorgewebe vorhanden ist. Um die Entscheidung für eine Resektion oder eine aktive Überwachung zu erleichtern, wird häufig sechs Wochen nach Abschluss der Behandlung ein Positronenemissionstomogramm (PET) angefertigt.
O Bei der Auswahl geeigneter Behandlungsoptionen sollten Langzeitrisiken bedacht und möglichst minimiert werden.
O Bei Seminomen im Stadium 1 ist nach der Orchiektomie meist eine aktive Überwachung ausreichend.
O Bei kleinen Seminomen im Stadium 2 ist die Bestrahlung Standardoption.
O Bei fortgeschrittener Erkrankung bleibt die zytotoxische Chemotherapie Eckpfeiler der Behandlung.
Nicht seminomatöse Keimzelltumoren im Stadium 1
Die meisten Patienten mit einem nicht seminomatösen Keimzelltumor präsentieren sich mit einer Erkrankung im Stadium 1. Zu den Behandlungsoptionen nach der Orchiektomie gehören aktive Überwachung, eine nervenschonende retroperitoneale Lymphknotendissektion sowie ein oder zwei adjuvante Zyklen mit BEP. Alle Optionen sind mit einer langfristigen Heilungsrate von 99 Prozent verbunden. Bei Lymphknotenbefall besteht unter aktiver Überwachung ein hohes Rezidivrisiko von 50 Prozent, ohne Befall der Lymphknoten ist dieses Risiko mit 15 Prozent gering (Tabelle 2).
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Behandlungsoptionen bei Seminomen im Stadium 1* (nach Nasser und Einhorn)
Behandlungsoption Ergebnisse
Vorteile
Nachteile
Aktive Überwachung
Rezidivrate: 20% Krebsspezifische Langzeitüberlebensrate: 99%
Die meisten Patienten benötigen keine Behandlung Ausgezeichnete Langzeitergebnisse
Therapietreue ist unabdingbar Bei Rezidiv sind höhere Dosen einer Strahlentherapie oder 9 bis 12 Wochen Chemotherapie erforderlich
Strahlentherapie
Rezidivrate: 4% Krebsspezifische Langzeitüberlebensrate: 99%
Reduziert Rezidive Reduziert die Wahrscheinlichkeit für die Notwendigkeit von 9 bis 12 Wochen Chemotherapie Senkt die Häufigkeit der abdominellen Bildgebung
Kurzfristige Nebenwirkungen wie Fatigue, Übelkeit, Diarrhö Unsicherheit beim Staging kann zur Unterbehandlung führen Langzeitrisiko für sekundäre Krebserkrankung
Carboplatin (1 oder 2 Zyklen)
Rezidivrate: 4% Krebsspezifische Langzeitüberlebensrate: 99%
Reduziert Rezidive Reduziert die Wahrscheinlichkeit für die Notwendigkeit einer Strahlenbehandlung oder einer Chemotherapie über 9 bis 12 Wochen
Kurzfristige Nebenwirkungen wie Fatigue, Übelkeit, Diarrhö Risiko für Neutropenie als Komplikation Unsicherheit beim Staging kann zur Unterbehandlung führen Langzeitrisiko von Carboplatin ist unbekannt
*Seminom im Stadium 1: Erkrankung beschränkt sich auf die Hoden. Keine Anzeichen einer Ausbreitung in Brust, Abdomen, Becken. Normale AFP- und Beta-hCG-Serumspiegel nach der Orchiektomie.
AFP = Alpha-1-Fetoprotein; Beta-hCG = Beta-Untereinheit des humanen Choriongonadotropins
Tabelle 2:
Behandlungsoptionen nach Orchiektomie bei nicht seminomatösen Keimzelltumoren im Stadium 1* (nach Nasser und Einhorn)
Behandlungsoption Ergebnisse
Vorteile
Nachteile
Aktive Überwachung
Retroperitoneale Lymphknotendissektion
Bleomycin/Etoposid/ Cisplatin (1 oder 2 Zyklen)
Gesamtrezidivrate: 30% Rezidivrate bei geringem Risiko: 15% Rezidivrate bei hohem Risiko: 50% Krebsspezifische Langzeitüberlebensrate: 99%
Rezidivrate: 20–30% Krebsspezifische Langzeitüberlebensrate: 99%
Rezidivrate: 1–5% Krebsspezifische Langzeitüberlebensrate: 99%
Die meisten Patienten benötigen keine Behandlung Ausgezeichnete Langzeitergebnisse, auch wenn die Patienten eine Rezidivtherapie benötigen
Therapietreue ist unabdingbar Bei 30% der Patienten ist dennoch eine retroperitoneale Lymphknotendissektion oder eine Chemotherapie über 9 bis 12 Wochen erforderlich
Heilt einige Patienten mit einer Erkrankung im Stadium 2 Vermeidet bei manchen Patienten die Notwendigkeit einer Chemotherapie Retroperitonealer Lymphknoten ist kein Rezidivort mehr
Reduziert beträchtlich die Wahrscheinlichkeit für die Notwendigkeit von 9 bis 12 Wochen Chemotherapie
Operationsrisiko Normale histologische Befunde bei den meisten Patienten Chemotherapie manchmal für das Management eines Rezidivs erforderlich
Übertherapie bei mindestens 70% Langzeitrisiken des Regimes sind unbekannt Chemotherapie ist manchmal für das Management eines Rezidivs erforderlich
*Nicht seminomatöser Keimzellentumor im Stadium 1: Erkrankung beschränkt sich auf die Hoden. Keine Anzeichen einer Ausbreitung in Brust, Abdomen, Becken. Normale AFP- und Beta-hCG-Serumspiegel nach der Orchiektomie.
Die Autoren dieses Reviews empfehlen die aktive Überwachung für nahezu alle Patienten mit guter Therapietreue. Andere Experten befürworten bei geringem Rezidivrisiko eine aktive Überwachung und bei hohem Rezidivrisiko eine adjuvante Therapie.
Nicht seminomatöse Keimzelltumoren im Stadium 2
Bei Patienten mit kleinen, nicht seminomatösen Keimzelltumoren im Stadium 2 (Beschränkung auf retroperitoneale Lymphknoten; Durchmesser der Lymphknoten < 3 cm) und normalen Beta-hCG- und AFP-Serumspiegeln wird nach der Orchiektomie meist eine Resektion der retroperitonealen Lymphknoten vorgenommen.
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FORTBILDUNG
Tabelle 3:
Chemotherapie bei Hodenkrebs im Stadium 3 und rezidivierender Erkrankung (nach Nasser und Einhorn)
Behandlung
Kommentar
Stadium 3 – geringes Risiko 3 Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin oder 4 Zyklen Etoposid/Cisplatin
Stadium 3 – intermediäres Risiko 4 Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin oder 4 Zyklen Etoposid/Ifosfamid/Cisplatin
4 Zyklen Paclitaxel/Bleomycin/Etoposid/Cisplatin
Stadium 3 – hohes Risiko 4 Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin oder 4 Zyklen Etoposid/Ifosfamid/Cisplatin
2 Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin, anschliessend 2 Zyklen hoch dosierte Chemotherapie
1 Zyklus Etoposid/Ifosfamid/Cisplatin, anschliessend 3 Zyklen hoch dosierte Chemotherapie
1 Zyklus Bleomycin/Etoposid/Cisplatin, anschliessend 2 Zyklen Paclitaxel/Bleomycin/Etoposid/Cisplatin, anschliessend 2 Zyklen Bleomycin/Ifosfamid/Cisplatin
Rezidivierte Erkrankung Vinblastin/Ifosfamid/Cisplatin oder Etoposid/Ifosfamid/Cisplatin oder 4 Zyklen Paclitaxel/Ifosfamid/Cisplatin; hoch dosierte Chemotherapie
Heilungsrate: > 90%
Heilungsrate: 70 bis 80% Verbessertes progressionsfreies Überleben, aber kein besseres Gesamtüberleben im Vergleich zu 4 Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin
Heilungsrate: 50 bis 60% Nicht besser wirksam als 4 Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin, aber toxischer Nicht besser wirksam als 4 Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin, aber toxischer Besseres progressionsfreies Überleben als mit 4 Zyklen Bleomycin/Etoposid/Cisplatin bei Patienten mit unzureichender Reduzierung der Tumormarker
Zur Behandlung mit Standarddosis wird Cisplatin häufig mit 2 Medikamenten kombiniert, die der Patient nicht als First-Line-Option erhalten hat (z.B. Paclitaxel/Ifosfamid/Cisplatin, wenn der Patient zuvor mit Bleomycin/Etoposid/Cisplatin behandelt wurde)
Patienten mit grösseren, nicht seminomatösen Keimzelltumoren im Stadium 2 oder mit erhöhten Tumormarkerspiegeln erhalten drei Zyklen BEP oder vier Zyklen Etoposid/ Cisplatin. Bei 95 bis 99 Prozent der Betroffenen wird eine Heilung erzielt. Bei Patienten mit nicht seminomatösen Keimzelltumoren in den Stadien 2 oder 3, die nach der Chemotherapie ein serologisches Ansprechen, jedoch immer noch vergrösserte retroperitoneale Lymphknoten aufweisen, ist die Lymphknotendissektion Standard. Bei Normalisierung der Lymphknoten im CT halten die Autoren die Dissektion für nicht erforderlich. Mit dieser Vorgehensweise wurde ein krebsspezifisches 15-Jahres-Überleben von 97 Prozent erreicht. Andere Experten empfehlen die Dissektion bei den meisten Patienten, weil auch bei normaler Grösse der Lymphknoten noch Tumoraktivität vorhanden sein kann. Bei vollständigem serologischen und radiografischen Ansprechen nach der Chemotherapie kann die retroperitoneale Lymphknotendissektion mithilfe der aktiven Überwachung bei etwa 95 Prozent der Patienten vermieden werden.
Hodenkrebs im Stadium 3
Die Einführung von Cisplatin im Jahr 1965 stellt einen Meilenstein in der Onkologie dar und hat auch die Behandlung von Hodenkrebs revolutioniert. Die Ergänzung des Regimes Vinblastin/Bleomycin mit Cisplatin resultierte 1974 in einer 5-Jahres-Überlebensrate von 64 Prozent. Diese Grössenordnung wurde zuvor mit zeitgenössischen Regimen nicht erreicht. Im Jahr 1997 entwickelte die International Germ Cell Cancer Collaborative Group unter Berücksichtigung der Lokalisierung des Primärtumors, der Metastasierungsorte und der Tumormarkerspiegel ein Stratifizierungssystem zur Einstufung der Patienten in drei Risikokategorien: In der Gruppe mit geringem Risiko beträgt die Heilungsrate über 90 Prozent, bei intermediärem Risiko 75 Prozent und bei hohem Risiko 50 Prozent. Patienten mit geringem Risiko erhalten drei Zyklen BEP oder 4 Zyklen Etoposid/Cisplatin. Patienten mit intermediärem oder hohem Risiko erhalten vier Zyklen mit einer Dreifachtherapie – meist BEP oder Etoposid/Ifosfamid/Cisplatin (VIP)
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(Tabelle 3). Patienten mit Auffälligkeiten im Röntgenbild nach der Chemotherapie sollten an Exzellenzzentren für das Management von Hodenkrebs überwiesen werden.
Rezidivierende Erkrankung
Die wirksamste Therapie für Patienten mit rezidivierten Keimzelltumoren wird kontrovers diskutiert. Bei einem Rezidiv nach der initialen Chemotherapie können einige Patienten mit Second-Line- und Third-Line-Regimen geheilt werden. Zu den gängigen Regimen für diese Patienten gehören VIP, Vinblastin/Ifosfamid/Cisplatin und TIP (Tabelle 3). Die Herausforderung besteht in der Stratifizierung von Patienten, die eine Salvage-Chemotherapie mit Standarddosis erhalten sollten, und von Personen, die von einer hoch dosierten Chemotherapie mit peripherer Blutstammzellentransplantation profitieren könnten. In einer Studie mit 1500 Patienten war die hoch dosierte Chemotherapie bei den meisten Patienten wirksamer – auch in der Risikogruppe mit der schlechtesten Prognose. Von diesen konnten immerhin 27 Prozent geheilt werden. Mit der Standard-Salvage-Behandlung wurde dagegen nur bei 3 Prozent eine Heilung erzielt. In weiteren Studien konnten Hochrisikopatienten mit primären mediastinalen, nicht seminomatösen Keimzelltumoren mit einer hoch dosierten Chemotherapie geheilt werden. Unter der Behandlung mit der Standarddosis wurde dies dagegen nur selten beobachtet.
Überleben
Da die meisten Patienten nach der Hodenkrebsdiagnose noch
viele Jahre leben, sollten die Langzeitrisiken der Behandlung
nach Möglichkeit minimiert werden.
Die Strahlentherapie wurde als Risikofaktor für sekundäre
Krebserkrankungen identifiziert. Laut Studien trägt aber
auch die Chemotherapie zu einem erhöhten Risiko für Krebs-
erkrankungen der Niere, der Schilddrüse, des Weichteilgewe-
bes, der Blase, des Magens und des Pankreas sowie zu einem
höheren Risiko für Lymphome und Leukämie bei.
Bei Überlebenden eines Hodentumors kann es zu späten Re-
zidiven kommen (> 2 Jahre nach der Remission), und es be-
steht ein Risiko für das metabolische Syndrom, kardiovasku-
läre Erkrankungen, Unfruchtbarkeit und psychosoziale Stö-
rungen. Zu weiteren Spätfolgen gehören neurotoxische,
nephrotoxische und pulmonale toxische Effekte oder Hypo-
gonadismus, der wiederum zu sexueller Dysfunktion, Fati-
gue, Depressionen und Osteoporose beitragen kann. In Stu-
dien wird derzeit die genetische Suszeptibilität gegenüber den
langfristigen Toxizitäten platinbasierter Chemotherapien bei
Hodenkrebsüberlebenden untersucht.
O
Petra Stölting
Hanna NH, Einhorn LH: Testicular cancer – discoveries and updates. NEJM 2014; 371(21): 2005–2016.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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