Transkript
Serie: Kompressionstherapie
Varizenbehandlung
Sorgfältige Abklärung als erster Schritt
FORTBILDUNG
Das therapeutische Spektrum zur Behandlung von Krampf-
adern ist heute gross. Vor dem Entscheid aber, welche
Therapie die individuell beste ist, erfolgt eine genaue
Abklärung des tiefen und oberflächlichen Venensystems
sowie eine Beurteilung des klinischen Zustandes.
Janine Dörffler-Melly
Krampfadern oder Varizen sind krankhaft erweiterte Venen des oberflächlichen Stamm- (Vena saphena magna und parva) oder tiefen Leitvenensystems (V. femoralis, poplitea, Vv. tibiales posteriores und anteriores und fibulares) und deren Verbindungsvenen (Perforansvenen), Seitenäste und Muskelvenen (Abbildung). Die oberflächlichen Stamm-, tiefen Leit- und Perforansvenen sind mit Klappenpaaren versehen, welche den venösen Blutstrom Richtung Fuss (Reflux) verhindern. Wenn diese Klappen nicht mehr vollständig schliessen, entsteht eine chronische Stauung in den distalen Beinvenenabschnitten mit konsekutiver Ödembildung um den Knöchel. Die pathologische Erweiterung der Venenwand, welche zu einer Klappeninsuffizienz führen kann, ist multifaktoriell bedingt: nebst familiärer Prädisposition im Zusammenhang mit zum Beispiel «weicheren» Kollagenfasertypen, stellen auch das weibliche Geschlecht und die weiblichen Hormone, Schwangerschaften, Übergewicht und eine vorausgegangene tiefe Beinvenenthrombose (postthrombotisches Syndrom) Risikofaktoren für die Bildung von Varizen dar (Tabelle 1). Krampfadern sind häufig asymptomatisch, klinisch nicht relevant und nur ästhetisch störend. Hierzu gehört die kleinste Form der Varizen, die feinen rötlich/lilafarbenen
MERKSÄTZE
O Varizen bedürfen einer genauen angiologischen oder phlebologischen Abklärung.
O Die befallenen Anteile des oberflächlichen und tiefen Beinvenensystems bestimmen die Therapiemöglichkeiten.
O Die klinische Relevanz der chronisch venösen Insuffizienz ergibt die Indikation zur Therapie.
Besenreiser, die etwas mehr erweiterten violetten Teleangiektasien und grösseren retikulären (netzförmigen) Varizen. Vereinzelte grössere Astvarizen können bereits Beschwerden verursachen. Krampfadern sind häufig spürbar als ein unangenehmes Ziehen oder Brennen bei langem Stehen oder Sitzen und sie können zu Hitzestau- und Schweregefühlen führen, auch zu Knöchelschwellungen. Krampfadern manifestieren sich in der Regel nicht in Form von Muskelkrämpfen, wie häufig angenommen. Das Wort «Krampfader» stammt vom mittelhochdeutschen Wort «krump», weil sie krumm verlaufen, was häufig fälschlicherweise mit Krampf in Verbindung gebracht wird. Aufgrund von Krampfadern kann es zu einer chronisch venösen Insuffizienz mit Schwellungsneigung kommen und im fortgeschrittenen Stadium zu Haut- und Gewebeverfärbungen meist im distalen medialen Unterschenkelbereich, weil das sauerstoffarme venöse Blut zu lange in der Peripherie gestaut bleibt (venöses Pooling). Dadurch entstehen Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe (Ödeme) gefolgt von einer Minderversorgung mit Sauerstoff und Ansammlung von Schlackenstoffen. Die chronisch venöse Insuffizienz wird klinisch in die drei Widmerstadien eingeteilt (Tabelle 2) und nach duplexsonografischer Abklärung der betroffenen insuffizienten Stamm- und Leitvenenanteile gemäss der CEAP-Einteilung (Tabelle 3). Varizen können sich entzünden und oberflächliche Thrombosen bilden (Varikophlebitis). Dies ist schmerzhaft und bedarf einer Therapie, die eine Propagation der oberflächlichen Thromben ins tiefe Venensystem verhindert (tiefe Beinvenenthrombose). Varizen sind klinisch relevant, wenn sie aufgrund ihrer Grosskalibrigkeit ein venöses Pooling verursachen, zu einer Blutung führen könnten, ein erhöhtes Thromboserisiko darstellen, Haut- und Gewebeveränderungen mit Ulkusrisiko, Schmerzen, Ödeme oder juckende Stauungsekzeme verursachen. Die CEAP-Klassifikation definiert den genauen varikösen Befall des Beinvenensystems und setzt diesen in Zusammenhang mit der resultierenden chronisch venösen Insuffizienz und damit mit der klinischen Relevanz wie in Tabelle 3 ersichtlich. Bei Zustand nach stattgefundener tiefer Beinvenenthrombose sind Teile des tiefen Leitvenensystems verlegt, was zu einer Stauung und häufig zur sekundären Varizenbildung des oberflächlichen Systems führt.
Prävalenz und klinische Bedeutung,
ätiologische Risikofaktoren
Varizen sind eine häufige Erkrankung. In Europa und Nordamerika wurden bei den 30- bis 70-Jährigen Prävalenzen von
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Tabelle 1:
Risikofaktoren für die Bildung von Varizen
Faktoren mit belegter Evidenz:
O Alter
zunehmendes Alter (1,2 )
O positive Familienanamnese
Genetik, Venenwandschwäche (1,3,4)
O Östrogene (Hormonersatz,
verminderte Elastizität der Venen-
O orale Kontrazeptiva), weibliches wand, erhöhter Abdominaldruck,
O Geschlecht, Schwangerschaften vermehrtes Blutvolumen (5,2,1)
O Grösse
(> 165 cm Frauen, > 175 cm Männer) (3)
Faktoren ohne eindeutige Evidenz:
O Adipositas
O stehende Tätigkeit
O Bewegungsmangel
Tabelle 2:
Klinische Stadien nach Widmer
Stadium 1 Knöchelödeme, Corona phlebectatica paraplantaris
Stadium 2 Pigmentverschiebungen im Unterschenkelbereich (Dermite ocre, Atrophie blanche), Gewebedystrophien (Dermatosklerose und Lipodermatosklerose), Stauungsekzem
Stadium 3 Ulcus cruris
30 bis 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung evaluiert, hiervon sind medizinisch 6 bis 18 Prozent klinisch relevant (1). In der Schweiz zeigen die Daten aus der Basler Studie (4), bei der 4529 Berufstätige (3744 Männer, 785 Frauen) der Basler Chemischen Industrie untersucht wurden, dass 12 Prozent der Untersuchten eine klinisch relevante Varikosis aufwiesen, 44 Prozent eine nicht relevante Varikosis, und 44 Prozent hatten keine Varizen. Die Prävalenz ist altersabhängig und steigt von der zweiten bis zur siebten Dekade von 25 auf 86 Prozent. Innerhalb von 11 Jahren nahm die Prävalenz sowohl der klinisch nicht relevanten wie auch der relevanten Varikosis signifikant zu.
Diagnostik Die Diagnostik der chronisch venösen Insuffizienz erfolgt heutzutage klinisch und meist apparativ nicht invasiv. Die klinische Beurteilung eines Beines hinsichtlich Ödembildung, Hautveränderungen und hervorstehender Venen bleibt von wesentlicher Bedeutung. Die Einteilung der klinischen Stadien nach Widmer basiert darauf, ebenso wie die CEAPEinteilung, wobei diese zusätzlich die Refluxdiagnostik im oberflächlichen Stamm- und tiefen Leitvenensystem einbezieht. Die am häufigsten angewendete Methode, den venösen Reflux zu erfassen, ist die farbkodierte Duplexsonografie, mithilfe deren eine Flussumkehr in der Vene unter Valsalvaoder Kompressionsmanöver erkennbar ist. Auch Kriterien wie atemsynchrone Durchmesservariation und Wandveränderungen wie Verkalkungen (Phlebolithen) oder Restthromben und Perforansinsuffizienzen oder vermehrte Kollateralisationen wie etwa beim postthrombotischen Syndrom sind erkennbar.
Tabelle 3:
Klassifizierung der chronisch venösen Insuffizienz nach CEAP*
Klinik C0 keine sichtbaren oder tastbaren Zeichen einer Venen-
erkrankung C1 Besenreiser oder retikuläre Varizen C2 Krampfadern (Varizen) C3 Ödem C4a Pigmentierung oder Ekzem C4b Lipodermatosklerose oder Atrophie blanche C5 abgeheiltes venöses Unterschenkelgeschwür
(Ulcus cruris) C6 aktives venöses Unterschenkelgeschwür (Ulcus cruris) Ätiologie Ec angeboren Ep primär Es sekundär En keine venöse Ursache nachweisbar Anatomie As oberflächliche Venen Ap Perforansvenen Ad tiefe Venen An keine venösen Veränderungen nachweisbar Pathophysiologie Pr Reflux Po Obstruktion Pr,o Reflux und Obstruktion An keine venöse Pathophysiologie nachweisbar * C: clinical; E: etiological; A: anatomical; P: pathophysiological
A B1
2
3
Abbildung A: Beispiel einer varikösen Stammvarize, der V. saphena magna. Abbildung B: Schematische Darstellung des oberflächlichen (1) und tiefen Venensystems (2) mit ihren Klappen und Verbindungsvenen (3)(Perforantes)
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Die Durchgängigkeit und Klappensuffizienz des tiefen Leitvenensystems sind wesentlich bei der Absicht, eine ausgedehntere Ausschaltung oberflächlicher Varizen durchzuführen. Daher erfolgt vor jeder Therapie von Varizen eine sorgfältige Abklärung des tiefen und oberflächlichen Venensystems sowie eine Beurteilung des klinischen Zustandes. Die Phlebografie mit Kontrastmittel wird heutzutage nur noch in speziellen Situationen durchgeführt, zum Beispiel bei Verdacht auf Klappendysgenesie oder anderen venösen Normavarianten und allenfalls bei komplizierten postthrombotischen Verhältnissen.
Therapiemöglichkeiten
Symptomatische oder klinisch relevante Varizen bedürfen
einer medizinischen Therapie. Hier bieten sich inzwischen, je
nach Befall, eine Reihe von Optionen an. Grundsätzlich geht
es darum, für den einzelnen Patienten die auf ihn individuell
zugeschnittene optimale Therapie zu wählen. Alle Therapie-
formen haben eines gemeinsam: Sie verhindern den venösen
Reflux, verbessern den venösen Abstrom nach proximal,
senken dadurch den intravenösen Druck, die Ödembildung
und die chronisch venöse Stauung mit all ihren oben be-
schriebenen Konsequenzen. Die Wahl der Therapie sollte die
persönliche Lebenssituation im Hinblick auf medizinische
Grunderkrankungen, Allgemeinzustand und Alter berück-
sichtigen. Hierbei entsteht bereits die Triagierung zwischen
konservativer und chirurgischer Therapie.
O
Dr. med. et phil. Janine Dörffler-Melly Fachärztin für Angiologie und Innere Medizin E-Mail: janine.doerffler@hin.ch Internet: www.angiobellaria.ch
Referenzen: 1. Rabe E et al.: Bonner Venenstudie der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie –
epidemiologische Untersuchung zur Frage der Häufigkeit und Ausprägung von chronischen Venenkrankheiten in der städtischen und ländlichen Wohnbevölkerung. Phlebologie 2003; 1: 1–14. 2. Criqui MH et al.: Chronic venous disease in an ethnically diverse population. The San Diego Population Study. Am J Epidemiol 2003; 158: 448–456. 3. Carpentier PH et al.: Prevalence, risk factors and clinical patterns of chronic venous disorders of lower limbs: A population-based study in France. J Vasc Surg 2004; 40: 650–659. 4. Widmer LK et al.: Venen-, Arterienkrankheiten, koronare Herzkrankheit bei Berufstätigen, prospektiv-epidemiologische Untersuchung: Basler Studie I–III 1959–1978. Verlag Hans Huber, Bern Stuttgart Wien, 1981. 5. Brand FN et al.: The epidemiology of varicouse veins: The Framingham Study. Am J Prev Med 1988; 4: 96–101.
Im Rahmen dieser Serie, die auf Anregung der Firma Sigvaris entstand, kommen verschiedene Experten zu Wort. Ihre Angaben dienen als Hilfestellung für die Therapieentscheidung, basierend auf der aktuellen Studienlage und Erfahrungswerten aus der Praxis.