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FORTBILDUNG
Opioide gegen nicht tumorbedingte Schmerzen
Leitlinie für einen sinnvollen Einsatz zwischen «Opioidphobie» und «Opioidepidemie»
Der Gebrauch von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen wird kontrovers diskutiert. Die neue Leitlinie mit zahlreichen praktischen Ratschlägen soll den verantwortungsvollen Umgang mit diesen Medikamenten fördern. Im Folgenden werden die wichtigsten Punkte für die Praxis zusammengefasst.
AWMF*
wurden die Leitlinien zum Gebrauch von Opioiden zur Langzeittherapie bei nicht tumorbedingten Schmerzen kürzlich aktualisiert. Man legt dabei Wert auf die Feststellung, dass Opioide nur eine der möglichen Therapieoptionen sind. Als Langzeittherapie gilt die Anwendung von Opioiden über mehr als 3 Monate. Die Studienlage ist für einen Anwendungszeitraum von 4 bis 12 Wochen jedoch bedeutend besser als für den Langzeitgebrauch, sodass viele der im Folgenden genannten Empfehlungen weniger auf harter Evidenz als auf Expertenkonsens aufgrund klinischer Erfahrung beruhen.
Während die kurzzeitige Anwendung von Opioiden bei akuten, starken Schmerzen nicht umstritten ist, wird der langfristige Gebrauch dieser Medikamente ausserhalb der Onkologie, bei Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen, kontrovers diskutiert. Gleichzeitig steigt der Langzeitgebrauch von Opioiden bei dieser Patientengruppe, wobei anscheinend nicht immer leitlinienkonform vorgegangen wird. So gibt es Hinweise darauf, dass in Deutschland Opioide Fibromyalgie- oder Kopfschmerzpatienten verordnet werden, obwohl dies ausdrücklich nicht empfohlen wird. Unter der Federführung der Deutschen Schmerzgesellschaft
MERKSÄTZE
O Von einer Langzeittherapie mit Opioiden spricht man ab einer Therapiedauer von 3 Monaten.
O Opioide sind bei nicht tumorbedingten Schmerzen nur eine der möglichen Therapieoptionen, sie sollten nicht die einzige Massnahme sein.
O Als Indikationen mit dem höchsten Evidenz- und Empfehlungsgrad gelten chronischer Rückenschmerz, chronischer Arthroseschmerz und chronische neuropathische Schmerzen.
O Das individuelle Ansprechen auf diese Therapie ist nicht vorhersehbar.
O Falls die zuvor definierten individuellen, realistischen Therapieziele innert 4 bis 12 Wochen nicht erreicht werden, sollte keine Langzeittherapie mit Opioiden erfolgen.
Langzeittherapie nur bei Respondern Für die folgenden Indikationen kommen opioidhaltige Analgetika zur Langzeittherapie infrage, aber nur, falls bei einer zeitlich befristeten Therapie nach 4 bis 12 Wochen eine klinisch relevante Schmerzlinderung und/oder Minderung der Beeinträchtigungen bei allenfalls nur geringen Nebenwirkungen eintritt: O chronischer Rückenschmerz O chronischer Arthroseschmerz O chronische neuropathische Schmerzen (Polyneuropathien
verschiedener Ätiologie, Postzosterneuralgie.
Trotz der umfangreichen Datenlage zur Therapie bei chronischen Rücken- und Arthroseschmerzen ist das individuelle Ansprechen eines Patienten nicht vorhersagbar. Erfahrungsgemäss bestehen erhebliche inter- und intraindividuelle Unterschiede bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit. Bei allen anderen nicht tumorbedingten chronischen Schmerzen gelten Opioide als individueller Therapieversuch, weil keine validen Daten verfügbar sind. Die Leitlinien nennen hierzu folgende Schmerzzustände: einige sekundäre Kopfschmerzen, Osteoporoseschmerzen (Wirbelkörperfrakturen), chronische Schmerzen bei anderen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen ausser rheumatoider Arthritis (z.B. systemischer Lupus erythematodes, Spondylarthritiden), chronische postoperative Schmerzen, chronischer Extremitätenschmerz bei ischämischen und entzündlichen arteriellen Verschlusskrankheiten, Dekubitus, chronische Schmerzen bei fixierten Kontrakturen bei pflegebedürftigen Patienten, zentrale (zerebrale) neuropathische Schmerzen sowie CRPS Typ I und II (chronic regional pain syndrome).
*AWMF: In der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften e.V. sind derzeit 168 Fachgesellschaften organisiert. Zu den zentralen Aufgaben der AWMF gehört das frei zugängliche Leitlinienregister (www.awmf.org).
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Tabelle:
Anamnese bei Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen
Allgemein: O Krankengeschichte, Operationen, Begleiterkrankungen, Allergien,
psychische Störungen, Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit O Medikamentenanamnese, inkl. Wechsel- und Nebenwirkungen,
Einnahmegewohnheiten O sorgfältige körperliche Untersuchung mit funktioneller Unter-
suchung des Bewegungsapparats; neurologische und ggf. neurophysiologische Untersuchung O Überprüfung des aktuellen Funktionsniveaus O eventuell: – diagnostische Nervenblockaden – Labortests auf illegale Substanzen, Alkohol und Medikamente – spezielle Diagnostik bezüglich Erkrankungen und Zuständen, – die Anwendungsbeschränkungen für opioidhaltige Analgetika – darstellen können
Schmerzanamnese: O Schmerzintensität auf Analogskala (momentaner Schmerz, ge-
ringster sowie stärkster Schmerz während der letzten Woche, durchschnittlicher Schmerz während der letzten Wochen) O Schmerzart und mögliche Grundkrankheiten O Schmerzort, -dauer, -variabilität und -charakter O Ursachenvermutungen des Patienten O Erfahrungen mit bisheriger Schmerzmedikation O Erwartungen an die weitere Schmerztherapie O Manifestationen des Schmerzes im Verhalten und Ausdruck des Patienten O Beurteilung des sozialen Umfelds (Familie, soziale Verstärker, Rentenantrag, Arbeitssituation etc.) O aktuelle berufliche Tätigkeiten und Gefährdungen am Arbeitsplatz O Belastung durch den Schmerz O Beurteilung schmerzbedingter Funktionseinschränkungen
Beurteilung des Funktionsniveaus: O kognitive Funktionsfähigkeit (Aufmerksamkeit, Konzentration,
Gedächtnis) O Arbeitsfähigkeit O Lebensfreude, Pflege sozialer Kontakte O Schlaf O Mobilität O sexuelle Funktionsfähigkeit O selbstachtsames bzw. -versorgendes Verhalten O Hausarbeit, Hobbys, Aktivitäten
Hilfsmittel: Deutsche Version des Kurzschmerzfragebogens Brief Pain Inventory BPI: www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTSPraxiswerkzeug03.pdf
Schmerzfragebogen, Verlaufsfragebogen und Schmerz-Tagesprotokoll: www.dgss.org/deutscher-schmerzfragebogen/
Nicht medikamentöse Massnahmen zusätzlich nötig
Auch wenn Opioide hilfreich sein können, genügt es nicht, sich bei der Therapie von Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen auf sie zu beschränken. Vielmehr sollen Selbsthilfeangebote sowie Physiotherapie, psychotherapeutische Verfahren und Lebensstilmodifikationen die medikamentöse Schmerztherapie ergänzen, wobei die Auswahl der jeweiligen zusätzlichen Massnahmem je nach individueller Situation des Patienten erfolgt.
Keine Opioidanalgetika für bestimmte Patientengruppen
Bei den folgenden Schmerzzuständen werden Opioidanalgetika ausdrücklich nicht empfohlen: O primäre Kopfschmerzen O Schmerzen bei funktionellen/somatoformen Störungen O Fibromyalgie (Ausnahme: Tramadol und Tramadol/Para-
cetamol können hier zeitlich befristet für 4 bis 12 Wochen erwogen werden) O chronischer Schmerz als (Leit-)Symptom psychischer Störungen (z.B. bei Depression, generalisierter Angststörung oder posttraumatischer Belastungsstörung) O bei schweren affektiven Störungen und/oder Suizidalität O bei Opioidmissbrauch oder Weitergabe der Substanzen und/oder schwerwiegenden Zweifeln an einem verantwortungsvollen Gebrauch dieser Medikamente.
Therapieziele vereinbaren
Welche Aspekte in der Anamnese wichtig sind, ist in der Tabelle zusammengefasst. Bei Hinweisen auf eine psychische Störung sollte der Patient zur Abklärung einem Spezialisten vorgestellt werden. Den Autoren der Leitlinie ist es sehr wichtig, dass Patient und Arzt gemeinsam den Entscheid für oder gegen eine Opioidtherapie fällen. Sie weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, individuell relevante Risiken im Gespräch mit dem Patienten nicht zu vergessen, wie zum Beispiel Sturzgefahr oder Verwirrtheit bei älteren Personen oder Libidoverlust bei den jüngeren. Bei Beginn einer Opioidtherapie ist es sehr wichtig, dass mit dem Patienten individuelle, realistische Therapieziele vereinbart werden. An diesen Zielen misst sich letztlich der therapeutische Erfolg.
Praktische Hinweise zur Medikation
Prinzipiell sollen Präparate mit retardiertem Wirkungseintritt beziehungsweise langer Wirkdauer eingesetzt werden. Die Einnahme soll nicht nach Bedarf, sondern nach festen Einnahmezeiten erfolgen (by the clock). Die Leitlinien enthalten keine Empfehlung bezüglich bestimmer Opioide für bestimmte Schmerzsyndrome, das Gleiche gilt für die Applikationsform (oral oder transdermal). Bei der Auswahl eines opioidhaltigen Analgetikums sollen Begleiterkrankungen des Patienten, Kontraindikationen für die transdermale oder orale Applikation, das Nebenwirkungsprofil sowie Patientenpräferenzen berücksichtigt werden. So berichten Patienten über weniger gastrointestinale Nebenwirkungen (Übelkeit, Obstipation) unter Tapentadol im Vergleich zu Fentanyl, Hydromorphon, Morphin, Oxymorphon und Tramadol. Zum andern ist bekannt, dass weniger Patienten mit Tramadol 300 mg/Tag Benommenheit empfinden als unter Tapentadol 200 bis 500 mg/Tag.
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LINKTIPP
Neben den im Text genannten Infoblättern für die Praxis finden sich in der Leitlinie zahlreiche Links zu weiteren «Praxiswerkzeugen», beispielsweise zur Anwendung bei Leber- oder Niereninsuffizienz, zum Opioidwechsel oder zu Wechselwirkungen.
www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/145-003l_S3_ LONTS_2015-01.pdf
Bei Buprenorphin, Fentanyl und Oxycodon besteht ein Interaktionspotenzial mit bestimmten Medikamenten aufgrund ihrer Affinität zum Zytochrom-P-450 Isoenzym 3A4; Codein und Tramadol haben ein Interaktionspotenzial bezüglich CYP2D6. Bei Hemmung von CYP2D6 oder genetischer Inaktivität (poor metabolizer) ist die Wirkung von Tramadol schwächer, und sie fehlt bei Codein. Bei Tapentadol und Tramadol sind serotonerge Eigenschaften mit der Möglichkeit eines Serotoninsyndroms und des Risikos für Krampfanfälle zu berücksichtigen. Die klinische Relevanz potenzieller Arzneimittelinteraktionen von Opioiden ist bis heute nicht geklärt. Mögliche klinisch relevante Interaktionen sind: Diltiazem mit Fentanyl und Oxycodon; Fluconazol mit Fentanyl und Oxycodon; Clarithromycin mit Oxycodon. Hypnotika und Tranquilizer sollten vor Beginn einer Therapie mit opioidhaltigen Substanzen reduziert oder abgesetzt werden. Bei der Verordnung von opioidhaltigen Analgetika sollte eine ausführliche Aufklärung über mögliche Neben- und Wechselwirkungen erfolgen sowie über bekannte Risiken, auch im Hinblick auf die berufliche Tätigkeit und das Autofahren. Als Hilfsmittel stehen Informationsblätter zur Verfügung: O allgemeine Informationen
www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_ 04.pdf O Autofahren
www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_ 05.pdf
Mit dem Beginn der Opioidtherapie kann gleichzeitig eine antiemetische Behandlung erfolgen, deren Notwendigkeit nach 2 bis 4 Wochen überprüft werden soll. Laxanzien gegen die verbreitete Nebenwirkung Obstipation sollten prophylaktisch mit dem Beginn der Opioidtherapie verordnet werden; für viele Patienten können Laxanzien auf Dauer nötig sein. Die Opioid-Anfangsdosis sollte möglichst gering sein und schrittweise auftitriert werden, bis das individuelle Therapieziel erreicht ist. Als optimale Dosis gilt diejenige, mit der das Therapieziel bei geringen oder tolerierbaren Nebenwirkungen erreicht wird. Die Titrationsphase soll maximal 12 Wochen dauern. Erfahrungsgemäss lässt sich nach 4 bis 6 Wochen beurteilen, ob der Patient auf die Therapie anspricht oder nicht. Als primäres Ansprechen gilt eine Schmerzreduktion um mindestens 30 Prozent und/oder eine Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag (z.B. Rückkehr an den Arbeitsplatz, Wiederaufnahme häuslicher Aktivitäten). Als gutes Ansprechen werden eine fehlende oder nur geringe Toleranzentwicklung
sowie keine oder nur eine geringe Dosissteigerung in den folgenden Monaten definiert. Eine Dosis von > 120 mg/Tag orales Morphinäquivalent soll nur in Ausnahmefällen überschritten werden.
Wirksamkeit regelmässig kontrollieren
Alle drei Monate sollen Wirksamkeit und Nebenwirkungen einer Langzeit-Opioidtherapie bei nicht tumorbedingten Schmerzen überprüft werden. Falls die Wirkung mit der Zeit nachlässt, können eine Reihe unterschiedlicher Ursachen dahinterstecken: ein Fortschreiten der Erkrankung, Toleranzentwicklung gegenüber Opioiden, opioidbedingte Hyperalgesie sowie Fehlgebrauch, Missbrauch oder Substanzabhängigkeit. Bei Toleranzentwicklung kommen drei Massnahmen infrage: Dosiserhöhung, Wechsel des Opioids (nicht mehr als zweimal) oder Opioidentzug. Bei opioidbedingter Hyperalgesie sollte die Dosis schrittweise reduziert werden oder ein Opioidentzug erfolgen. Bei Verdacht auf den Missbrauch opioidhaltiger Analgetika ist eine Mitbehandlung durch einen Suchtspezialisten nötig, falls andere Massnahmen nichts bringen (z.B. negativer Labortest als Voraussetzung für weitere Opioidrezepte).
Dosisreduktion und Ende einer Opioidtherapie
Nach 6 Monaten sollte man mit dem Patienten über den
Versuch einer Dosisreduktion sprechen, um die Indikation
für die Langzeit-Opioidtherapie und die Wirksamkeit der
parallel erfolgten nicht medikamentösen Massnahmen zu
überprüfen. Falls sich Letztere als wirksam erwiesen haben,
sollte man die Opioidgabe schrittweise reduzieren und sie
nach Möglichkeit beenden.
Um Entzugserscheinungen zu vermeiden, soll eine Langzeit-
therapie mit opioidhaltigen Analgetika schrittweise beendet
werden, wobei auch medikamentöse, physiotherapeutische und
psychotherapeutische Begleittherapien in Betracht kommen.
Für die Beendigung einer Opioidtherapie bei nicht tumor-
bedingten Schmerzen gibt es neben der oben genannten
(keine weitere Notwendigkeit, weil andere parallel erfolgte
Therapien genügend Wirkung entfaltet haben) eine Reihe
weiterer Indikationen:
O falls die individuellen Therapieziele nicht (mehr) erreicht
werden
O falls nicht tolerierbare Nebenwirkungen auftreten
O als therapeutische Massnahme innerhalb eines multimo-
dalen Therapieprogramms bei persistierenden starken
Schmerzen und/oder Beeinträchtigungen unter langfristi-
ger Einnahme
O bei opioidassoziierten psychischen Auffälligkeiten (falls
Dosisreduktion oder Opioidwechsel nichts bringen)
O bei fortgesetztem Substanzmissbrauch trotz Mitbehand-
lung durch einen Suchtspezialisten.
O
Renate Bonifer
S3-Leitlinie 145/003: Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen – «LONTS». AMWF-Register-Nr. 145-003, aktueller Stand: 09/2014, Überarbeitung 01/2015; www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-003.html
Interessenlage: An der Leitlinie wirkten 28 Fachgesellschaften und Verbände unter der Federführung der Deutschen Schmerzgesellschaft (DGSS) mit. Angaben zu Interessenkonflikten einzelner Personen werden in der Leitlinie nicht aufgelistet.
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